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Europäisches Handgepäck (7/7)
Erinnerungen und Zukunftswissen

Rumänien, Portugal, Ungarn, Polen, Dänemark, Frankreich: Sechs europäische Länder hat Mathias Greffrath bereist. Dabei suchte er nach dem gemeinsamen kulturellen Erbe Europas und dem, was die Europäer eint. Im letzten Teil der Reihe zieht er ein ernüchterndes Fazit.

Mathias Greffrath im Gespräch mit Barbara Schäfer |
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    Der Publizist Mathias Greffrath (imago/Horst Galuschka)
    Im Handgepäck nahm Mathias Greffrath unauffällige Gegenstände mit, eingesteckt im Vorübergehen, als Merkzeichen, als Erinnerungen, als Fetische der Zukunft. Wie steht es um die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die Europa geformt haben, und die wir - in verwandelter Form - in die Zukunft mitnehmen? In einem abschließenden Gespräch berichtet Greffrath über seine europäischen Erkenntnisse.

    Das Gespräch zum Nachlesen:
    Barbara Schäfer: Herr Greffrath, für die Sendereihe "Europäisches Handgepäck" haben Sie in den vergangenen Wochen sechs Reisen in ausgesuchte Länder Europas gemacht. Über jede Reise ist ein Essay entstanden, ein persönlicher Text, der von vielen Faktenrecherchen, aber auch von zufälligen Begegnungen lebt. Alle diese Essays sind online bei deutschlandfunk.de und in der Audiothek verfügbar für alle Hörerinnen und Hörer, die gern etwas nachhören wollen. Wir wollen heute ein wenig Bilanz ziehen aus diesen sechs Reisen. Sechs europäische Ziele hatten Sie gewählt, zuerst Rumänien, dann Portugal, Polen, Ungarn, Dänemark und zum Schluss Frankreich. In welchem dieser Länder waren Sie eigentlich zum ersten Mal?
    Mathias Greffrath: Ich war zum ersten Mal in Ungarn. Alle anderen waren zum Teil sehr lange her. Polen ist zehn Jahre her, Portugal ist 25 Jahre her und Rumänien ist auch zehn Jahre her. Also ich war im Grunde wie ein Mars-Reisender in vielen Ländern zum ersten Mal, denn es hat sich ja so viel verändert in diesen Ländern, dass man die Eindrücke von vor 15 Jahren mit denen von heute - da ist eine Riesenkluft dazwischen oder eine Riesenentwicklung dazwischen.
    Schäfer: Gab es auch ein Land, das Sie am allerbesten kannten?
    Greffrath: Von denen, die ich jetzt bereist habe, Frankreich, ganz klar.
    "Der Ansatz war: ‚Ich bin neugierig und ich weiß relativ wenig‘"
    Schäfer: "Europäisches Handgepäck", ein Titel, den Sie gewählt haben in Absprache mit mir als Redakteurin, aber es war Ihr Wunsch. So lautet die Sendereihe nun. Das heißt, Sie sind aber auch mit leichtem Gepäck gereist und Sie waren in allen Ländern nur sehr kurz, mussten sich also ziemlich genau vorbereiten auf die Ziele, die Sie ansteuern wollten, und Sie hatten auch immer vor Ort nur sehr kurz Zeit zur Verfügung, um sich ein Bild zu machen. Es war ja keine Korrespondentenreise in dem Sinne, sondern eine stichprobenartige und sehr persönliche Reise jeweils pro Land. Was hat Ihnen bei den Vorüberlegungen geholfen? Haben Sie etwa Vorbilder gehabt, literarische, um ein bestimmtes Europabild einzufangen?
    Greffrath: Ich würde sagen, die Form dieser Essays war im Grunde Reiseberichte, Reiseberichte, wie sie im 19. Jahrhundert von vielen Engländern geschrieben wurden, Bruce Chatwin im 20. Jahrhundert, oder, wie es der holländische Schriftsteller Mak gemacht hat, der eine Europareise gemacht hat vor zehn Jahren etwa durch alle Länder, wo er auch versucht hat, die Kulturen, die Geschichte und die politische Gegenwart miteinander zu verbinden. Im Grunde war der Ansatz, ich bin neugierig und ich weiß relativ wenig. Ich hab einen Zipfel von dem Land in der Hand, das sind zwei, drei Leute, von denen ich was weiß, oder das ist ein Museum oder es ist ein Gegenstand oder es ist ein Thema. Und da hangele ich mich dann so entlang und gucke mal, was der Zufall und das Nachdenken mir so bringt.
