Seine Reise beginnt Mathias Greffrath im Garten des Albert-Kahn-Museums. Der Bankier Kahn war ein Pionier der Farbfotografie - und der europäischen Idee: Er glaubte, dass nicht zuletzt durch den technologischen Fortschritt die Länder der Welt näher zusammenrücken. Gleichzeitig hält das Museum auch Belege des Gegenteils bereit: Aufnahmen der zerstörten Städte und Landschaften nach dem Ersten Weltkrieg. Auch Kahn hatte mit Gegenwind zu kämpfen: In den '30er-er Jahren verlor er sein Geld, starb verarmt kurz vor dem Einmarsch der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Wie die Welt Kahns erfährt Mathias Greffrath das heutige Europa als zerrissen zwischen alt und neu: Obwohl Kommunikationswege und wirtschaftliche Verflechtungen Landesgrenzen ignorieren, ist die Suche nach einer verbindenden Idee von Europa oft vergebens. Selbst für die Visionen eines Emmanuel Macron erntet Greffrath in Frankreich vor allem Kopfschütteln. Auch sonst erblickt Greffrath vielerorts eine Blockadehaltung gegenüber Europa. Doch er erfährt auch: Weder das Weltbild der Konservativen noch das der Progressiven ist zukunftsfähig. Wichtig ist es, abseits dieser Gegensätze die Beziehungen der Menschen untereinander neu zu denken – und in diesen Prozess alle Menschen mit einzubeziehen.
Es ist ein Brückentag, zwischen Sonntag und der Fête de la Victoire, mit der Frankreich das Ende des letzten Weltkriegs feiert. Deshalb ist niemand auf der Baustelle. Aber Madame Angeli hat Dienst, sie müht sich einen Augenblick mit dem Vorhängeschloss, bis es aufgeht; dann passieren wir einen zerfallenden hölzernen Portierpavillon, tauchen in den verwunschenen Park ein.
Eigentlich sind es vier Gärten, die ineinander übergehen, auf vier Hektar, an der Schleife der Seine, in Boulogne-Billancourt am Westrand von Paris, einer der reichsten Gemeinden Frankreichs. Zuerst die milden Lichtungen eines englischen Landschaftsparks, dann die strengen Spaliere eines französischen, links dahinter eine japanische Landschaft, mit einem Bach, ein paar Hügeln, einer Pyramide aus runden Steinen, einer rotlackierten Brücke - und dann der Wald der Vogesen. Vier Arten, die Natur ästhetisch wahrzunehmen - ein kosmopolitischer Park.
Am äußersten Ende, symmetrisch und wie von Sempé gemalt, das dreistöckige Wohnhaus des Bankiers Albert Kahn, der diesen Park angelegt hat, Ende des 19. Jahrhunderts. Albert Kahn, 1860 im Elsass geboren, als Sohn jüdischer Viehhändler, studierte in Paris Philosophie und Jura, war mit 32 Jahren Teilhaber eines großen Bankhauses, spekulierte mit afrikanischen Goldaktien und wurde sehr schnell zu einem der reichsten Männer Frankreichs.
Eigentlich sollte der Neubau des Musée Albert-Kahn in der Rue du Port in diesem Jahr eröffnet werden, aber bis heute ist nur die Fassade fertig, ein langgestreckter Aluminiumspoiler, typisch französisch-modern; drinnen wird noch eine Weile gebaut werden. Wie lange? Madame Angeli zuckt die Schultern. Aber die Sammlungen sind ja zu einem großen Teil online, sagt sie dann. Die Sammlungen, das sind vor allem 70.000 Autochrome, Farbfotos der ersten Generation. Autochrome: 1902 hatten die Brüder Lumière zum ersten Mal Fotoplatten mit eingefärbten Kartoffelstärkekörnchen beschichtet und ein Diapositivverfahren ermöglicht. Albert Kahn, ein technikbegeister Mäzen der Künste und Wissenschaften, befreundet mit dem Bildhauer Auguste Rodin und dem Philosophen des Lebendigen, Henri Bergson, war begeistert. Er schickte 20 Fotografen auf die Reise, mit Geld und beschichteten Platten - und das Resultat sind die "Archives de la Planète", das planetarische Archiv, die pastellfarbige Enzyklopädie einer untergegangenen Welt: norwegische Fischer, syrische Kinder beim Teppichweben, Könige aus Benin und Musikanten aus den Pyrenäen, indische Totenfeiern, Büffelherden in Kanada und der Basar in Djidda, Weinbauern in Burgund und die Brücke von Mostar, das Marmorschiff des Kaisers von China und Leprakranke in Tonking - man kann nicht aufhören, wenn man in diese Sammlung eingetaucht ist.
