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Evolution
Die Entstehung genetischer Vielfalt

Die genetische Vielfalt ist eine Art Rohstoff der Evolution: Sie bringt neue neue Varianten hervor, von denen die erfolgreichsten überleben. Genetische Vielfalt entsteht dabei auch in kleinen Populationen, wie sich am Beispiel von Seeelefanten zeigt.

Von Volkart Wildermuth |
    Ein Seeelefanten-Bulle verteidigt lautstark sein Revier. Mit bis zu vier Tonnen Gewicht ist der südliche Seeelefant die größte aller lebenden Robbenarten. Seine Heimat sind die Inseln rund um die Antarktis. Auf den kalten Kontinent selbst kommen die Seeelefanten höchstens zu Besuch. Das war früher anders, wie der Genetiker und Ökologe Mark de Bruyn nachweisen konnte. Er selbst forscht an der Universität im englischen Bangor, ist nie in der Antarktis gewesen. Aber er hat Proben untersucht, die die Geologin Brenda Hall von einer Expedition ins Eis mitgebracht hat:
    "Brenda Hall hat 300 Kilometer Küste am antarktischen Viktorialand untersucht. Dort klebten praktisch unter jedem Stein und Felsen, den sie umdrehte, irgendwelche Überreste. Haut, Haare, ganze mumifizierte Robben. Da gab es viel Material und wir konnten nachweisen, das sind Seeelefanten, und wollten dann verstehen, was da passiert war."
    Die genetischen Tests belegten: Die Gewebereste stammten von 223 einzelnen Seeelefanten. Mithilfe der Radiokarbonmethode konnte Mark de Bruyn nachweisen, dass die jüngsten davon bereits 1000 Jahre alt waren, die ältesten sogar 7000 Jahre. Damals erwärmte sich die Erde, so dass sich das Ross-Eisschelf zurückzog und diesen Küstenstreifen freigab:
    "Da gab es auf einmal ein riesiges Gebiet, das die Seeelefanten kolonisieren konnten. Sehr, sehr schnell kamen Hunderte Tiere von der nächstgelegen Insel, Macquarie, das sind immer noch 2500 Kilometer. Die Population wuchs dann sehr rasch. Es gab ja Platz und die arktischen Gewässer bieten viel Nahrung. Vor 1000 Jahren brach die Kolonie dann zusammen, wohl weil es wieder kälter wurde."
    Die trockene kalte Luft konservierte dann genug Gewebereste, sodass Mark de Bruyn diese Geschichte rekonstruieren konnte. Er isolierte dafür die Erbsubstanz der Zellkraftwerke, der Mitochondrien, weil die in viel mehr Kopien vorliegt, als das Erbgut im Zellkern. Für ihn überraschend:
    "Diese ausgestorbene Kolonie hatte ein sehr hohes Maß an genetischer Vielfalt. Viel mehr, als wir bei den heute lebenden Kolonien sehen. Unsere Analysen zeigen, die Vielfalt kam nicht über Wanderbewegungen von außen, sie entstand in der Kolonie selbst, hauptsächlich durch ihr extrem rasches Wachstum."
    Vielfalt auch bei wenigen Tieren
    Mutationen entstehen recht gleichmäßig. Was aber aus ihnen wird, hängt von der Größe einer Population ab. In den ersten 500 Jahren vermehrten sich die Seeelefanten an der Küste von Viktorialand rasant, praktisch alle Männchen und Weibchen konnten sich fortpflanzen, ihre Gene weitergeben. So gingen kaum Mutationen verloren, und es entstand die überraschende genetische Vielfalt. Nachgewiesen hat sie Mark de Bruyn nur an DNA-Abschnitten, die selbst keine Bedeutung für das Überleben der Tiere haben. Er vermutet aber, dass seine Beobachtung für das ganze Erbgut gilt, dass also ein schnelles Wachstum einer Tierpopulation ein entscheidender Faktor für die Entstehung genetischer Vielfalt und damit für die Evolution ist:
    "Die Mutationsrate in den Mitochondrien ist zehnmal höher, als wir immer dachten. Das hat wichtige Konsequenzen. Wenn man die Größe einer Population über die genetische Vielfalt abschätzt, dann kommt man jetzt zu viel höheren Werten, und auch unser Bild von den Entwicklungszeiten in der Evolution verändert sich im Licht dieser Befunde aus historischer DNA."
    Auch aus der Perspektive des Tierschutzes bietet die Studie von Mark de Bruyn eine wichtige Erkenntnis. Selbst sehr kleine Populationen mit viel Inzucht können wieder genetische Vielfalt erzeugen, wenn es nur Bedingungen für ein rasches Wachstum gibt. Die Seeelefanten sind dafür das beste Beispiel. Sie wurden gejagt um aus ihrem Fett wertvollen Tran zu gewinnen. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren sie fast ausgestorben. Heute leben dank des konsequenten Schutzes auf den Inseln rund um die Antarktis wieder rund 700.000 Exemplare.