    "Europa ist gerade für die Jüngeren zur Selbstverständlichkeit geworden"
    Schäfer: Trotzdem stand am Anfang der Reisen auch eine sehr politische Frage, nämlich die, ob Europa noch eine Gestaltungsaufgabe in der Welt sucht, ob es sich selbst schon vielleicht zum alten Eisen zählt, was die großen Pläne und Hoffnungen der Menschheit angeht. Aber welche sind das? Freiheit, Glück, Wohlstand für alle? Wohin tendiert Ihre Erkenntnis nach diesen Reisen?
    Greffrath: Meine Erkenntnis ist eigentlich nicht sehr angenehm. Meine Erkenntnis ist, dass die große euphorische Begeisterung für Europa als kulturellen und politischen Raum im Wesentlichen doch eine Angelegenheit von Intellektuellen ist, während auf Ebene der Politik und auf Ebene der Massenstimmungen im Grunde die Nation nach wie vor die bestimmende Größe ist. Dass also wir sehr viel weiter weg von der Einheit auch mental von der Einheit Europas weg sind, als das noch vor 30, 40 Jahren der Fall gewesen ist, wo also meine Generation und vor allem die Generation meiner Eltern sogar noch im Grunde davon gelebt haben, dass dieses Europa zerrissen war, dass in diesem Europa Kriege geführt wurden, dass die Nationengrenzen sehr hoch waren, dass auch die Kulturen sehr unterschiedlich waren. Und diese erste Welle der Europa-Begeisterung, die getragen war von einem entschlossenen Friedenswillen, die ist vorbei. Europa ist gerade für die Jüngeren zur Selbstverständlichkeit geworden, sodass die ökonomischen, die sozialen Probleme, aber auch die kulturellen Differenzen jetzt im Grunde sehr viel freier spielen können, als das noch vor 30, 40 Jahren der Fall war. Und natürlich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist Europa größer geworden und das hat die europäische Einheit wirklich nicht einfacher gemacht.
    Ein Bauenpaar steht mit Heugabeln in den Händen vor mehreren Heuballen auf einem Feld
    In Rumänien leben immer noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung auf dem Land. (imago stock&people)
    Schäfer: Genau. Die europäische Einheit und Gemeinschaft auf der einen Seite, die europäische vielleicht kulturelle gemeinschaftliche Idee auf der anderen. Das hat Sie bewegt durch diese Reisen. In Rumänien, um nochmal ein paar Details abzufragen, in Rumänien, am Anfang Ihrer Reise werfen Sie einen strengen Blick auf den westlichen Zuschnitt der kapitalistischen Landreform durch die EU. Agrarland ist eines der Merkmale rumänischer Kultur. Was war Ihr Eindruck? Könnte Rumänien, das ja seit 2007 EU-Mitglied ist, aus seinem Agrarland quasi einen Unique Selling Point für eine kulturelle Idee einer europäischen Gemeinschaft machen zum Gewinn aller Staaten? Wir hatten am Anfang Fragen gestellt, genau was das betrifft. Gibt es einen anderen Weg in die Moderne als den Anschluss an das, was schon da ist?
    Greffrath: Na ja, das ist, muss ich sagen, deprimierend. Aber vielleicht hat es gar nicht anders kommen können. Die Transformation einer sozusagen Kolchosen-Agrarwirtschaft in eine ökosoziale Agrikultur, die hätte passieren können, wenn es in Rumänien so etwas wie einen gestaltenden und einen starken Staat gegeben hätte. Den hat es aber nicht gegeben. Ich habe nicht erwartet, dass sagen wir mal die Auflösung der kommunistischen Diktatur ein solches Vakuum an Staat hinterlassen hat, in das dann das westliche Agrarkapital einströmen konnte, sodass im Grunde zehn Jahre für die Gestaltung der Industriekultur, aber vor allen Dingen auch der Agrikultur des Landes verloren sind, sodass wir jetzt nicht das haben, was wir uns wünschen, nämlich so einen starken, bäuerlichen, auch großbäuerlichen Mittelstand, der, wie Sie sagen, aus der Tatsache, dass die Landwirtschaft und die Bevölkerung auf dem Lande in Rumänien außerordentlich groß noch ist - immer noch leben mehr als 50 Prozent der Leute auf dem Lande, da hätte man was draus machen können. Das Resultat ist im Grunde, abgesehen von einigen größeren und auch starken und erfreulichen ökologischen Nischen, die dann im Grunde so Edelprodukte für wohlhabendere Mittelschichten sowohl im Lande wie in Westeuropa produzieren, im Grunde die Sache sich polarisiert hat. Und da kann man sagen, da ist natürlich die Brüsseler - ich habe ja auch immer versucht, sozusagen die Sache auf Brüssel und auf die EU zu beziehen, ganz egal, wo ich war -, da hat natürlich die europäische Agrarpolitik, die die Fläche und nicht die Qualität honoriert, und zwar bis heute, schwerpunktmäßig jedenfalls, versagt.
