Das Entsetzen hält noch an, die Fassungslosigkeit, die die Reaktion der ungarischen und der polnischen Regierung auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Flüchtlingsverteilung ausgelöst hat.
"Wenn ich die Situation der polnischen Regierung sehe oder teilweise auch Aussagen von Herrn Orban sehe, dann stelle ich mir schon die Frage, ob die die Lehren aus der Geschichte der letzten 70, 80 Jahre in Europa wirklich verstanden haben."
... sagt Daniel Caspary von der CDU, der Fraktionschef der EVP im Europaparlament.
Ungarns Regierungschef Victor Orban hatte dagegen geklagt, dass sein Land Flüchtlinge aufnehmen soll. Polens Regierung hatte sich der Klage angeschlossen. Beide sind von den Luxemburger Richtern abgeschmettert worden. Beide sagen, dass sie sich um das Urteil trotzdem nicht scheren und auch keine Flüchtlinge aufnehmen werden. Ein Novum in der Geschichte der EU, meint Guntram Wolff, der Direktor des Brüsseler Think Tanks Bruegel:
"Was es bislang praktisch nicht gab, ist, dass ein Mitgliedsland gesagt hat: Hier habt ihr was beschlossen, das wurde vom höchsten Gericht bestätigt, und ich kümmer‘ mich nicht drum. Also das ist eine neue Qualität."
Was kann die EU tun, ohne "staatliche Zwangsmittel"?
Die Mittel der EU, das Urteil durchzusetzen, seien durchaus beschränkt, so Wolff weiter. Schließlich stehen ihr staatliche Zwangsmittel nicht zur Verfügung:
"Wenn wir uns einen Staat ansehen, dann hat ein Staat normalerweise ein Recht, eine Verfassung, es hat ein gemeinsames Militär, es hat die Möglichkeit, Entscheidungen im gesamten Territorium direkt durchzusetzen durch die Polizei und so weiter. All diese Dinge hat die Europäische Union nicht. Das einzige, was die EU hat, ist eine Bereitschaft und eine Unterschrift letztendlich der Mitgliedsstaaten, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, und sich den Regeln und den Spielregeln dieser Gemeinschaft zu unterwerfen."
Was aber, wenn ein Mitgliedstaat genau das nicht tun will? Völlig wehrlos stehen die EU-Institutionen einer solchen Verweigerung natürlich nicht gegenüber.
Da ist zum einen das Instrument des Vertragsverletzungsverfahrens, das die EU-Kommission als Hüterin der Verträge in Gang setzen kann. Oder genauer gesagt: Das sie gegen Polen und Ungarn längst in Gang gesetzt hat, während die Luxemburger Richter noch mit der ungarisch-polnischen Klage beschäftigt waren.
Vertragsverletzungsverfahren sind zäh
Dieses Vertragsverletzungsverfahren ist ein langwieriger Prozess, in dem zunächst die Kommission und das betreffende Mitgliedsland miteinander streiten, bevor die Brüsseler Behörde den Europäischen Gerichtshof einschaltet. Genau damit hat die Kommission den beiden Verweigerer-Staaten schon gedroht. Bis aber in Luxemburg ein Urteil fällt und es dann möglicherweise zu einer millionenschweren Geldstrafe kommt, kann sehr viel Zeit vergehen.
Das Vertragsverletzungsverfahren ist also kein wirklich scharfes Schwert, wenn ein Streit dringend entschieden werden muss. Das Arsenal der EU, so Ska Keller, die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, beinhaltet aber noch ein anderes Instrument:
"Wenn wir ein ganz besonderes Problem haben, und ich denke, dass ist der Fall in Ungarn und Polen, wo an den Grundprinzipien von Rechtstaatlichkeit gerüttelt wird, dann haben wir das andere Schwert dafür, das sogenannte Artikel 7-Verfahren, was also in letzter Instanz noch dazu führen kann, dass ein Land das Stimmrecht verliert."
Konkret geht es um Artikel 7 des EU-Vertrags, in dem geregelt ist, dass die Mitgliedschaft eines Staates ausgesetzt werden kann, wenn der gegen Grundwerte der EU verstößt. Den Beschluss müssen die übrigen Mitgliedstaaten einstimmig fällen.
Allerdings: Polen und Ungarn haben schon angekündigt, sich gegenseitig Rückendeckung zu geben. Ein einstimmiges Votum ließe sich also verhindern. Es sei denn, so ein Gedankenspiel unter Europarechtlern, gegen beide Länder würde gleichzeitig ein Verfahren nach Artikel 7 gestartet. So könnten beide eine Verurteilung des jeweils anderen nicht blockieren:
"Damit das scharfe Schwert auch weiter scharf bleibt, wäre das doch eine interessante Idee." sagt die Grüne Ska Keller.
Das Problem lässt sich nur politisch lösen
Guntram Wolff vom Bruegel-Institut hält allerdings nicht viel von dieser Idee. Er glaubt, dass jetzt vor allem diplomatische Überzeugungsarbeit ohne Drohung mit dem Stimmrechtsentzug notwendig sei:
"Letztendlich ist das nichts weiter als juristische Versuche, ein viel fundamentaleres Problem zu lösen, nämlich ein Problem, das letztendlich ein politisches Problem ist."
Und das sich eben nur politisch lösen lässt, wie auch der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary glaubt:
"Ich wünsche mir, dass wir weniger darüber reden, wie kann mit Dekret oder Diktat aus Brüssel Regierungen, die sich nicht an unsere Werte und Vorgaben halten, der Riegel vorgeschoben werden, sondern ich wünsche mir, dass wir die Demokratiebewegungen, die Freiheitsbewegungen gegen, zum Beispiel, die Justizreform in Polen, dass wir die weiter ermutigen."
Ob das aber die Regierungen in Warschau und Budapest zu einem Kurswechsel bewegt, bleibt abzuwarten.