Und dann: die Bilder von Schützengräben, Soldaten an Maschinengewehren, die abgebrannten Wälder der Vogesen, fliehende Bauern, Leichen in Minenfeldern. Und die ersten Filme.
Ein Film hatte mich auf Albert Kahns Lebenswerk aufmerksam gemacht, als der Beginn des Ersten Weltkriegs sich zum 100. Mal jährte; ein stiller Film, kein Poilu und kein Landser und kein Leutnant und kein General und kein Grabenkampf und kein Sturmangriff, der Film kommt ganz ohne Schüsse und Leichen und Worte und Musik aus. Er ist sehr leicht, fast heiter. Und unendlich traurig. Er zeigt eine lange Fahrt mit dem Luftschiff über die Hauptkampflinien der Westfront, von Dünkirchen bis nach Verdun und darüber hinaus, 1919 gefilmt, als das Töten ein Ende hatte. Rostende Panzer auf dem Chemin des Dames; endlose Schlammwüsten, wo gelebt und geerntet wurde; Granatenkrater mit Wasser gefüllt, kilometerlange Zickzackschnitte der Gräben durch die Erde, das tote Holz der Wälder, die zerschossenen Straßen - und die Städte. Menschen schauen hoch zu dem niedrig fahrenden Zeppelin, einige winken und der Pilot winkt zurück, schaut über die Schulter, lächelt dem Kameramann zu. Unten liegt das vier Jahre umkämpfte, beschossene Ypern, die filigranen Wände der Kathedrale durchlöchert, von den Häusern stehen nicht einmal mehr die Grundmauern, nur noch Kellerlöcher. Auf den Straßen haben die Händler ihre Stände aufgestellt, Markthallen gibt es nicht mehr.
Es ist eine Momentaufnahme der Stunde Null, die in den historischen Büchern eine Abstraktion ist. Nicht die Gewalt ist zu sehen, sondern nur ihre Spuren, aber wenn man hinschaut, weiß man alles. Fast körperlich spürte ich für einen Moment, was Frieden ist. Er leuchtet kurz auf in diesem verhaltenen, leicht traurigen Lächeln, mit dem der Pilot sich dem Kameramann zuwendet, der hinter ihm sitzt, in dieser knappen Geste, mit der er kurz aus der offenen Gondel nach unten winkt, in den Gesten der Menschen inmitten der Fassaden ohne Häuser, die in der Sommersonne stehen, reden und nach oben schauen, von wo keine Granaten mehr kommen. Frieden, das ist nicht vor dem Krieg, sondern wenn der Kampf zu Ende ist. Eine kurze Weile. In diesem Fall: 20 Jahre.
Die Idee "Europa"
Albert Kahn war ein Pazifist und ein Paneuropäer, einer der aufgeklärten liberalen zumeist wohlhabenden Bürger, die sich in Frankreich in den Jahrzehnten vor dem ersten Krieg für die europäische Einheit und nach dem Krieg für den Völkerbund engagierten. In den '90er-Jahren nannte die "Internationale Liga für Frieden und Freiheit" des Nobelpreisträgers Paul d'Estournelles de Constant den Weg in eine Europäische Union unausweichlich. Sie waren nicht nur Idealisten, diese Pazifisten aus dem Bürgertum; sie sahen die Globalisierung kommen. Industrialisierung, weltumspannende Transportmöglichkeiten und Kommunikationstechnik würden zu globaler Konkurrenz führen. Statt um innereuropäische Hegemonie zu kämpfen, sollten sich die europäischen Nationen zusammenschließen, um den Niedergang des alten Kontinents zu vermeiden. Und Paul Valéry schrieb: "Wir stehen am Anfang einer endlichen Welt." 1905 gründet sich ein "Komitee für internationale Versöhnung", mit großen Namen: Claude Monet, André Gide, Marie Curie sind dabei. Albert Kahn wird der Schatzmeister der Organisation.