    "In Polen und Ungarn müssen linke und liberale Opposition bestärkt werden"
    Schäfer: Dass die Zeit der Intellektuellen in Europa nicht wirklich groß ist, beweist auch Rumänien. Der erfolgreichste Gegenwartsautor Rumäniens, der Schriftsteller Mircea Cărtărescu hat diese Aussage auch schon getroffen: "Die Zeiten, in denen ein Intellektueller wirklich Macht hatte, sind vorbei. Einen Künstler hält man heutzutage eher für einen Experten. Er soll seinen Beruf ausüben und die Politik anderen überlassen." Der gleiche Mircea Cărtărescu hat auf der Buchmesse in Leipzig dieses Jahr berichtet, dass er die Bakschisch-Mentalität - ein alter orientalischer Brauch - für tief verankert in der DNS Rumäniens hält und eben damit auch in der politischen Kultur. Sie zählen in Ihrem Rumänien-Essay auf, wie viele Prozesse eine rumänische Staatsanwältin schon gegen die Korruption geführt hat. Für wie erfolgreich und nachhaltig schätzen Sie diese David-gegen-Goliath-Aktion ein?
    Greffrath: Ich glaube, das ist noch nicht entschieden, weil es gibt - das Erstaunliche ist in Rumänien, dass dieses an westeuropäischen Standards gemessene irrsinnig hohe Ausmaß an Korruption, dass das im ganzen Land diskutiert wird, dass jeder das weiß. Man weiß, dass Herr Dragnea erstens nicht Abgeordneter werden kann, weil er vorbestraft - das ist der Parteichef, im Grunde der mächtigste Mann im Land - nicht Politiker werden kann und nicht Parlamentarier werden kann, weil er vorbestraft ist, dass er jetzt gerade mal wieder angeklagt ist und sieben Jahre in den Knast gehen soll. Dass drei Minister und ein ehemaliger Ministerpräsident zu Gefängnisstrafen verurteilt worden sind, das ist alles bekannt. Es wird von einer sehr tapferen Staatsanwältin, Frau Kövesi, stark an dieser Struktur gearbeitet. Aber es ist ein Machtkampf im Grunde zwischen dieser machthabenden Partei, die dummerweise auch noch sozialdemokratisch heißt oder sich nennt, und dem Staatspräsidenten, dem Herrn Johannis, die bekämpfen sich da mit allen möglichen Tricks, mit juristischen Tricks, mit angedrohten Volksabstimmungen. Die Partie ist unentschieden, denke ich, und was sich die Rumänen, die, sagen wir mal jetzt die aufgeklärten Liberalen, nicht nur Intellektuellen, sondern auch Wirtschaftskreise wünschen, wäre doch eine stärkere Haltung, eine stärkere Unterstützung, eine noch stärkere Unterstützung - ein bisschen was passiert ja schon von Brüssel -, damit dort überhaupt erst mal so etwas entsteht wie ein gewaltengeteilter Staat, in dessen Strukturen sich dann die Wirtschaft und die Kultur entwickeln können.
    Schäfer: Mathias Greffrath, in der Sendereihe "Europäisches Handgepäck" waren die Reisen nach Polen und Ungarn offensichtlich die frustrierendsten. Die politischen Umwandlungen dort lassen großen Zweifel an einem gemeinsamen Europa, ganz egal, ob konservativ, sozialdemokratisch oder linksalternativ, trotz der die Demokratie gefährdenden Anschläge auf die Verfassung entwickeln Sie mit Ihren polnischen Gesprächspartnern schon eine Art Verständnis für die Abwendung von der europäischen Idee, ganz historisch begründet. Das sind aber doch gerade auch junge Menschen, die keinen Revanchismus pflegen, die Polen in Scharen verlassen, um in der EU zu arbeiten und zu leben. Für die wäre das das Schlimmste, wenn Polen nicht mehr Teil einer EU wäre. Sind das nicht eigentlich die Stimmen, die man einsammeln müsste, um eine Spur kulturellen europäischen Lebens zu erforschen?
