Leyla Yunus sitzt unter anderem wegen Kritik an den Europaspielen seit fast einem Jahr im Gefängnis. Ihre Tochter Dinara lebt wegen der Menschenrechtsituation in Aserbaidschan schon länger in der Niederlanden und setzt sich dort für die Freilassung ihrer Mutter ein. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk sagte sie:
"Ich würde meine Mutter und meinen Vater 'Gefangene der Europaspiele' nennen. Denn bevor meine Mutter inhaftiert wurde, hat sie dem Präsidenten des Europäischen Olympischen Komitees, Patrick Hickey, einen offenen Brief geschrieben, in dem sie betont hat, dass autoritäre Länder nicht für solche Spiele gemacht sind. In ihrem Brief beschreibt sie Schritt für Schritt Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan. Sie spricht darin auch von politischen Gefangenen. In der Olympischen Charta ist ja von Menschenrechten und Frieden zu lesen. Wenn das Europäische Olympische Komitee also Spiele in einem Land wie Aserbaidschan ausrichtet, bricht es mit seinen eigenen Prinzipien. Auch das hat meine Mutter in ihrem Brief geschrieben. Kurz nachdem sie ihn abgeschickt hatte, wurde sie inhaftiert – und kurz darauf kam dann auch mein Vater in Arrest."
Sie vermuten also eine direkte Verbindung zu dem kritischen Brief ihrer Mutter an das EOC und ihrer Haft?
"Ja. Ich sehe diese Verbindung. Meine Mutter ist aber natürlich auch wegen ihrem generellen Einsatz für Menschenrechte im Gefängnis. Sie hat sich hauptsächlich politisch Gefangenen gewidmet und eine Liste ihrer Namen erstellt. Als die Behörden sagten, es gebe keine politisch Gefangenen, hat sie ihnen diese Liste entgegengehalten. Ja, und dann war da halt dieser Brief an das Europäische Olympische Komitee."
Welche Reaktion hätten Sie sich erhofft vom EOC auf den Brief ihrer Mutter?
"Das EOC hätte wenigstens antworten können. Aber sie haben weiter geschwiegen. Ich habe den Präsidenten Herrn Hickey oder seine Stellvertreter jedenfalls nicht über die Menschenrechtssituation in Aserbaidschan reden hören. Stattdessen war Herr Hickey mehrmals in Aserbaidschan und hat über die die schönen Seiten der Europaspiele gesprochen. Ich denke, die richtige Reaktion wäre gewesen, darauf zu bestehen, dass meine Eltern und andere politisch Inhaftierte vor den Spielen freigelassen werden."
Denken Sie generell, dass Sportorganisationen, Sportverbände zu still, sich zu sehr zurückhalten, was die Menschenrechtssituation in ihrem Land angeht?
"Sie sollten jedenfalls nicht so still sein. Denn beispielsweise das Europäische Olympische Komitee hat eine gewichtige Stimme, es ist eine große Institution, es kann Veränderung bewirken. Und wie gesagt: Die olympische Charta spricht von Frieden und Menschenrechten. Wissen Sie: Für die Menschen in Aserbaidschan geht es mit den Spielen um ihren Alltag, ihr Leben: um Redefreiheit, Versammlungsfreiheit – um ein freies Leben."
Sportorganisationen sagen gerne, dass ihr politischer Einfluss beschränkt ist uns das Politik auch nicht ihre Aufgabe sind. Gleichzeitig behaupten die Verbände, Veranstaltungen wie die Europaspiele seien gut, weil sie Diskussionen in Gang setzen über die Situation in den Gastgeberländern. Für Sie persönlich muss sich das anhören wie ein schlechter Witz?
"In der Tat. Natürlich bringt so eine Veranstaltung viel Aufmerksamkeit in den Medien. Aber: Trotzdem sollte in diesem Fall auch das Europäische Olympische Komitee ein Teil der Diskussion sein, sich einmischen. Ich lese daraus, dass Verbände aus der Geschichte nichts lernen. 1936 haben sie die Olympischen Spiele nach Berlin und auch danach an autoritäre Staaten vergeben. Und jetzt machen sie die Europaspiele in Aserbaidschan."
Haben Sie denn das Gefühl, dass diese mediale Aufmerksamkeit, dieses Schlaglicht auf Aserbaidschan, ihren Eltern, die ja in Haft sitzen, wirklich irgendwie helfen kann?
