Faust, das sind wir alle. Zumindest ist das kein Individuum mit einer speziellen Mischung von Erkenntnisinteressen und erotischen Nöten. Gleich vier Mal steht, sitzt, kauert er in einem Gerüst; vier Schauspieler wechseln sich beim nächtlichen Frustmonolog ab – da, wo es um die Nöte des Forschers geht, der immer weniger weiß, je mehr er studiert. Einem ist darüber schon ein meterlanger dünner Bart im Kung-Fu-Stil gewachsen. Und wenn denen wenig später drei Gretchens mit putzig roten Wangen und geflochtenem Haar begegnen und ein uniformes Ensemble dem anderen das Geleit anträgt, ist klar, dass wir in dieser altfränkischen Love Affair wohl nichts Individuelles, Psychologisches erfahren werden. Bob Wilson begnügt sich in seinem Faust I mit Illustrationen einiger Kernszenen und lässt dramatische Entwicklungen und Begründungen beiseite. Wie immer sind Szenen Anlass für hübsche Tableaus mit viel Volk mit weißen Gesichtern, in hohen Bögen aufgeschminkten Augenbrauen und hochroten Mündern, aus denen zur Musik von Herbert Grönemeyer gesungen wird.
"Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein;
Hier ist des Volkes wahre Himmel,
Hier bin ich Mensch hier darf ich's sein."
Zufrieden jauchzet groß und klein;
Hier ist des Volkes wahre Himmel,
Hier bin ich Mensch hier darf ich's sein."
Herbert Grönemeyers Lieder sind simpler Deutsch-Rock, musikalisch geradezu unprätentiös, und rumpeln über rhythmisch ausgefahrene Gleise. Da aber, wo für den Bilderbogen nur instrumentale Hintergrundsounds verlangt sind, dudelt die Musik allzu oft lust- und mutlos um die Tonika, wie in einer schlechten Filmmusik eines drittklassigen Melodrams. Die Musik unterstreicht also, was die Inszenierung schon nahe legt: Im ersten Teil des Faust ist für die Macher kein Leben mehr. Außer einem musicalähnlichen Best-Off, einem Szenen- und Motiv-Evergreen mit ein paar choreografierten Bewegungsticks ist hier nichts zu sehen. Dabei wirkt manche Bewegung nur mäßig präzis und weniger penibel kunstwillig als in früheren Arbeiten Wilsons; die Verwandlung der Schauspieler in wie von einer Mechanik angetriebene Bildzeichen gelingt nur eingeschränkt. Nur einer sticht hier vom ersten Auftritt an heraus: der Mephisto des Christopher Nell, ein immerfort alle anderen ironisch imitierender Spielleiter, der mal am Busen der hold lächelnden Engelchen zupft, mal die Grimassen der fratzenhaften Wilsongesichter persifliert; ein Bilderzerstörer und Provokateur mit nackter Brust im roten Samtanzug. Das ist einer, der sich über das Zeremonielle und die starren Posen des Wilsontheaters lustig machen darf. Dieses Privileg ist eine darstellerische Steilvorlage und Christopher Nell nutzt sie bravourös.
Nach einer im Ganzen allerdings fast öde zu nennenden Pflichtübung entlassen Wilson und Grönemeyer ihr Publikum in die Pause, um in der anschließenden Kür, im Faust II erkennen zu lassen, warum das Ganze überhaupt entstanden ist. Jetzt, wo es mehr um menschheitliche, politische und philosophische Dimension des Stoffes geht, darf Mephisto geradezu zärtlich und als Wohltäter einen Text sprechen, der eigentlich in den ersten Teil gehört:
"Ich bin ein Teil von jener Kraft
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft
Ich bin der Geist der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element."
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft
Ich bin der Geist der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element."
Die musikalisch zuckersüß präsentierte Gabe des Teufels verwandelt sich gleich anschließend im Thronsaal zum Unheil ersten Ranges. Mephisto hat die Kasse des klammen Kaisers mit Geldmitteln geflutet und schafft so die Voraussetzung einer erotisch und materiell zugedröhnten Hofgesellschaft. Haben ohne tun müssen, ist ein sehr verlockendes Versprechen. Dann aber bewegt sich das Ensemble langsam als Silhouette vor einer Projektion vorbei, die einen Gepard in Zeitlupe in vollem Lauf zeigt. Derweil ist von der Abfolge der Menschengeschlechter die Rede. Und weil der dynamische Bewegungsablauf der Raubkatze ein immer gleiches Muster vor immer gleichem Hintergrund ist, entsteht plötzlich irrer Leerlauf, rasender Stillstand. Solchermaßen hypnotisiert, ist das Publikum eher bereit, die zusammenhanglose Bilder- und Klangfolge durch die Antike und zurück als Feuerwerk zu betrachten, als pure audiovisuelle Verführung. Ganz am Ende ist auch von Faust wieder mehr zu erkennen. Fabian Stromberger spielt ihn als ordentlichen Kumpel aus besseren Kreisen, der neben seinem irgendwie schmuddeligen Freund Mephisto in einer leer geräumten Welt auf einer Bank Platz nimmt und sich von diesem eines der beiden kleinen Teufelshörnchen aufsetzten lässt. Aber das ändert jetzt auch nicht mehr. Diese Faustinszenierung ist ein Mephistosolo mit ganz vielen lustig bunten Komparsen.
"Das Ewig-Weibliche
Das Ewig-Weibliche
Das Ewig-Weibliche
Zieht, zieht uns hinan."
Das Ewig-Weibliche
Das Ewig-Weibliche
Zieht, zieht uns hinan."