"Die wissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahre", so schrieb er, "ihre industrielle Anwendung, die drahtlose Telegraphie, der Luftverkehr werden unsere Lebensweise umwälzen und damit auch das Verhältnis der Völker zueinander, und der Augenblick ist nicht weit, in dem aus diesen Notwendigkeiten das Gefühl einer Art neuen (größeren) Organismus entstehen wird, ein Gefühl, das den dauerhaften und engen, intimen Kontakt zwischen den Nationen möglich macht."
Kahn setzte auf dieses Gefühl, ja, er setzte sein Vermögen dafür ein. Wenn die Völker und ihre Eliten friedlich werden sollen, müssen sie mehr über einander wissen. Er reist in alle Kontinente, vergibt großzügige Reisestipendien an junge Akademiker, Männer wie Frauen. 30 Jahre lang, zumeist sonntags, veranstaltet er Treffen, mit Vorträgen, mit Diaprojektionen, mit Diskussionen. 20 Nobelpreisträger sind unter seinen Gästen, Schriftsteller wie Thomas Mann, Rudyard Kipling, Anatole France, Politiker wie Stresemann, Léon Bourgeois, Wissenschaftler wie Einstein und Curie, Denker wie Bergson oder Rabindranath Tagore. Kahn kann nicht gut reden, seine Texte sind stichworthaft und sprungartig. Er ist kamerascheu. Ein seltenes Foto zeigt ihn, auf dem Balkon seiner Bank in der Rue Richelieu: ein kleiner, etwas gedrungener Mann mit Glatze im Anzug mit Weste und einem Spitzbart; er schaut die Straße entlang, die Stirn in Falten, als fixiere er eine Bedrohung in der Ferne.
Der Völkerbund, an dessen Etablierung einige von Kahns Gästen und Freunden nach dem Krieg mitwirkten, blieb zahnlos und ohne eigene Armee. Es begannen der Weltbürgerkrieg, die kommunistischen Revolutionen, der Aufstieg der autoritären Regimes überall in der Welt; die Wirtschaftskrise trieb die Volkswirtschaften gegeneinander. In der Krise der Dreißiger brach Albert Kahns Bank zusammen, die Fotografen zahlte er weiter, solange sein Vermögen reichte. Dann wurden seine Häuser versteigert, den Park kaufte die Gemeinde, ihm selbst blieb eine kleine Wohnung und eine Apanage von umgerechnet 5.000 Euro im Jahr. Ein paar Wochen, bevor die Deutschen in Paris einmarschierten, starb Albert Kahn.
Es ist ein Filmstoff, diese märchenhafte Geschichte vom Sohn des Viehhändlers Louis Kahn und seiner Frau Bibi Bloch aus Marmoutier im Elsass, aber ein happy end hat sie nicht. Auch das Ende der europäischen Geschichte ist heute wieder einmal sehr offen. Die Nachkriegsordnung ist mit der Dekolonisierung, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Aufstieg Chinas zerbrochen, die Autorität der Politik durch die global operierenden Unternehmen und Finanzmächte unterminiert, die Globalisierung spaltet die Welt, Unilateralismus und Nationalismus leben wieder auf. Noch halten die alten Barrieren, aber der Boden schwankt.
"Keine Revolution ohne Krieg"
"Die Stürme der Gegenwart gründen zum Teil leider auf einer Art Fluch, von dem man leider nicht sagen kann, dass er übermäßig fatalistisch ist: es ist in der Geschichte noch nie gelungen, die internationalen Beziehungen zu revolutionieren außer durch Krieg - und das ist wohl der größte posthume Sieg von Hobbes", so schreibt es Bertrand Badie, der Professor für Internationale Beziehungen an der Sciences Po, der Elitehochschule für politische Wissenschaften. Schreibt es in seinem Buch "Wir sind nicht mehr allein in der Welt", einer knappen Analyse des "post-bipolaren" Zeitalters, für das wir noch keinen Namen haben.
Die Weltkarte französischer Politikprofessoren ist auch nach dem Ende des Kolonialreiches sehr groß geblieben, auch die Zeitungen und Medien sind weniger provinziell als unsere. Und auch der Sinn für Dramatik bleibt französisch. Auf France Inter höre ich, wie Bertrand Badie in einer gedrängten halben Stunde die letzten vier Jahrhunderte der diplomatischen Weltpolitik resumiert, untermalt von den Gewitter simulierenden Streichern der vivaldischen Jahreszeiten.