"Ich glaube daran, dass – solange es nicht wieder still wird – meine Eltern und andere Gefangene ihre Freiheit zurückbekommen können. Ich glaube sogar, dass die Europaspiele die letzte Chance sind für meine Eltern, noch mal in Freiheit zu kommen. Jetzt sind sie eingesperrt – und sie, so wie es jetzt aussieht, im Gefängnis sterben. Ihre gesundheitliche Situation ist sehr schlecht."
Der Fall ihrer Familie ist ja sehr bekannt – auch Sportverbände könnten davon wissen – und ganz theoretisch hätten die Verbände ja auch die Möglichkeit, ihnen anderweitig Hilfe anzubieten, jenseits des offiziellen Weges. Gab es denn mal ein Hilfsangebot, dass von Sportorganisationen direkt an ihre Familie herangetragen wurde?
"Nein, ich habe bis jetzt keine direkte Hilfe erhalten. Aber: Ich habe mich mit dem Olympischen Komitee der Niederlande getroffen. Sie haben auf ihrer Internetseite den Link online gestellt zu der Petition von Amnesty International, die die Freilassung aller politisch Gefangenen fordert. Nach meinen Informationen haben sie auch mit dem aserbaidschanischen Botschafter über die Menschenrechtslage gesprochen."
Kennen Sie das Ergebnis?
"Nein, das kenne ich nicht. Aber ich weiß, dass die aserbaidschanischen Behörden natürlich immer ihre eigene Version der Geschichte haben. Und die lautet: In unserem Land ist alles in Ordnung."
Hier in Deutschland hat vor ein paar Tagen der Athletensprecher die Freilassung aller politisch Gefangener gefordert – allerdings wohl erst auf Nachfrage einer Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen. Glauben Sie, dass solche Schritte von Athletenseite helfen können?
"Das ist ein großer Schritt – und ich denke generell, dass es mehr und mehr Athleten geben sollte, die sich solchen Forderungen anschließen."
Andererseits ist so etwas auch leicht gesagt. Es sind Worte, keine Taten. Erhoffen Sie sich, dass Athleten während der Spiele auch mal ein Zeichen setzen?
"Ja, ich denke, die Sportsmänner sollten während der Spiele aus Worten Taten machen. Ich erwarte von ihnen, dass sie die Menschenrechtssituation ansprechen. Ich erwarte, dass sie Zeichen für die Freilassung politischer Gefangener setzen – bei meinen Eltern aus humanitären Gründen fordern, wegen ihrer schlechten gesundheitlichen Situation. Sie könnten beispielsweise T-Shirts tragen - mit den Konterfeis der Gefangenen oder mit einem Schriftzug, der Freiheit fordert. Wann immer sie eine Medaille gewinnen, haben sie die Möglichkeit ihre Stimme zu erheben – und das sollten sie tun."
Sie und ihre Familie stecken in einer sehr schwierigen Situation. So wie andere Aktivisten auch. Trotzdem werden am Freitag die Europaspiele losegehen – und die aserbaidschanische Herrscherfamilie und wahrscheinlich auch das Europäische Olympische Komitee werden versuchen, Bilder einer Party, eines Sportfestes um die Welt zu schicken. Diese Bilder werden vielleicht auch in den Niederlanden ankommen, wo sie ja leben. Wie werden sie damit umgehen?
"Sie haben es gerade ein Fest genannt. Für mich klingt das erschreckend. Meine Mutter hat Hepatitis C und sie könnte hinter Gitterstäben sterben. Wie kann es eine Party geben, wenn so viele politisch Gefangene in Haft sind? Wie können Sportler unter diesen Umständen ihren Sport genießen? Ich denke, dass das EOC immer noch die Möglichkeit hat, Bedenken wegen der Menschenrechtssituation in Aserbaidschan zum Ausdruck zu bringen. Und EOC-Präsident Patrick Hickey kann immer noch wenigstens eine Freilassung aus humanitären Gründen fordern. Die Europaspiele sollten eigentlich Spaß und ein Lächeln in ein Land bringen, nicht Tränen und Unterdrückung. Aber Tränen und Unterdrückung – das sind die Baku-Spiele 2015."
Das vollständige Gespräch können Sie bis mindestens 07. Dezember 2015 nachhören.