Jörg Münchenberg: Peter Bofinger zählt zu den renommiertesten Wirtschaftsexperten in Deutschland, und er ist zugleich ein sogenannter Wirtschaftsweiser, gehört also jenem Gremium an, das der Bundesregierung einmal im Jahr in einem ausführlichen Gutachten konkrete Politikempfehlungen überreicht, wobei Bofinger nicht selten eine andere Meinung vertritt als die vier Kollegen. Kurz vor der Sendung habe ich den Wirtschaftsexperten von der Universität Würzburg zunächst gefragt, wie er die gegenwärtige politische Hängepartie hierzulande aus Sicht der Wirtschaft einordnet und wie lange das noch gutgehen kann.
Peter Bofinger: Kurzfristig sehe ich da überhaupt kein Problem. Die nächsten drei oder vier Monate kommen wir auch ohne Regierung aus, aber längerfristig, klar, brauchen wir stabile politische Verhältnisse, aber es ist ja sicher so, dass ja auch Frau Merkel in ihrer Regierungszeit nicht ständig wirtschaftspolitische Weichenstellung getroffen hat, sondern der Laden läuft in der Regel ja auch ganz gut von selbst.
Münchenberg: Würden Sie denn sagen, wenn jetzt die große Koalition nicht zustande kommt, das wäre dann auch vielleicht ein Zeitpunkt, wo die Wirtschaft so langsam nervös wird?
Bofinger: Ich glaube schon. Das würde eine große Unsicherheit schaffen, denn eine Minderheitsregierung ist aus meiner Sicht keine sehr stabile Angelegenheit, und wenn wir jetzt Neuwahlen hätten, könnten wir am Ende dieser Wahlen genau wieder da stehen, wo wir heute sind, und das würde bedeuten, dass diese politische Unsicherheit noch länger andauert, und das, glaube ich, wäre dann auch für die Wirtschaft keine gute Sache.
"Mittelfristig ist ein Betrag von 20 bis 30 Milliarden Euro Überschuss da"
Münchenberg: Nun spielt ja die gute Wirtschaftslage auch deutlich mehr Steuern in die öffentlichen Kassen, sprich es gibt ja auch mehr zu verteilen, was ja dann auch für die Regierungsarbeit durchaus interessant sein könnte, aus Sicht der Parteien zumindest. Haben Sie eigentlich da Verständnis für die FDP, die sich einer Jamaika-Koalition am Ende verweigert hat?
Bofinger: Also ganz verstanden habe ich das, ehrlich gesagt, nicht, denn, wie Sie schon sagen, ist ja relativ viel Geld da. Ich denke, mittelfristig ist ein Betrag von 20 bis 30 Milliarden Euro Überschuss da, den man ja nun für die Ziele einsetzen kann, die diejenige Partei für wichtig erachtet, und von daher dachte ich eigentlich, dass so eine Jamaika-Koalition schon hätte zustande kommen können.
Münchenberg: Wenn man jetzt, Herr Bofinger, den Blick ein bisschen weitet, dann sieht das ja nicht nur für Deutschland ganz gut aus, sondern auch für ganz Europa. Die EU-Kommission zum Beispiel rechnet im kommenden Jahr mit einem Wachstum von über zwei Prozent, die Investitionen sollen steigen, die Arbeitslosenquote weiter fallen. Hat denn Europa jetzt auch seine Wirtschaftskrise endgültig überwunden?
Bofinger: Also ich glaube, es zeigt sich, dass es gut war, Gas zu geben, dass Mario Draghi genau das Richtige gemacht hat, indem er geldpolitisch starke Impulse gesetzt hat. Er hat damit auch den Staaten in Europa die Möglichkeit gegeben, in ihrer Finanzpolitik behutsam vorzugehen, also jetzt nicht eine Konsolidierung um jeden Preis zu machen, eine Austeritätspolitik, die das Wachstum nimmt, und so, meine ich, haben wir jetzt eine Kombination einer sehr stimulierten Geldpolitik, einer behutsamen Fiskalpolitik, und es ist ja auch in einer ganzen Reihe von Ländern einiges an Reformmaßnahmen umgesetzt worden, gerade Frankreich ist ja ein sehr gutes Beispiel dafür.
Münchenberg: Aber auf der anderen Seite ist die Geldpolitik von Draghi ja auch sehr umstritten, denn er ermöglicht im Augenblick sozusagen …, gibt den Staaten Ruhe, aber auf der anderen Seite werden Strukturreformen dann doch eher weiter nach hinten geschoben. Sie haben zwar Frankreich als positives Beispiel genannt. Italien zum Beispiel gilt aber eher als negatives Beispiel.