Als ich mit ihm rede, hat Badie gerade sehr viel hat zu tun, sein Telefon steht nicht still in diesen Tagen, in denen der feingestrickte Kompromiss des Iran-Vertrages, das Wiedererstehen der Diplomatie nach dem Kalten Krieg, von Donald Trump zerrissen wurde. Europa, so hat Badie es in seinem letzten Buch geschrieben, Europa hat das Ende des Kalten Krieges nicht genutzt, schon lange hat sich das Fenster der Möglichkeiten geschlossen. Europa ist nicht mehr das Schlachtfeld der Welt, aber es hat nicht verstanden, als einheitlich handelnde Macht die Weltpolitik mit zu gestalten.
In den Köpfen: Die alte Landkarte
"Auch in den Köpfen der Intellektuellen", sagt mir Badie, "ist immer noch die alte Landkarte; die neue Geografie ist noch nicht gelernt worden. Es wird immer noch Ost-West gedacht und gefühlt. Und selbst da wo man Nord-Süd denkt, denkt man die Konflikte nach dem Modell Ost-West." G7, G8 - immer noch hätte die alte Vorstellung Pate gestanden, der Westen könne die Welt regieren. Ja, mehr noch, selbst die Vorstellung einer internationalen Ordnung treffe die Realität nicht mehr. Die Gleichzeitigkeit von politischer Dekolonierung, ökonomischer Globalisierung und kommunikationstechnischer Entwicklung habe dazu geführt, dass die globale Sozialordnung die Welt viel stärker formt als die Beziehungen der Nationen zueinander. "Wir haben noch nicht verinnerlicht", sagt Badie, "was das heißt, dass einer von drei Afrikanern im Netz ist, dass es auf diesem Kontinent 300 Millionen Smartphones gibt. Das hat zu einem imaginaire mondialisé geführt. Die Welt der Vorstellungen ist globalisiert worden, der Vorstellungen über Wohlstand und Ungleichheit, und das hat viel stärkere Wirkungen als alle Diplomatie und die Spielchen der Kanzlerämter."
Die Bilder, an deren Macht Albert Kahn glaubte, sind immer noch mächtig, aber ihre Wirkung hat sich umgekehrt: Kahn schickte seine Fotografen um den Globus, in der Hoffnung, dass die Kunde von fremden Welten die Eliten aufgeklärter, die Menschheit friedlicher machen könnte, die Bilderflut im Internet heute zeigt den Elenden dieser Welt unseren Wohlstand und setzt sie in Bewegung.
"Nein", sagt Badie, als ich ihn frage, ob nicht die Alleingänge von Trump Europa eine zweite Chance gäben. "Mit 26 Staaten kann man keine europäische Politik machen. Die zentraleuropäischen Staaten haben völlig andere Interessen als die im Westen. Jedes einzelne Land ist in der Krise, die Regierungen aller Länder sind geschwächt. Die Konjunktur für gemeinsame europäische Aktionen ist nicht gut."
Und Macron, frage ich ihn. Macron, der die Kühnheit besaß, sich über allen Parteien und ohne alle alten Parteien zum Präsidenten aller Franzosen zu erklären, der mit europäischem Pathos nicht zu den Klängen der Marseillaise, sondern der Beethovenschen Europa-Hymne sein Amt antrat, gut ausgeleuchtet und gravitätisch im Hof des Louvre; Macron, der in jeder Rede die europäische Souveränität beschwört und die Tatsache, dass keine Nation allein die globalen Probleme lösen kann, der gegen die Hypermacht der Großkonzerne, die Übermacht von China und den USA, gegen die pseudodemokratischen Diktaturen das soziale, das schützende Europa feiert; Macron, der eine europäische Finanzordnung, europäische Grenzpolizei, europäische Steuern fordert; Macron, der mit Goethe und Kant und Gide und Camus zur Einheit und zur Verteidigung dieses Europa aufruft, dieses "nie Dagewesene(n) auf diesem Planeten". Was ist mit Macron?
