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Fatih Akin
"Die NSU-Morde betreffen mich persönlich"

In seinem neuen Film "Aus dem Nichts" hat sich der Filmemacher Fatih Akin mit der NSU-Mordserie auseinandergesetzt. Als Hamburger mit türkischen Wurzeln hat er seinen eigenen Zugang zum Thema. Mit dem fiktiven Drama möchte er über den NSU aufklären - vor allem geht es ihm um den menschlichen Drang nach Gerechtigkeit und Rache.

Fatih Akin im Gespräch mit Hartwig Tegeler |
    Der Regisseur Fatih Akin vor einem Plakat des Films "Aus dem Nichts"
    Der Regisseur Fatih Akin vor einem Plakat des Films "Aus dem Nichts" (dpa / picture alliance / Peter Kneffel )
    Hartwig Tegeler: Welcher Film kann eigentlich besser über aktuelle oder historische Ereignisse? Das frag ich den Dokumentarfilmer und den Spielfilmregisseur Fatih Akin. Welches Medium ist das besser geeignet?
    Fatih Akin: Das ist mal eine schwierige Frage. Ich würde spontan sagen: Erst der Dokumentarfilm, weil der natürlich viel klarer und präziser und faktischer arbeitet. Fiktion ist immer ein bisschen abstrakter. Fiktion ist immer ein Umweg, um Informationen zu verteilen. Allerdings ist es halt so, dass die Fiktion mehr Leute erreicht, weil die Fiktion einfach als massentauglicher empfunden wird. Ja, als unterhaltsamer empfunden wird als der Dokumentarfilm.
    Tegeler: Sie haben für den Film "Aus dem Nichts" den Spielfilm, die fiktionale Form gewählt, um zu berichten, zu erzählen über die NSU-Mordserie.
    Akin: Fiktion ist natürlich immer auch so eine Art Filter oder ein Abstand, um gewisse Dinge zu betrachten, ja, und in dem Fall, in meinem persönlichen Umgang mit der NSU oder überhaupt mit Rechtsextremismus in Deutschland ist der Spielfilm für mich denn doch das brauchbare Medium gewesen bei dem Thema, weil ich einen gewissen Abstand gebraucht habe. So eine andere Sicht, die Realität eher so zu verzerren, um sie besser darstellen zu können. Um sie besser verstehen zu können. Um sie besser strukturieren zu können.
    Tegeler: Die Realität auch in einem Art Genre darstellen?
    Akin: Richtig. Genre ist für mich aus zweierlei Gründen relevant. Das eine ist natürlich, dass das Genre zu meiner filmischen Sozialisation gehört und somit auch Teil meines Ichs ist. Und wenn man dann mit Genre spielt, ja, dann spielt man immer so ein bisschen mit der eigenen Sozialisation.
    "Hätte auch ein Opfer sein können"
    Tegeler: Sie werden persönlich dadurch?
    Akin: Auf eine sehr intime Weise ja. Ich kann mit Dingen arbeiten, mit denen ich erzogen worden bin.
    Tegeler: Würden sie mich "ausschimpfen", ich sage mal ein ganz bescheuertes Wort, aber ich finde das schön in diesem Zusammenhang: Würden Sie mich ausschimpfen, wenn ich "Aus dem Nichts" sehen würde wie entweder ein Melodram oder ein Genre-Thriller à la "Eine Frau sieht rot"?
    Akin: Ich glaube, eher Letzteres. Eher Letzteres. Ich habe in der Zeit, als ich das geschrieben habe, zufällig recht viel koreanische Filme gesehen. Koreanische Genre-Filme hauptsächlich auch. Filme wie "Chaser" oder "Old Boy". Da geht es immer viel um Rache. Und die Frage war natürlich, wie kann ich das übersetzen ins Deutsche. Wie kann ich das übersetzen ins Realistische? In meine eigene Kinolandschaft.
    Tegeler: Und dann noch bei einem so brisanten Thema wie den NSU-Morden.
    Akin: Weil mich diese Morde aber persönlich betreffen. Sie betreffen mich insoweit persönlich, weil ich auch ein mögliches Opfer gewesen sein könnte. Einfach aufgrund der Tatsache, dass meine Eltern Türken sind. So was macht dann denn die NSU persönlich. Und somit konnte ich dann das Element oder die Rhetorik des Genre-Kinos mit der Rhetorik des Autorenkinos vermischen.
    Der Drang nach Gerechtigkeit
    Tegeler: Aber was hat Rache mit Ihrem persönlichen Leben zu tun?
    Akin: Ich glaube nicht, dass es ausschließlich nur mit meinem Leben zu tun hat. Ich glaube, dass Rache in allen Menschen schlummert. Dafür ist dieses Gefühl einfach zu alt und zu archaisch.
