David Engels ist Althistoriker an der Universität Brüssel und ein profunder Kenner der römischen Geschichte. In seinem neuen Buch blickt er in diese Vergangenheit zurück, um die europäische Krise der Gegenwart zu erklären. Und provoziert mit einer starken These: Die Parallelen zwischen der Römischen Republik und der Europäischen Union seien so groß, dass auch die EU dem Niedergang nicht entgehen werde.
Buchzitat:
"Der Umbruch, welchen die Europäische Union gegenwärtig erlebt, ist kein grundsätzlich neues Ereignis der Weltgeschichte, wie oft behauptet, und ist keineswegs ausschließlich in den verwaltungstechnischen Besonderheiten der europäischen Integration verankert, sondern er ist nur ein äußeres Merkmal der allgemeinen Zivilisationskrise der gesamten europäischen Gesellschaft, die in nahezu allen grundlegenden Kennzeichen der tiefen Wandlung gleicht, welche auch die spätrömische Republik durchgemacht hat."
"Der Umbruch, welchen die Europäische Union gegenwärtig erlebt, ist kein grundsätzlich neues Ereignis der Weltgeschichte, wie oft behauptet, und ist keineswegs ausschließlich in den verwaltungstechnischen Besonderheiten der europäischen Integration verankert, sondern er ist nur ein äußeres Merkmal der allgemeinen Zivilisationskrise der gesamten europäischen Gesellschaft, die in nahezu allen grundlegenden Kennzeichen der tiefen Wandlung gleicht, welche auch die spätrömische Republik durchgemacht hat."
Unter einer allgemeinen Zivilisationskrise versteht der Brüsseler Geschichtsprofessor, dass sich traditionelle Identifikationsmuster auflösen. Um zu belegen, dass das für das aktuelle Europa genauso zutrifft wie für das Römische Reich vor 2000 Jahren, vergleicht er zwölf Wertebereiche damals und heute: Toleranz, Frieden und persönliche Freiheit, außerdem Selbstverwirklichung und Solidarität, Religion, Gleichheit, Respekt vor dem menschlichen Leben und gegenüber anderen Kulturen, schließlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.
Manche Ähnlichkeiten, die er auf diesen Gebieten vor allem über den Vergleich von Zeitzeugnissen ausfindig macht, sind tatsächlich frappierend. Etwa wenn damals wie heute Solidarität zugunsten wirtschaftlichen Konkurrenzdenkens zurückgedrängt wird. Wenn zwar Frieden proklamiert wird, Außengrenzen aber rabiat gesichert werden. Oder wenn staatliches Handeln zunehmend als zentralistische Verwaltungsaufgabe verstanden wird.
Den Funken an Nachdenklichkeit, den Engels mit solchen Entdeckungen entfacht, erstickt er aber schnell wieder. Denn er scheint eher daran interessiert zu sein, den Verlust solcher Wertvorstellungen zu beklagen, die er selbst als wichtig einschätzt: die traditionelle Familie und Ehe, den Glauben an den natürlichen Unterschied der Geschlechter oder die Anerkennung von Autoritäten. Engels spricht dann nicht mehr als vergleichender Historiker, sondern als Kulturkämpfer, der höhere Einsicht in das Wesen von Mensch und Gesellschaft für sich beansprucht.
Buchzitat:
"Weder der Staat, noch die Schulen, noch schließlich die Eltern, die meist schon genug mit ihrem beruflichen Ehrgeiz und den Sorgen ihrer diversen Patchworkbeziehungen zu tun haben, um sich tatsächlich auch noch um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern, liefern Vorbilder im Sinne der unbedingten Autoritätsfiguren des 19. Jahrhunderts, welche lebenslange Muster für den Umgang mit Hierarchien und Mitmenschen waren. Einmal mehr hat das Abbauen der Ideologien in der Nachkriegs- und 1968er-Zeit offensichtlich das Wesen des Menschen wie auch seine notwendige Einordnung in eine zu allen Zeiten durch Ungleichheit ausgezeichnete Gesellschaft außer Acht gelassen."
"Weder der Staat, noch die Schulen, noch schließlich die Eltern, die meist schon genug mit ihrem beruflichen Ehrgeiz und den Sorgen ihrer diversen Patchworkbeziehungen zu tun haben, um sich tatsächlich auch noch um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern, liefern Vorbilder im Sinne der unbedingten Autoritätsfiguren des 19. Jahrhunderts, welche lebenslange Muster für den Umgang mit Hierarchien und Mitmenschen waren. Einmal mehr hat das Abbauen der Ideologien in der Nachkriegs- und 1968er-Zeit offensichtlich das Wesen des Menschen wie auch seine notwendige Einordnung in eine zu allen Zeiten durch Ungleichheit ausgezeichnete Gesellschaft außer Acht gelassen."
Letztlich läuft David Engels Buch auf eine Gleichung hinaus, die viel zu abstrakt bleibt, um die Kluft der 2000 Jahre zwischen damals und heute überbrücken zu können. Die Auflösung ordnungsstiftender Werte in der spätrömischen Republik habe die Demokratie diskreditiert und zur autoritären Ordnung der römischen Kaiserimperien geführt. Da sich auch heute wieder traditionelle Ordnungsmuster auflösten, müsse auch das vereinigte Europa in ähnliche autoritäre Verhältnisse übergehen, schreibt der Autor.
Wie diese aussehen werden, versucht Engels erst gar nicht zu konkretisieren. Zwar betont er mehrfach, kein Freund autoritärer und nationalistischer Verhältnisse zu sein, meint dann aber fatalistisch, dass sie doch heroisch hinzunehmen seien. Denn nur so seien die europäischen Werte im globalen Kulturkampf zu retten.