    Greffrath: Es gibt einerseits diese sowohl aus Ungarn, da ist es eine Million, wie aus Polen, da ist es zwischen ein und zwei Millionen, und auch aus Rumänien fliehen ja gerade die Menschen, die gut ausgebildet sind, die diese Länder brauchen. Ich weiß nicht, ob man die - die verhalten sich ja im Grunde wie Marktteilnehmer. Die gehen in den Westen, weil sie - die gehen nicht alle aus politischen Gründen, das soll man sich nicht vormachen, sondern die gehen, weil sie im Westen zwei- bis dreimal so viel verdienen können, wenn sie Ingenieure sind, vielleicht vier- bis fünfmal so viel. Nein, ich denke, man muss in den Ländern selbst die liberale Opposition, die linke und die liberale Opposition bestärken. Denn die sind, in Ungarn habe ich das erlebt, in einem Maße deprimiert und fühlen sich auch alleingelassen, weil die Art und Weise, wie Brüssel, aber auch vor allem die westlichen Staatslenker mit diesen - autoritären wäre das Mindeste, mit diesen stark autoritären Regimen umgeht, da fühlen die sich wirklich alleingelassen und in der Wüste stehen geblieben. Ich denke, diese Kräfte müsste man stärken. Da braucht man wahrscheinlich sehr viel Fantasie, weil sowohl Orbán wie auch Kaczyiński und seine Partei auf Interventionen aus dem Westen allergisch reagieren. Und das haben wir in Ungarn gesehen mit dem Verbot oder dem Quasi-Verbot oder mit dem Niedermachen von Institutionen wie der Central European University oder von NGOs, die jetzt auf einmal Steuern zahlen müssen und dadurch kaputt gehen, oder der Zerstörung der Zeitungs- und Medienöffentlichkeit...also da braucht man sehr viel Diplomatie. Und Sie haben es gesagt, ich habe eben Verständnis entwickelt. Ich habe auch im Grunde Verständnis entwickelt für die Art von Konservatismus, in Polen mehr als in Ungarn. Mir hat die große Soziologin Ágnes Heller in Budapest gesagt, in Warschau, das ist das Mittelalter. Die glauben daran. Die wollen eine katholisch-konservative Komponente für sich bewahren und im Grunde Europa noch mal rechristianisieren, so wie es der jetzige Ministerpräsident sagt, während in Ungarn, sagt sie, das sind die Räuber. Das heißt, die Aneignung von Staatseigentum in Ungarn ist eine durch und durch parteikorrupte. Da entsteht so eine Art von Feudalismus. Herr Orbán gibt Lehen an seine Untertanen und an seine Hauptleute aus. Die kriegen dann irgendwelche Schlösser und Weingüter und sonst was und halten das Land bei der Stange. Während in Polen ist sehr viel stärker das Missionarische da. Und da muss ich sagen, im Grunde muss man natürlich diesen christlichen Konservatismus, der auf Familie und auf Tradition setzt, den kann man nicht frontal angehen sozusagen mit westlich-individualistischer Kritik. Man muss den schon ernst nehmen. Das ist im Grunde so ein bisschen wie die Auseinandersetzung zwischen säkularem Denken und religiösem Denken. Wenn da nicht von beiden Seiten irgendeine Art von Toleranz herrscht, dann wird es schlimm und dann läuft es auf Spaltung hinaus. Andererseits können sich die Polen die Spaltung nicht leisten, deshalb werden sie dann aggressiv reagieren. Also wir haben noch nicht die … Eine europäische Sprache für eine politische und soziale Einheit von Nationen, deren kulturelle Wertmuster sehr unterschiedlich sind. Und es geht, glaube ich, nicht, dass wir die jetzt sozusagen westlich-individualistisch kolonisieren. Wir können allerdings auch nicht akzeptieren, was die da mit der Demokratie veranstalten.
    Portugal: "Es öffnet einem das politische Herz"
    Schäfer: Der Philosoph Slavoj Žižek sagt, im 20. Jahrhundert seien alle Bewegungen zu schnell vorangeschritten, jetzt bekämen wir die Quittung mit lauter rückwärtsgewandter Kraft und Macht. Ihre Erkenntnisse von den Reisen durch Polen und Ungarn sind ja keine anderen. In Polen und Ungarn sind die Verhältnisse rückwärtsgewandt, nationalistisch und machtvoll. Welche Quittung für welche Bewegung ist das, gar nicht unbedingt nur angewendet auf diese beiden Länder?