    Tegeler: Fatih Akin, der Hamburger Türke, türkische Hamburger schreibt einen Film, in dem eine blonde, blauäugige Deutsche die Hauptrolle spielt. Ihr Mann und ihr kleiner Sohn werden in die Luft gesprengt, von Nazis, die Opfer werden quasi schuldig gesprochen. Was repräsentiert diese Hauptfigur?
    Akin: Eine Frau, die Gerechtigkeit sucht. Unser Justizsystem ist, glaube ich, nur daraus entstanden, weil der Mensch eben den Drang nach Gerechtigkeit hat.
    Wir haben noch länger mit Fatih Akin gesprochen - Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Tegeler: Also das Justizsystem befriedet also das archaische Rache-System?
    Akin: Es ist eine Abweichung davon. Sonst wäre es nicht entstanden. Nun hat, glaube ich, das Individuum ein anderes emotionales Bedürfnis nach Gerechtigkeit, als die Gesellschaft es erlangt hat. Die Gesellschaft ist und muss auch schlauer sein oder vernünftiger sein als das Individuum. Aber das Individuum ist, wie es ist. Es ist das Individuum. Es reagiert emotional.
    These und Antithese = Dialog
    Tegeler: Das heißt, der Genre-Thriller ist so etwas wie die Katharsis für diese unbewältigten archaischen Triebe.
    Akin: Richtig. So, wie der Horror-Film eine Katharsis ist für uns im Umgang mit dem Tod. Und so ist eben auch der Genre-Thriller, der Rache-Thriller ist eben eine Katharsis für das Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Weil, das zeigt mir ja mein Film, so ein größtmöglicher Teil meines Publikums kann sich ja mit meiner Hauptfigur identifizieren. Obwohl die alle vernünftig genug sind und die Todesstrafe wohl ablehnen. Dennoch können die sich mit dem Drang meiner Hauptfigur nach Rache identifizieren. Also gibt es da einen Widerspruch. Aber dieser Widerspruch kann fruchtbar sein.
    Tegeler: Geht es Ihnen am Ende um diesen Widerspruch? Ihre Hauptfigur sucht ihren Gefühlen nach Rache in einer extremen Weise Ausdruck zu verleihen, weil sie das Gefühl hat, dass sie nicht Gerechtigkeit bekommen hat durch das Justizsystem. Das findet statt. Schwarzblende: Der inhaltliche Satz, um was es bei den NSU-Morden ging. Damit setzen Sie ja zu dem filmischen Ende, was wir nicht verraten, einen ganz brutalen Realitätsschock. Und dadurch gewinnt das Ende, wo es um das Streben nach Gerechtigkeit und vielleicht auch die Verwirklichung von Rache geht - es wird zurückgeblendet in die Realität. Und ich saß da und dachte, was ist jetzt denn, ich war verwirrt. Und ich vermute mal: Das finden Sie schön, wenn ich am Ende verwirrt bin.
    Akin: Verwirrung beziehungsweise der Widerspruch - wenn man das Wort Widerspruch mal so zerlegt, dann enthält das Wort glaube ich ein anderes Wort und das heißt Dialog. Also Widerspruch heißt: Jemand sagt etwas, jemand spricht etwas, und es gibt etwas, was dem zuwider läuft. Also These und Antithese liegt in dem Wort Widerspruch. Und These und Antithese: Das ist der Inhalt eines Dialogs.
    "Erschrocken, wie wenig die Leute über die NSU wissen"
    Tegeler: Das heißt, ohne die Texttafel mit dem Rückbezug auf die NSU-Morde würden Sie uns das Ende Ihres Films, würden Sie uns das nicht "verkaufen" wollen, in Anführungsstrichen, um diesen Widerspruch, diesen Dialog, zu evozieren?
    Akin: Die Texttafel steht da vor allem auch, weil der Film nun auch international ausgewertet wird. Zum einen. Dass der Ursprung der Geschichte eben keine Fiktion ist. Der zweite Grund, weswege die Texttafel da steht, ist - was mich erschreckt hat, nachdem ich den Film getestet habe - wie wenig die Leute über die NSU eigentlich wissen. Die Leute wissen gar nicht, dass die NSU Bomben gelegt hat, um wahllos Leute zu töten. Die konnten die Tat im Film, die die Neonazis im Film begehen, nämlich um eine Bombe irgendwo zu platzieren, aus dem einfachen Grund, so viel wie möglich Menschen mit Migrationshintergrund zu treffen. Das konnte mein gebildetes Publikum, mein getestetes Bildungsbürgerpublikum nicht zur NSU zuordnen.
    Tegeler: Im Ernst?
    Akin: Ja, im Ernst. Nicht wenige. Und ich habe gesagt: Aber die NSU hat das doch getan. "Oh, das wusste ich nicht. Oh, das ist an mir vorbei gegangen." Und ich habe, genau, ja, ich staune wie Sie. Und deswegen habe ich diese Texttafel da noch mal reingenommen. Aber natürlich hat die eine Wirkung, für die Leute, die das eben alles kennen. Und dadurch entsteht eben ein Widerspruch. Und der ist mir auch recht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.