Ich höre Badie leise stöhnen, während ich von diesem 40jährigen Präsidenten schwärme. "Ja, ja", sagt er dann, "die Prinzipien seiner europäischen Politik sind gut. Im Prinzip." Er lacht: "Es sind schöne Dissertationen, die er von sich gibt. Aber es ist bis jetzt nichts daraus gefolgt. Bis jetzt ist aus seinen Worten nicht eine Initiative geworden. Und in der Migration ist er noch konservativer als sein Vorgänger."
Ich merke, dass ich dem erfahrenen Politikanalytiker mit seinem abgeklärten Realismus nicht gern zuhöre, ich möchte mir den Blick auf Macron nicht trüben lassen, aber ich will auch nicht Opfer meines Rests an politischer Heilserwartung werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser junge Präsident wirklich will, was er sagt. Und ich finde es erbärmlich, wie unsere Kanzlerin auf seine Rede bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen - die ja nicht nur lyrisch war, sondern realistische und fordernde Passagen enthielt: über die französischen Fetische (die Staatsbediensteten) und die deutschen Fetische (die schwarzen Nullen), - und dazu ein flammendes Bekenntnis zur europäischen Lebensart, aber auch ein sehr konkretes Aufgabenbuch: die gemeinsame Organisation der Künstlichen Intelligenz, die Klimapolitik, die Reform der Eurozone, eine vereinheitlichte Migrationspolitik, soziale und fiskalische Konvergenz. Ich finde es zutiefst deprimierend, dass Angela Merkel auf Macrons Bekenntnis zur Zukunft - "Wir müssen für etwas kämpfen, das größer ist als wir selbst" - eigentlich nichts anderes sagt als: "Herzlichen Glückwunsch" und "Du sprühst ja vor Ideen."
Und gleichzeitig halte ich es für wahrscheinlich: Sie könnten beide versagen vor der Geschichte. Der eine, weil er mit seinem innenpolitischen Austeritätsprogramm scheitert; die andere, weil sie durch ihre innerparteilichen Querelen blockiert ist, mehr Europa zu wollen.
Ich denke an meine Reisen nach Ungarn, Dänemark, Polen, ich denke an Seehofer und Dobrindt, an den Brexit. An die überall vorhandene, unterschiedlich starke, mehr oder weniger historisch begründbare Mischung aus ökonomischer Besitzstandsfurcht, Fremdenangst und Rassismus - die Migration ist das einzige Thema, das in allen Ländern Europas, ob sie von Migranten heimgesucht oder gemieden werden, die Politik, die Mehrheitsverhältnisse, die öffentlichen Debatten bestimmt; die Abwehr der Fremden scheint das einzige vitale, wirklich gesamteuropäische Thema zu sein. Aber selbst da: schwer vorzustellen, wie es eine gesamteuropäische Lösung geben könnte.
Blicke auf einen Seiltänzer
Alle schauen auf Macron - jedenfalls bei uns. Jedenfalls alle, die mehr Europa wollen. Ein wenig wie auf einen Seiltänzer. Und in der Tat: Es ist ein Balanceakt angesagt. Im Wahlkampf und auch jetzt noch haben die Medien Macron belächelt für seine Lieblingswendung "en même temps". Gleichzeitig. Gleichzeitig seine erzliberalen Agenda-Reformen durchsetzen, um den Deutschen zu gefallen und sie dadurch zu gewinnen für ein Europa, das alle Europäer, auch die einfachen, schützt - was ohne Transferunion nicht möglich ist. Gleichzeitig den Bahnangestellten und den Piloten den Verzicht auf Privilegien abringen und spürbare Senkung der Arbeitslosigkeit erreichen. Gleichzeitig mehr Europa fordern und den Osteuropäern klar machen, dass sie ihre Stimme verlieren werden, wenn sie sich nicht ändern. Gleichzeitig den Primat der Politik verstärken und um ausländische Investoren buhlen. En même temps - es ist keine Sprachmacke, es ist die Grundausstattung für Politiker in dieser Zeit, in der so vieles gleichzeitig schwankt und so vieles gleichzeitig geschehen muss.
