Wellen, Meer. Das ist das erste Bild. Das zweite zeigt einen alten Mann, der eine Ziege schächtet. Die Kamera streift dann über Hügel, Schilf, wieder aufs Meer. Der Wind ist zu hören.
Ein kleines Küstendorf, später wird klar: Dies ist eine Insel. Es handelt sich um das abgelegene Amami, weit im Süden von Japan. Hier ist das Leben stehengeblieben und die Moderne fern.
Die Hauptfiguren heißen Kyoko und Kaito. Ein Dialog der Blicke am Meer: "Gestern hab' ich auf Dich gewartet" sagt sie, er schweigt. Mit so wenigem macht der Film alles klar: Beide sind 14, eng befreundet. Eine Jugendliebe, erfüllt von Vertrautheit. Sie hat ihn gewählt, sie ist stärker und reifer.
Und dann hebt der Film zum ersten Mal ab...
Kyoko taucht, minutenlang, in Schuluniform. Schwimmt im Wasser auf ein Korallenriff zu. Schwerelos; wie ein Teil der See: Nixe, Meerjungfrau. