Einmal im Monat steht Straßburg vor der Invasion der Rollkoffer. Rund 4000 Menschen fallen ins Elsaß ein, wenn das Europäische Parlament seine Sitzungswoche abhält. Viele Versuche hat es in der Vergangenheit gegeben, mit dieser historisch bedingten Tradition zu brechen. Heute nun wird es einen neuen Anlauf im Parlament geben, der aber deutlich vielversprechender sei, meint einer der Initiatoren der Entschließung, der Grünen-Abgeordnete Gerald Häfner: "Das Parlament hat immer an dieser Tür gerüttelt und wollte nicht mehr zwischen Straßburg und Brüssel pendeln, aber die Tür war fest verschlossen und das Parlament hatte keinen Schlüssel. Jetzt ist es uns gelungen, den Schlüssel zu finden. Wir diskutieren darüber, dass das Parlament als gewählte Vertretung von 500 Millionen Bürgern in Europa selbst entscheiden muss, wann und wo es tagt."
Es geht also um das eigene Selbstbestimmungsrecht. Das könnte ein cleverer Schachzug sein, denn bislang muss der Rat einstimmig über eine Standortreform entscheiden. Frankreich aber würde sich hier immer querlegen.
Jetzt aber, sagt der Sozialdemokrat Jo Leinen, werde die Standortfrage gar nicht gestellt: "Wir haben nicht gesagt, wohin das Parlament seinen Arbeitsort verlegt, sondern dass es selbst entscheiden darf und nicht die Staats- und Regierungschefs entscheiden, wo das EU-Parlament arbeitet. Das ist der Unterschied, um eine große Mehrheit zu bekommen, denn die Frage, Brüssel oder Straßburg, ist in der Resolution offengelassen."
Selbst der größten Parteifamilie im Haus, den europäischen Christdemokraten mit einem französischen Fraktionschef, wurde die Entscheidung heute freigestellt. Viele, so der CDU-Abgeordnete Herbert Reul, könnten die Resolution auch mittragen: "Wir haben uns nur darauf verständigt, dass wir selber entscheiden wollen. Und dass wir nur einen einzigen Standort wollen. Und dann müssen wir weitersehen, es würde viele überfordern, wenn wir jetzt einen Streit Straßburg oder Brüssel vom Zaun brechen würden."
Eine kluge Entscheidung ist gefragt
Selbst bei den französischen Abgeordneten gibt es inzwischen eine zaghafte Debatte über den zeitaufwendigen wie teuren Reisezirkus zwischen Brüssel und Strassburg, sagt die Französin Sylvie Goulard von den europäischen Liberalen. Auch wenn die Vorbehalte weiter überwiegen: "Eine überwiegende Mehrheit meiner Kollegen hat nicht den Mut zu sagen, wir müssen eine kluge Entscheidung treffen. Und eine ausgewogene. Wir werden sofort als Nestbeschmutzer betrachtet oder karikiert. Ich bin persönlich auf der Seite der Bewegung, ich glaube wir müssen aus dieser Sackgasse rauskommen, mit einer Lösung, die von allen akzeptiert sein kann."
Heute soll aber ohnehin erst ein Mal ein politisches Signal gesetzt werden. Danach ist der Rat gefragt – er muss sich zum Anspruch des Parlaments auf ein größeres Selbstbestimmungsrecht positionieren und den Vorstoß, so der Grünen-Abgeordnete Häfner, unterstützen. Der dann bei einer anstehenden Vertragsänderung festgeschrieben werden müsste, so der Plan: "Wir haben auch in anderen Fragen Notwendigkeit, die Verträge weiterzuentwickeln. Nach diesen eiligen Feuerwehrmaßnahmen zur Überwindung der Schuldenkrise gilt es, die Architektur Europas neu und dauerhaft zu bauen. Das Parlament wird jetzt die Frage des Selbstbestimmungsrechts des Parlaments neu auf den Tisch legen, in einem Konvent, in dem über Vertragsänderungen entschieden wird, voraussichtlich 2015."
Wobei allen bewusst ist: Der Weg dorthin ist voller Unwägbarkeiten und Risiken. Und Straßburg müsste als ein historisch gewachsenes Symbol für Europa auch immer eine Kompensation erhalten, sollte der Parlamentssitz eines Tages wegfallen. In jedem Fall aber, betont auch die Französin Goulard, müssten sich jetzt selbst die Traditionalisten bewegen: "Entweder versuchen wir in Europa gute Lösungen gemeinsam zu finden, oder sind wir in kleinkarierten, altmodischen, nationalen Kriegen."