"Die Nationen sind blockiert, die Regierungen innenpolitisch geschwächt, wir haben zur Zeit eine Inflation von Worten, aber noch keine konkreten Entscheidungen", das hatte Bertrand Badie zum Abschied gesagt, dann klingelte sein anderes Telefon, aber er hatte noch schnell hinzugefügt: "Ohne dass das europäische Parlament ein wirkliches Parlament wird, das entscheiden kann, das Initiativen ergreifen kann, das wirkliche Macht hat, wird wenig anders werden."
Worte und Macht - ich muss daran denken, als ich am Abend am Panthéon vorbeikomme, in dem das Manuskript des Ballhausschwures liegt, der Unabhängigkeitserklärung der 96 Prozent gegen die Herrschaft der Eliten, muss an den großen dramatischen Moment der europäischen Geschichte denken, als am Morgen des 23. Juni 1789 der Zeremonienmeister des Königs die Versammlung des Dritten Standes auflösen wollte, die Versammlung, in der es um die Souveränität des Volks ging und ganz konkret, um die Hoheit über Steuererhebung und Staatsschulden. Als daraufhin der Comte de Mirabeau aufstand mit den Worten "Sagen Sie denen, die Sie geschickt haben, dass wir hier sind, weil das Volk es gewollt hat und dass wir nur den Bajonetten weichen werden". Diese Rede Mirabeaus war nicht nur ein wesentlicher Anstoß zur Französischen Revolution; sie hat Heinrich von Kleist zu einem Aufsatz inspiriert, der zu meiner Zeit noch Pflichtlektüre im Deutschunterricht der Oberstufe war: über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Und natürlich über die Macht der Worte.
Ein europäischer Ballhausschwur, das ist natürlich eine romantische Vorstellung ebenso wie die europäische Republik noch eine Utopie ist: Einstweilen herrscht der Exekutivenföderalismus, das Aushandeln von Kompromissen durch die Regierungen; auch den nächsten kleinen Schritt zu einem wirklichen europäischen Parlament, den Macron vorschlug - transnationale Listen bei der nächsten Europawahl - haben die Eliten der nationalen Parteien verhindert. Lieber koalieren die europäischen Sozialdemokraten mit der Mafiapartei, die in Rumänien regiert, und die Christdemokraten mit den autoritären Antidemokraten in Ungarn, als dass sie die europäischen Bürger einladen, als Europäer zu wählen, ihnen zumuten, als Europäer zu denken.
Die Katastrophe und das Normale
"En même temps". Gleichzeitig. Sagt Bruno Latour und zeigt auf das Flussufer. Samstagsmorgenjogger und ein Paar mit Rollator, spielende Kinder und ein Ausflugsboot. "Wir leben nicht vor, wir leben in der Katastrophe und gleichzeitig sehen wir das Normale, das weitergeht. Gleichzeitig ist alles gut und alles schlecht. Und das zu sortieren, ist die Arbeit der Intellektuellen, das auseinanderzunehmen, denn es ist eine neuartige Katastrophe."
"Intellektuelle machen keine Revolution". Bruno Latour, der Wissenschaftstheoretiker, der Philosoph, Ökologe und hinreißender Vortragskünstler hat gerade ein Manifest geschrieben. "Das terrestrische Manifest". Eine Hilfestellung bei der politischen Orientierung. In hellem Sonnenschein, am Ufer des Flusses - ich muss gestehen, es war die Spree und nicht die Seine, in Paris haben wir keinen Termin mehr hingekriegt - erklärt er mir seine semantische Revolution. Denn um eine solche, um eine Revolution im Denken handelt es sich.
"Die Intellektuellen haben die Tendenz zu sagen: Die Populisten oder die Konservativen wollen zurück, aber rückwärts ist genau so irreal wie vorwärts. Die vermeintlich zurück wollen, die Ungarn, die Polen, das sind Nationen, die überhaupt nicht überleben könnten ohne die Beziehungen und ohne die Hilfe der anderen. Aber die Globalisierung ist genau so irreal. Der Planet ist für den Globus der Globalisierung viel zu eng und viel zu beschränkt."