Buchzitat:
"Es gibt in der Menschheitsgeschichte Zeiten, wo jeglicher Optimismus letztlich nur unverantwortliche Verblendung und Feigheit bedeutet, während der Pessimismus es immerhin erlaubt, dem Unausweichlichen ehrenhaft und mit offenen Augen entgegenzutreten."
"Es gibt in der Menschheitsgeschichte Zeiten, wo jeglicher Optimismus letztlich nur unverantwortliche Verblendung und Feigheit bedeutet, während der Pessimismus es immerhin erlaubt, dem Unausweichlichen ehrenhaft und mit offenen Augen entgegenzutreten."
David Engels Buch ist höchstens als Symptom für ein rückwärtsgewandtes Denken interessant, dessen Resignation über die modernen Zeiten in die bodenlose Hoffnung auf eine gute Herrschaft von oben umschlägt. Diese neue Version der alten Denkfigur vom Untergang des Abendlands scheint aber einen Nerv des Zeitgeistes zu treffen. Die französische Originalausgabe von Engels Buch hat nach wenigen Monaten bereits die zweite Auflage erreicht.
Roman Herzog plädiert für Europa der zwei Geschwindigkeiten
Im Vergleich dazu weist das neue Buch von Altbundespräsident Roman Herzog in eine andere Richtung. Es heißt "Europa neu erfinden". Herzog versucht darin, pointiert und verständlich die Fehlentwicklungen der EU auf den Begriff zu bringen und Lösungsansätze aufzuzeigen. Er stellt wie David Engels fest, dass es heute weder ein einheitliches europäisches Nationalbewusstsein gibt, noch eine europäische Zivilgesellschaft.
Kritisch schildert er auch das Demokratieproblem der EU: den Kompetenzwirrwarr der europäischen Institutionen, die bürokratische Verordnungswut und den immer noch mangelhaften Einfluss des Europäischen Parlaments. Allerdings geht Herzog diese Probleme pragmatisch und mit einer gehörigen Portion Realismus an, wenn er schreibt:
"Das Problem einer 'echten' demokratischen EU-Verfassung ist zwar schwierig, würde sich, wenn man das wollte, aber einigermaßen lösen lassen. Das ganz anders geartete Problem der europäischen Nation dagegen ist zumindest auf absehbare Zeit unlösbar, so dass bestimmte Formen der Integration auf die gleiche Zeitspanne schlichtweg nicht realisierbar werden."
Wo kein einheitliches europäisches Nationalbewusstsein existiere, so Herzog, solle man das weder bejammern noch erzwingen wollen. Stattdessen plädiert er dafür, universelle Werte wie Demokratie, Menschenrechte oder die Trennung von Staat und Religion mit Leben zu füllen. Herzog will das Subsidiaritätsprinzip der EU verstärken, das besagt, dass die EU nur dort tätig werden soll, wo sie es besser kann als ein Mitgliedsland. Außerdem schlägt er vor, dass die EU weniger mittels direktiver Verordnungen agieren soll und stattdessen Richtlinien erlässt. Diese schreiben den Mitgliedsländern zwar bestimmte politische Ziele vor, überlassen ihnen aber die Methode, sie umzusetzen.
So sympathisch der nüchterne Optimismus auch ist, der in diesen Vorschlägen zum Vorschein kommt, so fraglich ist, ob das reicht, um Europa wirklich neu zu erfinden. Herzogs Anregungen bleiben oft präsidial allgemein, mögliche Einwände diskutiert er nur kurz oder gar nicht. Wird das Vertrauen der Bürger Europas in ihre Union aber tatsächlich wachsen, wenn diese ein bisschen weniger gouvernemental daherkommt? Oder wenn, wie Herzog vorschlägt, viel stärker als bisher auf ein Europa der zwei Ebenen und Geschwindigkeiten gesetzt wird?
Buchzitat:
"Auf der Ebene einer Wirtschaftsgemeinschaft, der zumindest tendenziell alle europäischen Staaten angehören können, und zusätzlich auf einer Ebene der europäischen Weltpolitik. Letzterer könnten zwar manche Mitglieder der Wirtschaftsgemeinschaft nicht angehören, von ihr aus könnte Europa aber seine Stimme innerhalb der entstehenden Machtblöckestruktur der Welt erheben und vor allem auch seine Interessen verfechten."
"Auf der Ebene einer Wirtschaftsgemeinschaft, der zumindest tendenziell alle europäischen Staaten angehören können, und zusätzlich auf einer Ebene der europäischen Weltpolitik. Letzterer könnten zwar manche Mitglieder der Wirtschaftsgemeinschaft nicht angehören, von ihr aus könnte Europa aber seine Stimme innerhalb der entstehenden Machtblöckestruktur der Welt erheben und vor allem auch seine Interessen verfechten."
Aber auch das wird das Vertrauen in die EU nur stärken, wenn offen darüber diskutiert wird, für welche ökonomischen und politischen Ziele die EU stehen soll. Weder die Probleme einer politischen Bewältigung der Finanzkrise noch die einer europäischen Sozial- und Immigrationspolitik werden von Herzog allerdings näher behandelt. So vermittelt Roman Herzogs Band zwar einige Anregungen - den Problemen auf den Grund geht er aber nicht.
David Engels: "Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen"
Europa Verlag, 544 Seiten, 29,99 Euro
Europa Verlag, 544 Seiten, 29,99 Euro
Roman Herzog: "Europa neu erfinden. Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie"
Siedler Verlag, 160 Seiten, 17,99 Euro
Siedler Verlag, 160 Seiten, 17,99 Euro