Dirk Müller: Das ist äußerst verwirrend, das ist äußerst beunruhigend, was Emmanuel Macron da über Wirtschaftspolitik und Haushaltspolitik formuliert, formuliert hat. Beunruhigend zumindest für viele Politiker und Wirtschaftspolitiker hierzulande. Eine gemeinsame Haushaltspolitik der EU-Staaten schlägt der Franzose vor, auch gemeinsame Eurobonds, also europäische Staatsanleihen. Das sind Schuldscheine. Und dann noch deutsche Investitionen, um die wirtschaftliche Krise in Frankreich in den Griff zu bekommen. Die Diskussion darüber in Berlin legt jetzt los.
Am Telefon ist nun der Bremer Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler Professor Rudolf Hickel, der Konjunkturpakete nicht per se für Teufelszeug hält. Guten Tag.
Rudolf Hickel: Schönen guten Tag, Herr Müller.
Müller: Herr Hickel, das französische Versagen, ist das auch ein deutsches Versagen?
Hickel: Natürlich. Ich finde ganz wichtig, überhaupt noch mal auf die Grundentscheidung zurückzugehen. Emmanuel Macron ist gewählt worden als eine klare Absage gegen Rechtspopulismus, die ja viele Gründe und Anlässe gehabt hat aufgrund der sozialen Spaltung. Er steht jetzt für Reformen und die Reformpolitik muss unterstützt werden – erstens. Und zweitens: Sigmar Gabriel hat völlig Recht, dass die Reform abhängig ist von der Entwicklung Europas und vor allem des Eurolandes.
Ich erinnere an ein wunderbares Zitat von Macron vom 16. März, das er in Berlin abgegeben hat bei der Diskussion damals mit Habermas und Sigmar Gabriel: Die Zukunft Frankreichs hängt von der Politik des Euroraums ab und vor allem von den Investitionen. Das heißt, wir sind jetzt in der Pflicht. Schließlich hat Herr Macron verhindert, dass die deutsch-französische Achse zusammenbricht, dass der Euro zusammenbricht. Jetzt sind wir auch in der Pflicht, mit vernünftigen, gut ausdiskutierten Instrumenten die deutsch-französische und die europäische Zusammenarbeit zu stärken.
"Es muss ein sogenannter Befreiungsschlag her"
Müller: Vielleicht, Herr Hickel, wenn Sie gestatten, übertragen wir das mal auf ein anderes Bild in Richtung Schule oder so. Das heißt, auch wenn die Franzosen nicht in der Lage sind, ihre Hausaufgaben zu machen, bekommen sie jetzt trotzdem Abitur?
Hickel: Nein, so kann man das nicht nennen, sondern es geht darum, dass überhaupt die Hausaufgaben, die ja aufoktroyiert worden sind durch die Bundesregierung, vor allem durch den Bundesfinanzminister – und das ist ja das Peinliche an dem Schulmodell -, die Hausaufgaben sind ja zum Teil falsch. Interessanterweise hat ja Macron innerhalb des Wahlkampfs immer wieder gesagt, Frankreich ist in dem Sinne kein Austeritätsland, die fahren gar keine Austeritätspolitik, sondern es kommt jetzt darauf an, den Druck auch aus Deutschland vor allem durch die Exportüberschüsse - die Handelsbilanzüberschüsse aus Deutschland liegen ungefähr im letzten Jahr bei 35 Milliarden Euro -, die insgesamt abzubauen.
Es muss ein sogenannter Befreiungsschlag her und es gibt eine Botschaft, die heute in der Art der kritischen Auseinandersetzung mit Frankreich ist, vor allem von Neokonservativen, Neoliberalen ist. Dort ist unglaublich eine Botschaft wichtig, nämlich dass in den letzten Jahren sich auch unter Hollande interessanterweise die Wettbewerbsfähigkeit verbessert hat. Frankreich muss gestärkt werden und wir sind in einem ganz eigentümlich, auf den Kopf gestellten Zusammenhang. Die Eurozone, die Politik, die jetzt vor allem betrieben wird durch die Austeritätsdiktate von Deutschland, hat ja Einfluss erstens auf Frankreich, aber negativen Einfluss, und die Umkehr trägt dazu bei, dass wirklich übrigens ein Beitrag für Frankreich geleistet wird, die Reformpolitik verbessert wird, die Möglichkeiten, und vor allem die Eurozone stabilisiert wird.
Das sind ja viele Forderungen von Macron, die wir seit Jahren diskutieren aufgrund der Fehlentwicklung des Euros, aufgrund der Spaltung zwischen dem starken, überdominanten Land Deutschland und den anderen Ländern. Das sind ja alles Vorschläge, die hat ja Macron nicht nach der Wahl in der Nacht erfunden, sondern die werden lange diskutiert. Der Kollege, den Sie interviewt haben, hat zurecht gesagt, die Eurobonds werden schon lange verlangt, und in die Richtung muss es gehen. Wir brauchen endlich eine Ergänzung, eine Erweiterung der Monetär-Union, die wir zurzeit haben, endlich auch durch eine Fiskalunion, und das fordert jetzt Macron als einen Beitrag zur Weiterentwicklung Europas und zugleich zur Stabilisierung Frankreichs, und das ist doch überaus vernünftig.
