"Rothko Chapel" ist nicht nur der Name jener interreligiösen Kapelle in Houston, die mit Kunstwerken Mark Rothkos ausgestattet ist. Es ist auch der Titel der CD, auf der Komponisten vertreten sind, die im Abstand eines ganzen Jahrhunderts gelebt haben, aber dennoch durch ein Netz von Bezugnahmen und eine Nähe zur bildenden Kunst miteinander verbunden sind. Einer von ihnen ist Erik Satie: Der Exzentriker und Non-Konformist des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde für seine schlichten, der französischen Salonmusik nahen Kompositionen oft belächelt. Dabei steckt in ihren gleichförmigen Strukturen eine beispiellose Form der Ruhe, der Beschaulichkeit. Hören Sie jetzt eines seiner Klavierstücke, die "Gnossienne No. 4", gespielt von Sarah Rothenberg.
Erik Satie: Gnossienne No. 4
Die Pianistin Sarah Rothenberg mit Erik Saties "Gnossienne No. 4" von 1891. Die transparente Textur des Stücks mit ihren monotonen Begleitfiguren und sich wiederholenden Melodien evoziert eine intime, meditative Atmosphäre. So verglich der Komponist John Cage die Wirkung von Saties Klavierstücken mit dem Geist des Zen-Buddhismus. Zwar hat sich Cage zeit seines Lebens von künstlerischen Vorbildern im klassischen Sinne distanziert, aber dennoch spürte er zu Satie eine besondere Nähe. Diese äußert sich beispielsweise in seiner 1948 entstandenen Komposition "In a landscape" für Klavier solo: Die Musik befindet sich in einem kontinuierlichen, scheinbar nie endenden Fluss und vermittelt ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Hören Sie noch einmal die Pianistin Sarah Rothenberg.
John Cage: In a landscape
Versunken, besinnlich, abstrakt – Der kontemplative Charakter von John Cages "In a landscape" steht gewissermaßen Pate für das Konzept der gesamten CD: Musik, die frei ist von Texten und Programmen, frei von erzählerischen oder figürlichen Momenten; Musik, in der das Zeitempfinden aus den Angeln gehoben wird. Nur konsequent scheint hier die Assoziation zu den Gemälden Mark Rothkos.
Und damit schließt sich der Kreis: Denn das zentrale Werk auf der CD ist die Komposition "Rothko Chapel", die Feldman, inspiriert von der gleichnamigen Kapelle und den dortigen Malereien, als Hommage an seinen Freund Mark Rothko geschrieben hat. Feldman selbst bezeichnete seine Musik als eine Kunst "zwischen den Kategorien: zwischen Zeit und Raum, zwischen Malerei und Musik". Ähnlich wie Rothkos Bildsprache die komplette Leinwand einnimmt, soll Feldmans Komposition den gesamten Raum durchdringen.
Morton Feldman: Rothko Chapel
"Rothko Chapel" von Morton Feldman; uraufgeführt 1972 in Houston, hier eingespielt von der Bratschistin Kim Kashkashian, dem Schlagzeuger Steven Schick, Sarah Rothenberg an der Celesta, den Sängerinnen Lauren Snouffer und Sonja Bruzauskas und dem Houston Chamber Choir.
Den Interpreten gelingt es, mit Präzision und sparsam eingesetzten Vibrati den in-sich-gekehrten und doch selbstbewussten Charakter der Musik stimmig zu übermitteln: Dezent sakral angehaucht, kommt das Stück – ganz im Sinne der Arbeiten Mark Rothkos – ohne jeden Kitsch oder Pathos aus.
Ein Komponist, der sich nicht nur von einem anderen Künstler inspirieren lies, sondern der seine Werke gleich haargenau transkribierte und umarbeitete, ist der Schweizer Heinz Holliger. Und damit kommen wir zur zweiten CD der heutigen Sendung: einer Produktion von Holligers Bearbeitungen der Musik des mittelalterlichen Komponisten Guillaume de Machaut. Auf der CD sind auch die Originale aus dem 14. Jahrhundert zu hören, wie beispielsweise der dreistimmige "Hoquetus David", gesungen vom Hilliard Ensemble.
Guillaume de Machaut: Double Hoquet
Den "Hoquetus David" von Guillaume de Machaut hat Heinz Holliger zu einem "Triple Hoquet" für Bratschen-Trio umgearbeitet. Das ursprüngliche Klangmaterial scheint hier nur noch latent durch. Erweiterte Spieltechniken und die Hinzunahme kleinteiliger Figuren wirken wie ein Zerstäuber auf die Machaut'sche Vorlage ein.
Heinz Holliger: Triple Hoquet
Heinz Holligers "Triple Hoquet" für drei Bratschen von 2002; eine Bearbeitung der Vokalmusik von Guillaume de Machaut. Zu demonstrieren, dass Alte und Neue Musik oft gar nicht so weit voneinander entfernt sind, wie die Entstehungsdaten implizieren, scheint eine gewisse Mode geworden zu sein. Das ist im Fall der "Machaut-Transkriptionen" aber gar nicht der wesentliche Punkt. Viel faszinierender ist hier die Ergänzung der Singstimmen durch Bratschen – instrumentale Klangerzeuger, die von der menschlichen Stimmfarbe gar nicht weit entfernt sind. So treffen im letzten Teil des Zyklus notwendigerweise die Violen mit den Stimmen zusammen, was den kompositorisch-dramaturgischen Höhepunkt der "Machaut-Transkriptionen" markiert.
Heinz Holliger: Epilog
Der "Epilog" der "Machaut-Transkriptionen" von Heinz Holliger, interpretiert von Geneviève Strosser, Jürg Dähler, Muriel Cantoreggi und dem Hilliard Ensemble. Erschienen ist die CD beim Label ECM.
In dieser Sendung hörten Sie außerdem Musik von Erik Satie, John Cage und Morton Feldman von der CD "Rothko Chapel", die ebenfalls bei ECM erschienen ist.