    Greffrath: Es ist mindestens eine doppelte Quittung. Es ist die Quittung auf 50 oder noch mehr Jahre Diktaturerfahrung, die diese Länder eben ohne so eine gelernte Demokratie - ich meine, wir haben ja nach '45 auch ein paar Jahrzehnte gebraucht, um uns bestimmte Formen anzueignen und zu sehen, dass bestimmte Sachen eben nicht gemacht werden können in einer Demokratie. Das ist das Erste. Die zweite Hypothek ist neueren Ursprungs. Das ist die unkontrollierte und politisch nicht regulierte Öffnung der Märkte, die dazu geführt hat, dass die Hoffnung in Polen - nun war ich nicht in der Tschechoslowakei, aber auch dort, gerade in den avancierteren und industriell avancierteren mittel- und osteuropäischen Ländern die Hoffnung, dass sich da irgendwie etwas wie ein starker bürgerlicher Mittelstand nach dieser Diktaturphase entwickeln könnte, die ist natürlich durch die Invasion von, was weiß ich, von Volkswagen bis Aldi und darüber hinaus und auch von vielen kleinen Firmen, ist die im Grunde zerstört worden.
    Schäfer: Mittelschicht - in Portugal beobachteten Sie eine frustrierte Mittelschicht, aber auch eine zarte linke Bewegung im Parlament. Übrigens, unseren Hörerinnen und Hörern, die sowohl auf Podcast hören als auch lineares Radio hören, sehr positiv geantwortet haben zu dieser Reihe, gefällt die Portugal-Sendung insbesondere, weil es mal ein positives Politikerinnenporträt darin gibt. Noch einmal Slavoj Žižek. Der sagte vor Kurzem: "Wir brauchen keine linken Theorien mehr, wir brauchen Menschen, die für links eintreten." Haben Sie die in Portugal gefunden?
    Greffrath: Ja. Wir brauchen vielleicht sowieso nicht mehr so viel Theorie. Theoretisch haben wir alles ziemlich gut durchdacht. Es braucht jetzt Menschen, die die Ideen nach vorn bringen. Und Portugal, da geht einem wirklich das Herz auf, und zwar doppelt. Einmal, weil es dort gelungen ist, eine politische Konstellation herzustellen, nämlich die Duldung einer links- oder einer gar nicht mal so linken, einer normalen sozialdemokratischen Partei durch Kommunisten und durch eine linksökologische Partei, das ist dieser Bloco Esquerda, und die konnten sich in dieser Konstellation eben als geduldete Minderheitsregierung der Umarmung durch die Troika entziehen, haben alles anders gemacht, als die Troika ihnen oktroyieren wollte, und haben dadurch erstaunlicherweise wieder Wachstum produziert und arbeiten sich jetzt so allmählich aus der Krise heraus. Das ist das eine, wo man sagt, huh, da gibt es ja doch noch eine sozialdemokratische Möglichkeit in Europa, wenn auch in dem kleinen, kleinen, kleinen Land ganz im Westen, kurz vorm Atlantik. Und das andere ist, diese Partei ist eben wirklich eine feministische Partei. Nicht ideologisch, sondern weil die Frauen in ihr eine ganz starke Rolle spielen. Die Frontfrau, die Catarina Martins, und die Zwillinge Motagua, die im Parlament sitzen. 30 Jahre alt, aber von einer enormen Ernsthaftigkeit und, was, denke ich, auch ein großer Erfolg ist, eigentlich eine linksradikale Partei, die aber sich sozusagen spalten kann. Die kann sagen, was die Sozialdemokraten, die jetzt an der Regierung sind und die wir stützen, was die machen, das ist nicht unsere Politik. Wir würden ganz was anderes machen, aber das ist im Augenblick in Europa nicht drin und deshalb stützen wir diese Partei, die wenigstens kleine Schritte macht. Und beides zusammen, würde ich sagen, ist ein erfrischend - "erfrischend" klingt so altväterlich, aber es ist eine - es öffnet einem das politische Herz.
    Die Vorsitzende der Partei Bloco de Esquarda, Catarina Martins, steht an einem Rednerpult.