Müller: Herr Hickel, das ist ja ein reifes Statement inzwischen. Sie sind noch nicht auf der Pay Rule der Pariser Regierung, nur um das klarzustellen?
Hickel: Nein, überhaupt nicht. Das ist doch ganz deutlich. Nein, nein!
"Der Fiskalpakt ist in gewisser Weise eine Fehlkonstruktion"
Müller: Ich habe noch eine Frage. Wenn wir bei dem Schulbild bleiben und Sie sagen, Hausaufgaben und so weiter. Es gibt ja ganz klare Regeln und darauf basieren ja auch die wirtschafts-, finanz- und haushaltspolitischen Analysen auch des Finanzministers, unseres Finanzministers Wolfgang Schäuble. Der sagt immer, wir haben einen Vertrag unterzeichnet in Europa, Haushaltsdefizit drei Prozent. Die Franzosen scheren sich seit vielen, vielen Jahren überhaupt nicht darum. Sie reißen immer diese Hürde, sie reißen immer diese Marke. Die Deutschen machen es anders, nachdem sie auch mal zu den Sündern gehört haben, und jetzt sollen wir die Kohlen da aus dem Feuer holen? Ich verstehe das immer noch nicht.
Hickel: Ich verstehe das Bild. Das ist das gängige Bild, mit dem versucht wird, den Fiskalpakt durchzusetzen auch in Frankreich. Abgesehen davon, wenn man sich die Zahlen anschaut: 2016 haben die Franzosen mit 3,5 Prozent gerissen, und da hat ja Macron diese wunderbare Formulierung gebraucht und gesagt, lieber 0,5 Prozent im Staatsdefizit mehr als vom Vertrag zulässig, im Verhältnis dazu, dass damit Frau Le Pen ihren Sieg vollzieht. Man muss das Ganze auch insgesamt politisch sehen und ich gehöre zu denjenigen, die sagen, der Fiskalpakt ist in gewisser Weise eine Fehlkonstruktion. Oder sagen wir mal vorsichtig formuliert: Er reicht alleine nicht aus.
Es ist völlig richtig, dass im Europäischen Parlament jetzt auch viele sagen, die Gelegenheit nutzen und sagen, wir müssen die Eurounion, vor allem das Eurosystem weiterentwickeln und stabilisieren. Jetzt erinnere ich mich – und da sind wir ja ganz aktuell –, vor mehreren Monaten ist der Juncker-Plan vorgelegt worden mit 315 Milliarden Volumen für eine öffentliche Investitionsoffensive in der EU.
Da hat auch schon der Bundesfinanzminister ziemlich kritisiert. Aber solche Initiativen sind jetzt wirklich angedacht.
Und noch eine Ergänzung zu Sigmar Gabriel. Was er ausgeführt hat, kann ich nur 100 Prozent unterstreichen. Aber bei Investitionen, bei stärkeren Investitionen im Euroland meint natürlich Macron auch vor allem, dass Deutschland selber wieder mehr investiert, um damit eine gewisse Entlastung zu bringen bezüglich der Überschüsse, die Deutschland produziert. Und Handelsbilanzüberschüsse dem stärksten Partner gegenüber, Frankreich, drücken natürlich die heimische Ökonomie Frankreichs immer wieder in die Knie, und da gilt es, einen vernünftigen Weg zu finden. Das geht und ist machbar.
Müller: Das fordert ja auch immer die SPD hierzulande, zu investieren.
Hickel: Na klar!
Müller: Sie ist zwar in der Regierung, schafft das aber nicht. – Aber wenn wir noch einmal auf Frankreich blicken. Das hört sich ja fast so an - ich will an diesem Punkt ein bisschen übertreiben, jetzt hier zugegeben -, als sei das fast Gott gegeben, dass die Franzosen immer wieder diese drei Prozent reißen müssen. Viele sagen ja auch, viele kritische Wirtschaftsexperten und Analysten sagen ja, das kann ja nicht wahr sein, dass die Franzosen permanent über ihre Lebensverhältnisse leben, das heißt viel zu kurz arbeiten, dementsprechend keine Steuerreformen machen, viele, viele Defizite in der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik haben, und wir sollen das jetzt im Grunde mit einer anderen lockeren Finanzpolitik, Investitionspolitik lösen.
"Macron steht vor einer brutalen innenpolitischen Reform"
Hickel: Ich glaube, man muss das unterscheiden: Einerseits das Staatsdefizit, die Vorgabe im Fiskalpakt mit drei Prozent. Ich habe immer die Frage gestellt, warum drei, warum nicht zwei, warum fünf Prozent. Da tut man so wie mit der göttlich abgeleiteten Größe. Es kommt darauf an, dass die Haushalte einigermaßen vernünftig funktionieren, aber auch so atmen können, damit wirtschaftliches Wachstum gefördert wird.