Bofinger: Aber in Italien sind ja auch Arbeitsmarktreformen durchgesetzt worden. In Italien ist auch das politische System geändert worden. Also ich würde das nicht so negativ sehen. Ich würde einfach mal als positives Resultat festhalten, dass die Politik von Draghi die Eurozone wieder auf einen Wachstumspfad führte, dass die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgeht, und die vielen negativen Nebenwirkungen, die viele meiner Kollegen in Deutschland prognostiziert haben, die sind alle nicht eingetreten.
"Zunächst mal ist es wichtig, dass wir auch wieder Wachstum in Europa bekommen"
Münchenberg: Das heißt also, dieser Vorwurf, Draghi habe hier Zeit erkauft und die Politik habe sie nicht genutzt, den würden Sie nicht teilen.
Bofinger: Also ich würde sagen, zunächst mal ist es wichtig, dass wir überhaupt wieder Wachstum in Europa bekommen. Man darf ja auch die Effekte dieser Strukturreformen nicht überschätzen. Die Wirtschaft ist wie ein Fahrrad, und wenn das mal wieder in Bewegung kommt und wenn man Dynamik diesem Prozess verleiht, dann ist das grundsätzlich schon etwas Gutes, und Reformen können diesen Prozess unterstützen, aber ich glaube, sie können diese Impulse nicht ersetzen.
Münchenberg: Nun warten ja auch auf ganz Europa große Aufgaben, es gibt viele Vorschläge auf dem Tisch. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sie gemacht, die EU-Kommission hat auch viele Ideen entwickelt. Wo sehen Sie für die EU im kommenden Jahr den größten Handlungsbedarf?
Bofinger: Also ich würde grundsätzlich sagen, dass ich es für sehr wichtig halte, dass wir eine Große Koalition bekommen, denn das ist aus meiner Sicht die Konstellation, mit der man in Europa weitere Schritte machen kann, mit Jamaika und der FDP wäre ich da eher skeptisch gewesen, und wenn man sich jetzt fragt, was gilt es in Europa zu tun, dann muss man zwei Ebenen unterscheiden: Das eine ist die Ebene der Europäischen Union, und das andere ist die Ebene der Europäischen Währungsunion, und ich finde, Macron hat ja für beides eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht und hat auch Deutschland ja ganz explizit angesprochen, hat gesagt, wir müssen das zusammen voranbringen, und deswegen denke ich, ist Europa die ganz entscheidende Aufgabe, die sich jetzt im kommenden Jahr stellt.
Münchenberg: Aber trotzdem kosten auch die Vorschläge von Macron sehr viel Geld. Er will ein eigenes Eurozonen-Budget, also eine Art Notfallfonds auch für Schieflagen, er will einen eigenen EU-Finanzminister, er will ein gemeinsames Verteidigungsbudget. Wird das am Ende alles Deutschland bezahlen müssen?
Bofinger: Also ich glaube, das ist einfach die falsche Sichtweise, die wir haben, dass wir uns erst mal fragen, was müssen wir bezahlen. Die Frage ist, was können uns neue mutige Schritte in Europa bringen, wo können wir Fortschritte erzielen, und in der zweiten Linie würde ich erst mal fragen, was es kostet, und wenn wir jetzt mal auf die Ebene der Europäischen Union gehen, da hat ja Macron den wichtigen Vorschlag gemacht, den Steuerwettbewerb deutlich einzuschränken, dass also die Staaten sich immer weiter runter konkurrieren, und das bringt ja dem Staat Geld und kostet nichts. Ein zweiter wichtiger Vorschlag von Macron ist die ganze Idee, dass man eine europäische Industriepolitik in Angriff nimmt. Das heißt, dass man sich fragt, was können wir in Europa tun, dass unsere Unternehmen in den zukunftsträchtigen Bereichen auch wirklich Weltspitze sind. Wenn Sie nach China blicken, dann sehen Sie da eine ganz klare Strategie "Made in China 2025", wo der Staat sehr viel Energie, sehr viel Geld in die Hand nimmt, um China wirklich zum weltführenden Land zu machen. Wir in Europa sind vollkommen passiv. Schon Macron sagt, lasst uns das machen, und wenn wir da erfolgreich sind, wenn unsere Industrie wettbewerbsfähig ist, dann bringt uns das Geld und kostet uns nichts.