    Catarina Martins, Vorsitzende der Partei Bloco de Esquerda (EPA/PEDRO NUNES)
    Schäfer:Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist Gründerin des European Democracy Lab und sie vertritt die These, dass der Nationalstaat in Europa verschwinden und vernetzte europäische Regionen sich unter einem gemeinsamen republikanischen Dach bilden müssten. Auf welche Realitäten sind Sie gestoßen bei Ihren sechs Reisen, die einen solchen Gedanken tatsächlich stützen könnten?
    Greffrath: Ehrlich gesagt auf keine. Diese Idee einer europäischen Republik, die ja nicht so neu ist - Victor Hugo hat sie 1848 zum ersten Mal ins Gespräch gebracht, woraufhin seine Kollegen im Parlament sagten, Hugo ist verrückt geworden. Ich hab es ja am Anfang schon gesagt, es ist, glaube ich, eine schöne Idee, eine große Idee, aber eine, die im Wesentlichen von Intellektuellen geteilt wird, während gerade durch die Jahre der Krise und durch die Erfahrungen der Krise und durch die ökologisch‑ökonomischen Rückschläge, auch die ökologischen übrigens Rückschläge der letzten zehn Jahre sagen sich die Bürger der Nationalstaaten, das Einzige, was uns schützen kann gegen ein neoliberales Europa, das Einzige, das uns schützen kann gegen einen destruktiven Sozialtransfer oder gegen dieses Rennen nach unten, was die Löhne angeht und was die Sozialstandards angeht, ist der Nationalstaat, weil nur der Nationalstaat Gesetze machen kann. Und deshalb ist der Nationalstaat sozusagen unsere Abwehrbarriere gegen zu viel Falsches, zu viel Neoliberales, zu viel nur ökonomisches Europa.
    Abwehr der Migration vereint die Länder
    Schäfer: Zu allerletzt besuchten Sie für das "Europäische Handgepäck", die Essayserie hier im Deutschlandfunk, Paris, Ihr persönliches europäisches Zentrum. Es ist das Macron-Frankreich, das Sie besuchten und befragt haben wenige Tage, nachdem in Aachen der Karlspreis an Emmanuel Macron verliehen wurde, das Land, der Staat, von dem auf politischer Ebene ein europäischer Funke ausgeht. Aber Sie suchten ja gar nicht nach einer politischen Idee oder gar Lösung, Sie suchten nach einer Zukunft, einer kulturellen Idee. Ist das also doch eine Täuschung, ein Mythos, dem wir da hinterherlaufen?
    Greffrath: Nein, ich glaube, die kulturelle Idee, die ist da. Die ist im Grunde so selbstverständlich geworden inzwischen, und zwar sowohl auf dem hochkulturellen Sektor - ich meine, die hochkulturellen Eliten Europas, die waren immer gesamteuropäisch, und die kulturellen Eliten Osteuropas, die waren immer westeuropäisch, und die Westeuropäer haben auch Dostojewski gelesen. Also auf der Ebene haben wir Europa ja schon lange. Nur, das ist sozusagen for the happy few, für die wenigen, die es sich leisten können und die ausgebildet sind für kulturelle Genüsse, will ich mal sagen. Das ist das eine. Das andere ist, auf einer populärkulturellen Ebene sind wir, ich sag‘ nur zwei Stichworte, Europa-Cup und European Song Contest und Euro-Rail und Urlaub in Italien und in Skandinavien und freie Beweglichkeit, da ist dieses Europa sozusagen auch selbstverständlich geworden. Die Unterschiede, die Differenzen und auch die Konflikte entstehen einzig und allein - einzig und allein heißt natürlich viel - im sozialen und im ökonomischen Bereich. Und da geht es darum, denke ich, Ideen zu entwickeln des Wohlstandsausgleichs vor allen Dingen zwischen Nordeuropa, zwischen den produktiven Ländern und der Peripherie im Osten und im Süden. Auf die Dauer werden diese Nationen oder diese Völker oder auch diese Bürger es sich nicht gefallen lassen, dass sie nur die Zulieferer sind für Konzerne wie Volkswagen oder so. Das ist das eine. Und das andere ist, das ist im Grunde die deprimierendste Erkenntnis, dass in allen Ländern ausnahmslos das einzige Thema, wo man sagen kann, das vereint diese Länder untereinander, ist die Abwehr der Migration. Das ist überall das große Thema und ich fürchte, dass die nächste Runde der europäischen Einheit, der Herstellung von gemeinsamen Strukturen eine sein wird, die der Abwehr von afrikanischer Migration gilt. Und da kann man nur sagen, da sind wir ein bisschen in so einer Falle, in so einem Catch 22.