"Où atterir?" Wo landen, so heißt das Buch auf französisch und klingt sehr viel praktischer und weniger teutonisch als "terrestrisches Manifest". Terrestrisch, das ist Latours Gegenbegriff zum Gegensatz von Lokalem und Globalem, ein Scheingegensatz, der ins Nichts führt, ebenso wie die Gegensatzpaare 'reaktionär' oder 'fortschrittlich', 'Wachstum' oder 'Stagnation', 'Mobilität' oder 'Stillstand'. Das sind alles Begriffe auf einem Zeitpfeil. Latour setzt an ihre Stelle räumliche Begriffe: besiedeln, besetzen, kultivieren, bewohnen, sich beheimaten, landen, sich erden. Und das nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten Rückkehr zum Lokalen; die Idyllen sind längst verkabelt, durchkapitalisiert, angeschlossen ans Netz, nur noch Kulisse. Das Lokale ist eben so virtuell wie das Nationale und das Globale. Die Nationen der Populisten sind nicht lebensfähig, die totale Globalisierung überschreitet die Tragfähigkeit des Planeten.
Fragen Sie sich, so setzt er diesen Gedanken praktisch um, fragen Sie sich doch einfach, was Sie für Ihr Überleben brauchen, wovon Sie am meisten abhängen, mit wem Sie wie leben können? Wessen Überleben von Ihnen abhängt? Gegen wen Sie werden kämpfen müssen? Welches Terrain würden Sie verteidigen? Was benötigen Sie für ihr Überleben und was würden Sie verteidigen, wenn es sein muss, mit Ihrem Leben?
Das klingt heroisch, aber es ist zunächst einmal didaktisch gemeint. Und es ist ein Forschungsprojekt, das jeder vornehmen kann: das Beschreiben der eigenen Welt. Latour greift auf etwas zurück, das auch aus der Französischen Revolution stammt: auf die Cahiers de Doléances, die Beschwerdebücher, die Ludwig XVI. im Land einsammeln ließ: Die Bürger sollten aufschreiben, was falsch läuft, was ungerecht ist, was sie bedroht. Und Latour weitet heute diesen Gedanken aus: "Wir fragen jetzt", so erzählt mir der Abkömmling von Weinbauern aus Burgund unter dem italienischen Sonnenschirm am Ufer der Spree , "wir fragen die Menschen ganz praktisch: Was ist der Raum, den Sie denken, wenn Sie Heimat denken? Was ist der Einzugsbereich dessen, was Sie brauchen, was ist der Raum, den Sie benötigen. So konkret gefragt, werden die Menschen merken, welches Territorium sie wirklich bewohnen: Es ist sehr viel weiter als nur lokal; sie sind mit vielen Orten verbunden, werden die Konservativen merken; das Leben ist sehr viel erdgebundener, als die nomadisierenden Progressiven es fühlen. Wenn man so denkt, werden die Fronten komplexer und die Zuschreibung der Feinde schwieriger. Die Heimat wird, wie soll ich sagen: fadenförmig, ein Netzwerk."
Ein Netzwerk, in dem die Dinge entstehen, die wir verbrauchen, ein Netzwerk der Orte, in die unsere Handlungen wirken, Orte, an denen wir leben, arbeiten, uns erholen. Und nun? Latour, ein freundlicher ruhiger Bonvivant mit buschigen grauen Augenbrauen, denkt eine Weile nach. Es bestürze ihn, dass es so schwer ist, neue Worte zu finden, mit denen wir uns in der neuen Weltlage nicht nur orientieren, sondern auch mit ihr einverstanden sein können. "Ich suche ständig nach einer Sprache, die nicht moralisch ist, aber uns die neue Situation anerkennen lässt. Man muss nicht sagen, die Migration ist wunderbar, um sie zu akzeptieren. Der da kommt, muss mir nicht sympathisch sein. Ich suche immer noch nach einem Ausdruck, der weder heißt, ich liebe es, noch, ich verabscheue es."
Die Lösung: "Heimat"
Dann lächelt er und sagt auf Französisch: "Heimat" und als Franzose sagt er es ohne "H", und er macht das übel beleumundete oder konservativ vergoldete Wort zu einem politischen Zielbegriff. Es gehe darum, die neue Heimat zu besiedeln. Ganz wörtlich müsse man vom Boden reden. "Wir stehen auf demselben Boden, der Klimaflüchtling, der aus dem Iran kommt, wo man demnächst die Hälfte des Bodens nicht mehr bestellen kann, und wir - die Produzenten von CO2 - wir stehen buchstäblich auf demselben Boden und er rutscht grade unter uns weg - hier wie dort. Was würde eigentlich geschehen, wenn Frau Merkel das gesagt hätte und nicht von der Schlange vor der Grenze geredet?"