Münchenberg: Auf der anderen Seite, Herr Bofinger, ist auch klar, mit dem Ausstieg der Briten wird eine Menge Geld fehlen in Europa, und irgendwann wird sich natürlich auch die Finanzierungsfrage stellen, und da sind wir dann doch wieder bei Deutschland.
Bofinger: Natürlich wird uns das auch was kosten, aber das Wichtige ist doch, dass wir eine starke deutsche Wirtschaft haben, und die starke deutsche Wirtschaft setzt voraus, dass wir auf der europäischen Ebene dafür sorgen, dass wir wettbewerbsfähig bleiben, dass wir uns gegen China durchsetzen, dass wir uns gegenüber den Vereinigten Staaten durchsetzen, und das können wir nicht mehr im nationalen Alleingang machen. Genauso Steuerwettbewerb: Wenn wir uns immer weiter nach unten konkurrieren bei den Steuern, dann hat der Staat kein Geld. Dann kostet uns das sehr viel. Deswegen würde ich erst mal fragen, was können wir wirklich positiv erreichen und dann natürlich sich auch Gedanken machen, was kostet uns das. Ich bin insgesamt der Meinung, dass ein starkes Europa uns politisch, aber auch ökonomisch sehr viel mehr bringt, als es uns jemals kosten kann.
Bofinger: Engländer werden sich noch sehr wundern über Folgen des Brexit
Münchenberg: Auf der anderen Seite haben wir ja noch nicht vor allzu langer Zeit über die Krise in Europa heftig diskutiert, und da kam auch aus Brüssel das Signal, dass man gesagt hat, wir gehen jetzt eher die kleinen Schritte. Das, was Macron vorgeschlagen hat, geht ja in eine ganz andere Richtung, und da stellt sich ja schon die Frage, jetzt in Zeiten des Populismus und Nationalismus, brauchen wir wieder jetzt die großen, die ganz großen Antworten auf die Fragen der Reformen in der EU?
Bofinger: Na ja, wir müssen uns einfach fragen, können wir das, was uns wichtig ist, können wir das in Zukunft im nationalen Alleingang durchsetzen, insbesondere gegenüber den Vereinigten Staaten, die ganz stark ihre nationalen Interessen verfolgen, und auf der anderen Seite China, die eben ähnlich stark und wahrscheinlich noch sehr viel konsequenter ihre nationalen Interessen verfolgen, können wir im nationalen Alleingang dann uns behaupten oder geht das einfach nur mit Europa, und ich glaube, die Idee, national da noch punkten zu können, das ist naiv, und deswegen werden sich die Engländer noch sehr sehr wundern über die Folgen, die sie sich jetzt selber mit dem Brexit einbrocken.
Münchenberg: Herr Bofinger, Sie haben gesagt, mit der Großen Koalition ginge das alles am besten, was Europa angeht, aber auch innenpolitisch hätte eine solche Koalition ja einiges zu tun. Wo warten Ihrer Einschätzung nach die wichtigsten Baustellen für die nächste Regierung?
Bofinger: Zunächst mal ist ja für eine neue Regierung die gute Situation, dass die Wirtschaft gut läuft, dass die Arbeitsmarktprobleme ja nur noch sehr viel geringer sind als das noch vor fünf oder vor zehn Jahren der Fall gewesen ist. Das heißt, man kann sich eigentlich auch da jetzt sehr stark drauf konzentrieren, was können wir tun, damit unser Land leistungsfähig bleibt, und auf der anderen Seite, was können wir tun, dass aber auch die soziale Gerechtigkeit nicht in den Hintergrund gerät. Also diese beiden Dinge, Stärkung der Leistungsfähigkeit, aber auch sozialer Ausgleich, das wären für mich die Schwerpunkte einer neuen Regierung.
Münchenberg: Gehört da die Bürgerversicherung, die ja die SPD sehr stark favorisiert, gehört die da dazu?
Bofinger: Also die Bürgerversicherung ist etwas, das kann man, glaube ich, vergleichen mit Stuttgart 21, ein gigantisches Großprojekt mit sehr, sehr langfristigen Effekten, was aber kurzfristig auch sehr viel Übergangsprobleme schafft. Ich glaube nicht, dass sich die SPD jetzt darauf versteifen sollte, um jeden Preis die Bürgerversicherung als Voraussetzung für eine Große Koalition zu machen. Es wäre eben schade, wenn die wichtigen Dinge, die wir haben, in Europa auch bei der sozialen Gerechtigkeit, wenn die nicht umgesetzt werden könnten, weil die SPD sich auf diese Bürgerversicherung versteift.
Münchenberg: Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger von der Universität Würzburg hier im Deutschlandfunk.
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