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EU-USA-Gipfel
EU muss "ukrainischen Pass aufwerten"

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir hat in der Krim-Krise weitere Maßnahmen der Europäischen Union verlangt. Özdemir sagte im Deutschlandfunk, zusätzlich zu den Sanktionen gegen Russland müsse es Visa-Erleichterungen für Ukrainer geben, damit "gerade die Menschen in der Ost-Ukraine Europa besser kennenlernen".

Cem Özdemir im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Christiane Kaess: Das transatlantische Verhältnis gilt seit der NSA-Affäre als belastet. Aber durch die Krim-Krise und die gemeinsame Empörung über das Vorgehen Moskaus rückt man jetzt wieder enger zusammen, und so stand der EU-USA-Gipfel gestern unter ganz anderen Vorzeichen, als er noch vor ein paar Wochen gestanden hätte.
    Darüber sprechen möchte ich jetzt mit Cem Özdemir, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Kaess!
    Kaess: Kittet denn die Krim-Krise jetzt das, was die NSA-Affäre zwischen Europäern und Amerikanern kaputtgemacht hat?
    Özdemir: Es ist gut, dass Präsident Obama nach Brüssel gekommen ist. Seine Worte waren gut und wichtig und richtig. Aber der Besuch erfolgt sehr spät, sechs Jahre nach seiner Präsidentschaft, und man fragt sich natürlich schon, wo war Präsident Obama all die Jahre davor, und man fragt sich, folgt dem jetzt ein Strategiewechsel mit Blick auf die Europäische Union, oder ist es nach wie vor so, was ich befürchte und erwarte, dass der Kontakt zu nationalen Führern wie Frau Merkel beispielsweise, wie zu Herrn Cameron, wie zu Herrn Präsident Hollande im Zweifelsfall doch wichtiger ist.
    Und dann sind natürlich wichtige Fragen ausgeklammert: Was ist mit der NSA-Affäre? Was ist mit dem transatlantischen Partnerschaftsabkommen? All diese Fragen interessieren uns brennend und da haben die Antworten nicht überzeugt.
    Kaess: Aber es wurde gestern auch darüber gesprochen. – Herr Özdemir, es sind gestern auch immer wieder Worte gefallen wie "wichtigste Verbündete", "enge Partner", es ist das Beistandsgebot der NATO angesprochen worden. Muss man das eigentlich betonen, oder ist das nicht eine Selbstverständlichkeit?
    Özdemir: Dass man es betonen muss zeigt, dass es ganz offensichtlich keine Selbstverständlichkeit mehr ist, wobei man hier ein bisschen fair sein muss gegenüber Präsident Obama. Warum soll Präsident Obama die Europäische Union ernster nehmen, als wir es selber tun? Wir müssen selber damit anfangen, dass wir deutlich machen, dass viele Fragen nur noch auf europäischer Ebene gelöst werden können.
    Wie soll man sich denn eine Strategie gegenüber der Ukraine vorstellen, wenn 28 Bonsai-Außenminister ihre Separat-Strategien in der Europäischen Union machen? Dafür brauchen wir die Europäische Union, das haben wir selber jetzt auch verstanden, und nur wenn wir selber die Europäische Union stärken, ernst nehmen, dann kann man auch erwarten, dass andere, in dem Fall unser transatlantischer Verbündeter, die USA, die EU künftig ernster nehmen.
    "Wir müssen die EU selber ernster nehmen"
    Kaess: Es gibt ja auch innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft sehr unterschiedliche Meinungen zu dem Thema. In den letzten Tagen haben wir immer wieder auch von Politikern Verständnis für das Vorgehen von Putin gehört. Jüngstes Beispiel ist der Altkanzler Helmut Schmidt. Er sagt, er habe Zweifel daran, ob es sich bei der Annexion der Krim wirklich um einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht handele. Haben Sie Verständnis für dieses Verständnis?
    Özdemir: Er ist ja da nicht der Einzige. Es gibt diese Denkschule in der Außenpolitik, dazu gehört Herr Schmidt, dazu gehört übrigens auch Herr Kissinger, der ehemalige Außenminister der USA, und manche andere. Das ist nicht meine Überzeugung und das war irgendwann auch nicht mehr die Überzeugung der federführenden Politik in der Europäischen Union.
    Denken Sie an die Frage während des Kalten Krieges, wie man mit Solidarnosch umgeht, wie man mit der Charta 77 umgeht, wie man mit den Demokratiebewegungen umgeht. Ich erinnere daran, dass viele damals der Meinung waren, dass man die nicht unterstützen darf, weil man sonst den Frieden destabilisieren würde.
    Kaess: Herr Özdemir, wird bei diesen jüngsten Äußerungen die Westbindung teilweise infrage gestellt?