Und das Zweite – und das weiß Macron besser als wir alle, die wir hier diskutieren: Er steht vor einer brutalen innenpolitischen Reform. Ohne die geht es nicht. Deshalb bittet er ja gleichsam auch uns in Europa, vor allem auch in Deutschland, ihm dabei zu helfen, weil das eine schwierige Aufgabe ist. Aber er muss die inneren Reformen machen. Aber eins sage ich klar: Wenn jetzt die Erwartungen produziert werden nach dem Motto aus Deutschland in der Mehrheit, Du hältst jetzt endlich die drei Prozent Staatsschulden-Neuverschuldung gegenüber dem Bruttoinlandsprodukt ein und gleichzeitig führst Du die Agenda 2010 ein, dann stellen wir die Debatte auf den Kopf, weil wir gerade dabei sind, Fehler der Agenda 2010 beispielsweise durch die Einführung der Mindestlöhne zu korrigieren.
Die Botschaft aus dem, was wir erfahren haben mit der Agenda 2010, vor allem in Richtung der Notwendigkeit von Mindestlöhnen, die Botschaft müssen wir unbedingt dringend auch in Frankreich verbreiten.
Müller: Die Agenda 2020 braucht dann auch Macron? Das heißt, ich habe Sie richtig verstanden, dass Sie schon es für notwendig erachten, dass es auch harte Einschnitte gibt?
Hickel: Natürlich wird es harte Einschnitte geben.
Müller: In der Sozialpolitik? Bei den Sozialleistungen?
Hickel: Das muss man sich sehr genau anschauen. Dort wo die Sozialleistungen zu stark ausgebaut sind, beispielsweise in den Bereichen, in denen die Arbeitszeitverkürzung zu Problemen führt, muss man natürlich über Reformdebatten diskutieren. Aber das gehört ja auch zu dem über Frankreich falsch produzierten Bild, das in Deutschland verbreitet wird, Frankreich immer als das schlampige Land darzustellen, dass die alles verpasst haben, versäumt haben, die leben auf "Vive la France", leben über ihre Verhältnisse. Das stimmt doch alles gar nicht.
"Wir machen das jetzt demokratisch als Reformpolitik"
Wir haben in Frankreich, Sie haben es selbst eingangs gesagt, eine sehr hohe Arbeitslosenquote von neun Prozent. Wir haben ungefähr 25 Prozent jugendliche Arbeitslose. Das heißt, es gibt auch Opfer von Fehlentwicklungen, und das zu korrigieren, das ist der große Reformauftrag. Aber das Neue und das Faszinierende – deshalb rede ich über Macron, mit dem ich selber in vielen Bereichen sicherlich auch Differenzen habe, rede ich so optimistisch, weil ich sage, er ist die Alternative zu dem Frust, zu dem nicht zuhören, zu der sozialen Spaltung, die die Rechten und Rechtspopulisten abstauben.
Er ist die Alternative zu sagen, so, wir machen das jetzt demokratisch als Reformpolitik innerhalb der Stabilisierung Europas, und das ist eine Herausforderung, die sich wirklich lohnt, und da müssen wir mit dem rüpelhaften Umgang, der teilweise jetzt aus Deutschland kommt, gegenüber Macron und den pawlowschen Effekten, wenn jemand sagt, wir wollen Bonds einführen, das muss man mal zurückstellen und darüber nachdenken, was ist sinnvoll. Das ist jetzt die Debatte, die erforderlich ist, und die hat auch Frankreich nach diesem Wahlsieg verdient.
Müller: Herr Hickel, jetzt haben wir nur noch eine halbe Minute. Ich bekomme schon strenge Blicke von der Regie in unsere Richtung. Das heißt, dass wir uns nachträglich den Sieg von Macron noch einmal erkaufen müssen?
Hickel: Nein, wir müssen ihn nicht erkaufen, sondern wir müssen ihn bestätigen. Wir müssen dafür sorgen, dass er eine Politik machen kann, dass sich eine Konstellation, dass am Ende Madame Le Pen die Wahlen gewinnt, sozusagen als etwas retuschierte Rechtspopulistin, aber eigentlich Rechtsradikale, dass sich das nicht wiederholt. Das ist die große Herausforderung. In fünf Jahren stehen wir vor einer ähnlichen Wahl und wir haben jetzt auch ökonomisch im Sinne der deutsch-französischen Zusammenarbeit innerhalb des Eurosystems die Aufgabe, zum Gelingen beizutragen, um nicht die Wiederholung und dann aber in ganz anderer Form in fünf Jahren darüber lamentieren zu müssen.
Müller: In Bremen haben wir erreicht den Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler Professor Rudolf Hickel. Danke, dass Sie wieder für uns Zeit gefunden haben.
Hickel: Schönen Dank, Herr Müller.
Müller: Ihnen noch einen schönen Tag.
Hickel: Danke, Ihnen auch.
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