Die ehemals Kolonisierten und die ehemals Kolonisierenden: Sie stehen vor der Aufgabe, denselben Raum gemeinsam zu besiedeln. Es ist ein entgifteter Konservatismus, kein butzenscheibenschollenmäßig rückwärtsgewandter blutgetränkter Heimatbegriff und auch nicht die utopische Heimat von Ernst Bloch, in der noch niemand war, sondern ein Plädoyer zur Kolonisierung, zur Kultivierung der Räume, in denen wir miteinander leben müssen. Ein Projekt.
"Das ist nicht einfach, es wird gefährlich, aber auch spannend", sagt Latour und macht sich auf zum nächsten Interview. "Ich bin nicht pessimistisch, wir leben in der Katastrophe, aber wir haben noch Wahlmöglichkeiten." "Europa", so hat er geschrieben, "ist klein genug, um sich nicht für die ganze Welt zu halten, und groß genug, um sich nicht auf ein Fleckchen Erde zu beschränken. Es ist reich, unglaublich reich, und seinen Reichtum verdankt es einem Boden, der nicht vollständig verwüstet wurde - zum Teil, wie bekannt, weil es den Boden der anderen besetzt und verwüstet hat."
In Paris hatte ich vor meinem Rückflug aus alter Gewohnheit noch in den Buchhandlungen im Quartier Latin gestöbert. Mitgenommen habe ich eine ungekürzte Ausgabe von Victor Hugos großem Buch über die romantische Rheinreise, die er 1840 machte, die mit einer Liebeserklärung an die Nachbarn im Osten endet und mit einem Bekenntnis zu Kerneuropa. "Hugo ist verrückt" - das riefen zehn Jahre später die rechten Abgeordneten, als der Dichter, den das Volk so liebte, von dem "großen Bauwerk der Zukunft" redete, das "dereinst die Vereinigten Staaten von Europa heißen wird".
Paris belebt mich, wie immer, es lädt meine utopischen Batterien auf. Das hat schon etwas mit seiner Schönheit zu tun, aber die wird leicht fragwürdig, wenn man das ganze Paris sieht und nicht nur das alte. Nein, es hat vor allem etwas zu tun mit dem, was in dieser Stadt gedacht und gehandelt worden ist, von der Encyclopédie über den Bastillesturm und die bürgerlichen Revolutionen bis in die Gegenwart. Vom globalisierten Garten des Albert Kahn mit seiner gärtnerischen Vielfalt und der Koexistenz von blühender Geometrie und geordnetem Wildwuchs über das große Pathos, zu dem die Intellektuellen dieses Landes sich immer noch gern aufschwingen, bis zur Fahrt in der Métro, in der, am Morgen der Fête de la Victoire die globale Vielfalt, die einzufangen Albert Kahn seine Fotografen um die Welt schicken musste, in einem Waggon versammelt ist: Araber, Libanesen, Chinesen, Spanierinnen, Japaner und Pariserinnen. Eine junge Massaifrau im grünblaugeblümten Kleid mit großen Ohrringen und ihre Tochter steigen zu; da steht das wohlgenährte, ältere Ehepaar aus Holland auf, damit die Kleine sich setzen kann. In solchen Augenblicken glaubt man an den Fortschritt, für einen Moment jedenfalls. Daran, dass wir die Sache mit der Atmosphäre und die andere mit der Migration auch so regeln könnten, wie wir es gelernt haben, den Zoll, den Flugverkehr, die Post und das Telegrafenwesen zu regeln, und in der U-Bahn den Schwächeren unseren Platz anzubieten.
Auf sechs Reisen sucht Mathias Greffrath nach dem, was die Europäer noch miteinander verbindet und macht eine fragmentarische Bestandsaufnahme. Gibt es ein gemeinsames kulturelles Erbe und nicht nur politisch ausbeutbare Identitäten? Wie steht es um die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die Europa geformt haben, und die wir - in verwandelter Form - in die Zukunft mitnehmen müssen? In diesem Fall als Handgepäck - unauffällige Gegenstände, die man einsteckt im Vorübergehen, als Merkzeichen, als Erinnerungen, als Fetische der Zukunft.