    Die Finalisten des ESC stehen nach dem nach dem zweiten Halbfinale auf der Bühne und jubeln.
    Auf der kulturellen Ebene, zum Beispiel in Form des European Song Contest, haben wir Europa schon lange, sagt Publizist Mathias Greffrath. (dpa / Armando Franca)
    "Dänemarks gesamtes Sozialsystem hängt an der Vollbeschäftigung zu hohen Löhnen"
    Schäfer: Genau. Eine der - Stichwort "Ideen" -, eine der Macron-Ideen heißt Vorankommen wird die EU nur, wenn alle einbezogen werden, wenn alle mitreden dürfen. Ihr Dänemark‑Besuch beschreibt das kulturelle Verständnis von Bibliotheken, das soziale von Alters- und Demenzheimen, aber auch Dänemarks Selbstverständnis der Abgrenzung. Welches Europa sehen Sie jetzt abschließend als sinnvollstes gemeinschaftliches Zukunftsmodell? Eines, das sagt, Gemeinschaft braucht Grenzen, wie in Dänemark?
    Greffrath: Gemeinschaft braucht, zumindest, wenn man Gemeinschaft in diesem soziologischen Sinne auch versteht, nämlich von selbstverständlichen Gemeinsamkeiten, Gemeinschaft braucht Grenzen oder Gemeinschaft kann es auf jeden Fall nicht vertragen, wenn Grenzen unkontrolliert geöffnet werden und wenn, - und das hat sich in Dänemark gezeigt - das ist ja nicht Rassismus in Dänemark, dass die was gegen eine unkontrollierte Zuwanderung haben, sondern das gesamte Sozialsystem in Dänemark, das vorbildlich ist, wo ich sagen würde, können wir immer noch was von lernen, wie da die Pflege zum Beispiel organisiert ist. Dieses gesamte Sozialsystem hängt an der Tatsache der Vollbeschäftigung zu hohen Löhnen. Und wenn jetzt, sagen wir mal, in größerem Umfang unqualifizierte Menschen, die nicht in den Arbeitsprozess zu integrieren sind, entweder, weil die Arbeitsplätze nicht da sind, oder weil sie einfach nicht qualifiziert sind oder die Sprache nicht sprechen, wenn die das System belasten, dann gibt es ein Problem bei den anderen, was nicht notwendigerweise und sicherlich nicht ausschließlich, vielleicht gar nicht mal so sehr in Dänemark rassistisch ist, sondern einfach heißt, dann funktioniert unsere Gemeinschaft nicht mehr, wenn das jetzt so schnell passiert. Und da sehe ich keine andere Möglichkeit, als dass es europäische Regularien gibt, und zwar möglichst nicht solche, die im Grunde auch von Dänemark gerade diskutiert werden, nämlich dass wir doch möglichst irgendwelchen großen Lager in Nordafrika oder noch weiter im Süden einrichten, wo die Leute von da aus dann ihren Asylantrag stellen können. Das kann nicht die Lösung sein, aber ich sag es ehrlich: Ich habe auf diesen Reisen keine Lösung für dieses Migrationsproblem selbst gefunden. Da müssten die großen Geister und die großen Politiker dieses Kontinents sich noch was einfallen lassen.
    "Wir sind Europäer und wir sind Nation"
    Schäfer: Und ja nicht nur die afrikanischen Flüchtlinge, sondern auch Kriegsflüchtlinge aus Krisengebieten. Auseinanderstrebende politische Vorstellungen, aber bündelnde Wirtschaftskraft? Das sind immer wieder die treibenden Kräfte in Europa, die wir beobachten. Eine bündelnde Kraft ist auch der technologische Fortschritt. Immer wieder wird ja Europa als viel zu sehr in die Renaissance der Nationalstaaten verkämpft, zu viele alte Menschen, zu wenig junge Bevölkerung und damit auch technologisch völlig im Hintertreffen, von der Digitalisierung abgehängt. Digitalisierung ist eine riesige Aufgabe, kulturelle Aufgabe auch, die besonders in den Staaten mit junger Bevölkerung, zum Beispiel dem Baltikum gut funktioniert. Dort waren Sie nicht. Aber halten Sie eine junge, erfinderische, den globalen Geschwindigkeiten angemessene Avantgarde ebenso für erforderlich für Europas Rettung, wie das so manche Politiker tun, nach dem, was Sie auf den sechs Reisen erlebt haben?
