Archiv

Festival in Leipzig
Improvisation mit Alter Musik - wie vor Jahrhunderten

Jazz steht vor allem heute für improvisierte Musik. In früheren Jahrhunderten war allerdings rund ein Drittel der Musik spontan gespielt. Um diese Improvisationspraxis mit Alter Musik zu bewahren, findet in Leipzig ein in Deutschland einzigartiges Festival statt: das LivFe!

Von Claus Fischer |
    Feinbehandlung der Oberflächen beim Flötenbauer Moeck in Celle am 18.11.2003.
    Mit Fidel, Blockflöte und zwei tragbaren Orgelpositive wurde um 1400 musiziert - oft ohne Partitur. (picture-alliance / dpa / Rainer Jensen)
    Eine Fidel, eine Blockflöte und zwei tragbare Orgelpositive, die sich klanglich bisweilen tüchtig reiben – so könnte um 1400 ein Ensemble ausgesehen haben, das auf der Burg eines Landadligen oder im gotischen Stadthaus eines wohlhabenden Kaufmanns zum Tanz aufspielte. Notenbücher brauchten die Musiker für ihren Auftritt nicht, dessen ist sich der französische Musiker und Mittelalter-Experte Christophe Deslignes sicher.
    "Zu allen Zeiten haben Musiker improvisiert, ils ont baigné dans la musique, sie haben gebadet in Musik!"
    Immerhin, einige Melodien der Tänze, die um 1400 en vogue waren, sind aufgeschrieben worden, wohl weil man sie so gut fand, dass sie nicht verloren gehen sollten. Und so hatten die Musiker beim Eröffnungskonzert des Improvisationsfestivals für Alte Musik die nötige Grundlage für ihr Tun.
    Vom Jazz lernen
    Sich die musikalischen Bälle zuspielen, Fragen stellen und Antworten geben, wetteifern in puncto Virtuosität - das alles erlebt man heute auf der Bühne meist nur im Jazz, meint der Blockflötist, Hochschuldozent und Initiator des Improvisationsfestivals für Alte Musik Martin Erhardt.
    "Viele Leute interessieren sich für Jazz, weil er so improvisatorisch ist, weil sie den Musikern bei ihren Gedanken zuschauen können. Ich will jetzt nicht sagen, dass wir da Trittbrettfahrer sein wollen, aber vom Jazz lernen wir immer sehr viel."
    So war es auch ein Jazzmusiker, nämlich der norwegische Saxofonist Jan Garbarek, der in der Vereinigung mit dem englischen Hilliard Ensemble erstmals vor einem breiteren Publikum Improvisation mit Alter Musik zusammenbrachte. Die CD mit dem Titel "Offizium" wurde in den 1990er-Jahren ein Bestseller. Die Improvisationen von Jan Garbarek waren allerdings modern. Den Initiatoren des Leipziger Festivals kommt es aber darauf an, dass die Spontaneität stilgerecht sein soll. Der amerikanische Zinkenist Doron Sherwin demonstrierte das in einem Konzert mit dem Vocalconsort Leipzig, einem semiprofessionellen Kammerchor unter Leitung von Gregor Meyer. "Zink über Chor" war das Programm überschrieben, in dem Sherwin u.a. über Motetten von Heinrich Schütz improvisierte.
    Rund ein Drittel aller Musik war improvisiert
    Rund ein Drittel aller Musik in früheren Jahrhunderten war improvisiert, davon gehen zumindest die meisten Forscher aus. Und das gilt auch für die Vokalmusik, betont der Franzose Jean-Yves Haymoz, Dozent an den Musikhochschulen in Lyon und Genf. Die Leiter der Hof- oder Domkapellen der Renaissancezeit haben mit ihren Sängern selbstverständlich improvisiert.
    "Praxis war nicht, eine Note zu singen, wie sie in der Partitur steht. Diese Praxis war gemischt: Schreiben, improvisieren, analysieren und singen mit Ausschmückungen und so."
    Im Rahmen eines Workshops leitete Jean-Yves Haymoz ausgebildete Sänger und Laien dazu an, im Stil der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts über gregorianische Melodien zu improvisieren, so wie er es regelmäßig mit seinem Ensemble "Le Chant sur le Livre" tut.
    "Wir müssen eine neue Sprache – auch musikalisch – lernen."
    Rückgrat des Festivals: Workshops und Vorträge
    15 Workshops gehörten neben sechs Konzerten zum Programm des Improvisationsfestivals. Die Spannweite reichte von Tasteninstrumenten des Mittelalters über Laute und Violine bis hin zu spanischer Ensemblemusik der Renaissance. In allen waren professionelle Musiker und engagierte Laien gemeinsam bei der Arbeit. Eine unbeschreibliche Atmosphäre, meint Dozent Christophe Deslignes.
    "Es ist die Gelegenheit, dass Studenten, Lehrer aus verschiedenen Gegenden zusammenkommen mit einem Publikum auch, und das macht so einen Melting Pot. Und das verbreitet natürlich die ganze Sache."
    "Also ich improvisiere nicht professionell, bin konventionell in der Alte-Musik-Szene unterwegs", sagt Barockgeigerin Amber McPherson aus den USA. Von den Workshops hat sie vor allem, meint sie, in psychischer Hinsicht profitiert, denn sie konnte sich mit den Elementen beschäftigen, aus denen Musik entsteht. Ihr Violinspiel, meint sie augenzwinkernd, wird in Zukunft vielleicht jetzt etwas lockerer, geschmeidiger sein.
    "Ja, mit einem freieren Umgang ist es schließlich egal, ob man improvisiert oder ob man komponierte Musik spielt."
    Nachholbedarf an den Musikhochschulen
    Festivals für Alte Musik sind in den letzten drei Jahrzehnten viele in Deutschland entstanden, allerdings gibt es außer in Leipzig bis jetzt keines, das sich dezidiert der Improvisation widmet. Blockflötist und Initiator Martin Erhardt sieht die Ursache darin, dass die Originalklangbewegung ja immer noch eine recht junge Bewegung ist, sprich, vor dem stilgerechten Improvisieren steht erst einmal die perfekte Beherrschung der jeweiligen Stilistik.
    "Die Wiederentdeckung der Alten Musik muss ja immer zuerst mit der Aufarbeitung der schriftlichen Quellen beginnen. Und das hat Jahrzehnte gedauert, bis einfach die Traktate uns heute wieder soweit bekannt sind, dass wir das ziemlich voraussetzen können. Sie wurden gefunden, sie sind editiert, sie sind online zugänglich – wir müssen jetzt den nächsten Schritt machen."
    Im Alte-Musik-Zweig der Leipziger Hochschule für Musik, aus dem heraus das Festival entstanden ist, wird Improvisation schon länger gelehrt. An vielen anderen Hochschulen gibt es da allerdings noch Nachholbedarf.
    "Das fachliche Interesse ist zwar da, aber die personellen, finanziellen Möglichkeiten vielleicht nicht."
    So hat das Leipziger Improvisationsfestival in jedem Fall Vorbildcharakter auch für andere Regionen, denn das Thema betrifft alle, die sich mit der Musikkultur zwischen Minnesang und Mozart auseinandersetzen, meint Martin Erhardt.
    "Wir wollen auch das, was damals nicht schriftlich überliefert wurde, heute wieder kultivieren. Ich spreche wirklich davon, dass es sich bei der historischen Improvisationspraxis um die Bewahrung eines kulturellen Erbes handelt!"