    Özdemir: Mein Eindruck ist, dass man die Europäische Union und auch die transatlantische Partnerschaft zumindest nach unserer Lesart nicht sehen kann als eine Verbindung von geostrategischen Interessen, sondern es ist eine Wertegemeinschaft und zu den Werten gehört das Völkerrecht, zu den Werten gehört Demokratie, Menschenrechte. Darum muss man Herrn Putin klar machen, dass dieses Vorgehen nicht akzeptabel ist. Vor allem aber muss man dafür sorgen, dass jetzt nicht der nächste Schritt folgt, nämlich dass die Ostukraine destabilisiert wird.
    Aber weil wir das so klar sagen, muss man beispielsweise auch Frau Timoschenko sagen, dass ihre Äußerungen absolut inakzeptabel sind und sie ihrem eigenen Land, der Ukraine, einen Bärendienst damit erweist. Auch das erwarte ich von uns, von der Bundesrepublik Deutschland und von der Europäischen Union, dass man, wenn man Solidarität mit der Ukraine zeigt, der Ukraine auch klar macht, dass es im Interesse der Ukraine liegt, kein Öl ins Feuer zu gießen.
    "Putins Weg des Nationalismus ist kein guter für Russland"
    Kaess: Die Sanktionen des Westens hat Schmidt als "dummes Zeug" bezeichnet. Sie hätten vor allem symbolische Bedeutung, aber sie treffen den Westen genauso wie die Russen.
    Özdemir: Das stimmt, da hat er ja nicht unrecht. Aber sie treffen Russland stärker und das sagt jeder, der sich damit auskennt. Russland braucht die Europäische Union zur Modernisierung der eigenen Volkswirtschaft. Ich habe Zweifel, ob Herr Putin wirklich ein Patriot ist, ob es ihm wirklich darum geht, dass er sein Land modernisiert, in die Zukunft führt, dass seine Kinder und die Kindeskinder in Russland es mal besser haben. Das sollte das Ziel jedes demokratischen Führers sein.
    Wenn man sieht, wie russische Führer ihre Konten füllen in Europa und hier ihre Kinder studieren lassen, hier in den vornehmen Straßen einkaufen, und gleichzeitig sieht, dass Russland ein wahnsinniges Modernisierungsdefizit hat, dann liegt das, glaube ich, auch im Interesse Russlands, dass wir Russland gegenüber klar machen, dass der Weg, den Herr Putin eingeschlagen hat, auf Nationalismus zu setzen, um abzulenken von Schwächen im eigenen Land, für Russland kein guter ist.
    Kaess: Und dafür sind im Moment erst mal leichte Sanktionen, kann man sagen, in Kraft getreten. Siemens-Chef Joe Kaeser hat gestern im ZDF deutlich gemacht, er will nicht an Investitionen in Russland rütteln. Er hat gestern Putin getroffen, er spricht von einer vertrauensvollen Beziehung zu russischen Unternehmen, obwohl da auch Vertreter dabei sind von Unternehmen, die auf der Sanktionsliste der USA stehen. Konterkarieren hier Teile der deutschen Wirtschaft die deutsche Politik?
    Özdemir: Was die Wirtschaft macht, ist das eine, aber was die Politik macht, ist ja nun auch nicht so ganz unwichtig. Wenn ich daran denke, dass bis vor Kurzem es noch einen Rüstungsdeal mit Moskau geben sollte von Rheinmetall und dass es unserer Intervention bedurfte, dass der gestoppt wurde, denken Sie daran, was Gazprom in Deutschland macht, dass russische Unternehmen strategische Erdgas-Reserven hier kaufen wollen, das macht natürlich das ganze geradezu lächerlich, wenn man Sanktionen macht gegenüber Moskau, die in erster Linie natürlich jetzt erst mal vorsichtige Sanktionen sind, gleichzeitig aber hier in Deutschland signalisiert, ihr könnt hier weitermachen, als ob nichts geschehen wäre.
    Das passt nicht zusammen. Der Bundeswirtschaftsminister ist gefordert, dass er vom Außenwirtschaftsgesetz Gebrauch macht und klar macht, dass wir nicht zuschauen können, wie Herr Putin hier quasi auf die deutsche Energiepolitik Einfluss nimmt.
    "Aufrüstung in Europa ist nicht die richtige Antwort"
    Kaess: Herr Özdemir, Obama hat sich gestern besorgt gezeigt über sinkende Verteidigungsausgaben in der EU. Er hat über die Aktualisierung der NATO-Pläne gesprochen, hat gesagt, die Krise in der Ukraine zeige, dass Freiheit nicht umsonst sei. Muss Europa wieder aufrüsten?
    Özdemir: Ich glaube nicht, dass das die richtige Antwort ist, denn wie soll man sich das vorstellen. Steht da der Gedanke dahinter, dass es eine militärische Lösung geben könnte für den Konflikt mit Russland?
    Kaess: Oder Abschreckung!