    Greffrath: Ja, ich würde sogar noch weiter gehen. Ich würde sagen, die große Chance - jetzt hole ich mal einen Satz aus -, die große Chance, die uns diese Wahnsinnspolitik von Trump, der alle globalen Strukturen gerade zerhaut, bietet, wäre es, dieses Europa auch technologisch unabhängig zu machen. Also ich träume im Grunde davon, dass die EU mit Frankreich und Deutschland an der Spitze, sagt, wir brauchen jetzt 10.000 IT-Ingenieure, die uns… europäische Googles und europäische Facebooks und europäische Übersetzungsautomaten - also ich träume zum Beispiel davon, dass es endlich mal eine Übersetzungssoftware gibt, die mir Portugiesisch in Lettisch übersetzt, ohne dass ich das Gefühl habe, ich hab‘ eine koreanische Gebrauchsanweisung für meinen Kühlschrank in der Hand. Also im Grunde…gerade dieser Angriff auf Europa wäre eine ungeheure Chance, aber da müsste man natürlich doch eine mindestens dreistellige, hohe dreistellige Milliarden-Euro-Summe in Bewegung setzen. Und da ist es im Augenblick leider, leider die große Diskrepanz zu meiner Enttäuschung, dass - sicher, Macron besteht im Wesentlichen aus Worten und Projekten, wie mir in Paris mein Gesprächspartner sagte, er liefert schöne Dissertationen ab. Aber ohne dass aus Deutschland irgendeine Art von Echo kommt auf dieses "Wir müssen mehr Europa machen und wir müssen Europa modernisieren und wir müssen die europäischen Werte in die Zukunft tragen, ohne dass Deutschland sich da mit seiner ganzen ökonomischen Macht dahinterklemmt", wird der Herr Macron letztlich irgendwann allein stehen und wirklich Dissertationen von der Barrikade wehen lassen.
    Schäfer: "So möchte ich nicht enden." Das sage nicht ich, das sagen Sie fast am Ende jedes Ihrer Essays in dieser sechsteiligen Reihe. Eine wiederkehrende Formulierung, die so negativ wie positiv gedacht ist. Eigentlich hat man das Gefühl, die europäischen Länder müssten nur alle beieinander in die Lehre gehen, bei den jeweils anderen in die Lehre gehen und dann würden sie viel voneinander lernen. Das ist doch aber eigentlich auch die Aufgabe des Europäischen Parlaments und der ganzen europäischen Städtepartnerschaften, die es gibt. Haben Sie einen positiven Gedanken ausgemacht einer europäischen Idee, auch auf einer theoretischen Ebene? Gibt es noch Aufklärung, Orte der Reflexion, die alle teilen können?
    Greffrath: Es gibt diese Idee, das kam aus dem Munde von Cărtărescu, dem großen rumänischen Schriftsteller, der sagt, im Grunde müssen wir lernen. Und da passt Macron wieder sehr gut dazu, der sagt, im Grunde muss jeder junge Europäer ein halbes Jahr in ein Land, wo eine andere Sprache gesprochen wird als die, die er spricht. Und Cărtărescu sagt, wir müssen im Grunde lernen, als Europäer eine doppelte, auch politisch eine doppelte Identität zu haben. Wir sind Europäer, wenn wir den Wohlstand, die europäischen Werte, die Demokratie verteidigen und ausbauen wollen, einerseits. Und wir sind Nation - ich will nicht sagen, Nationalisten, aber wir sind eine Nation, wenn es darum geht, uns zu wehren gegen Zumutungen von zu viel und zu schneller ökonomischer und liberaler Globalisierung, und wir sind nationengebunden in unserer Nationalkultur, in unseren Sitten, in unserer Art, Bücher zu lesen oder Medien zu benutzen. Das wollen wir nicht aufgeben, sondern die Stärke ist im Grunde dieses Europa, die Vielfalt. Aber die kulturelle Vielfalt zu bewahren auf der Ebene einer integrierten Ökonomie, in der es nicht ohne Transfer von den Reichen zu den ärmeren Ländern abgehen wird. Das ist das große Kunststück. Und die Staatsmänner, -frauen, die das in die Hand nehmen können, die sehe ich leider bis auf die Rhethorik von Macron eben im Augenblick noch nicht.
    Schäfer: Mathias Greffrath, Autor der Sendereihe "Europäisches Handgepäck", vielen Dank für dieses Gespräch!