    Özdemir: Das sehe ich nicht, sondern Europa hat Stärken. Es hat auch Schwächen. Aber zu den Stärken gehört, dass wir sehr stark sind mit soft power, vielleicht sogar stärker wie unsere amerikanischen Partner. Deshalb muss zusätzlich zu den Sanktionen dafür gesorgt werden, dass wir Visa-Erleichterungen machen für die Menschen in der Ukraine, damit der ukrainische Pass eine Aufwertung erfährt und gerade die Menschen in der Ostukraine Europa besser kennenlernen können.
    Dazu gehört ein zivilgesellschaftlicher Dialog, Städtepartnerschaften, aber, wie ich gerade eben auch gesagt habe, das was wir hier machen in der Energiepolitik, ein beschleunigter Wechsel in Richtung erneuerbarer Energien, sorgt auch dafür, dass Europa sicherer wird und das Geld nicht abfließt in mehr oder weniger autoritäre Staaten.
    Kaess: Und in diesem Zusammenhang mit der Energie ist auch die Forderung von den USA gekommen, Europa müsse sich unabhängiger bei der Energie machen. Das haben Sie gerade schon angesprochen. Und im Freihandelsabkommen, stellen sich die Amerikaner vor, könnten die Europäer vom Gas durch Fracking aus den USA profitieren. Ist das der richtige Weg?
    Özdemir: Die Bürger sorgen sich, und das muss man ernst nehmen in den USA. Das ist schön, dass Präsident Obama Zusicherungen macht, was Umweltstandards, Verbraucherstandards angeht. Aber das reicht noch nicht.
    Kaess: Sind die glaubwürdig?
    Özdemir: Solange das Parlament, das Europaparlament, nicht einbezogen wird, sind Sorgen berechtigt. Das ist nicht verständlich, warum man hier hinter verschlossenen Türen so was macht. Das ist erklärungsbedürftig: Was passiert mit den Standards, die Bürgerinnen und Bürger seit Jahrzehnten in Europa erkämpft und erarbeitet haben? Anders herum: Auch in den USA gibt es ja Standards, die zum Teil, denken wir an die Bankenregulierung, höher sind wie bei uns, und es kann nicht sein, dass diese Standards jetzt über den Hinterweg abgesenkt werden.
    Kaess: Obama hat Sie gestern nicht überzeugt, als er sein persönliches politisches Engagement als Gegenargument hier angeführt hat?
    "Noch keine Zusicherung in Sachen Datenschutz von Obama"
    Özdemir: Das reicht nicht. Offensichtlich ist angekommen, dass wir in Europa bei Umwelt- und Sozialstandards und Verbraucherschutzstandards was erreicht und erkämpft haben, was uns viel bedeutet. Aber die Frage, was passiert mit künftigen Erhöhungen von Standards, die Frage, wie kriegen wir das Abkommen transparent, die Frage, wie beziehen wir Parlamente ein, alles das ist nach wie vor offen und verlangt, dass es dazu klare Gespräche gibt, und dazu ist es auch notwendig, dass Frau Merkel der Europäischen Union – sie ist ja sonst durchsetzungsstark – auch klar macht, dass wir Transparenz brauchen. Das gehört auch zu den Werten der Europäischen Union.
    Kaess: Dazu gehört auch der Datenschutz. Die Forderung von den Europäern, dass es parallel zum Freihandelsabkommen ein Abkommen über Datenschutz gibt, also ein sogenanntes No-Spy-Abkommen, so hieß es immer bisher, das ist ja eigentlich von den USA ignoriert worden. Jetzt ist die Rede von einem Rahmenabkommen bis zum Sommer. Ist das eine glaubhafte Lösung für europäische Interessen?
    Özdemir: Ich sehe nicht, was das tatsächlich an Fortschritt bringt. Dazu ist das Thema zu ernst. Wir haben ein Recht auf eine Privatsphäre und die muss respektiert werden, gerade unter Freunden. Wir haben es ja nun hier mit unserem wichtigsten Verbündeten zu tun, mit den USA, und es ist nicht einzusehen, warum hier massenhaft Daten von unschuldigen Bürgerinnen und Bürgern ohne jeden Anlass erhoben werden.
    Kaess: Sehen Sie da Bewegung vonseiten der USA, den Europäern entgegenzukommen?
    Özdemir: Ich habe nicht gehört, dass Präsident Obama gesagt hat, dass es ein No-Spy-Abkommen oder einen vergleichbaren Ersatz geben soll. Ich habe auch nicht gehört, dass es in Sachen Datenschutz Zusicherungen geben soll, dass diese Art der Ausspähung künftig nicht mehr stattfindet. Der Fairness halber muss man allerdings dazu sagen: Wir reden hier nicht nur über die USA, wir reden auch über Großbritannien, ein Mitgliedsland der Europäischen Union, das da auch eine etwas bemerkenswerte Auffassung hat.
    Kaess: …, sagt Cem Özdemir, Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Danke für das Interview heute Morgen.
    Özdemir: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.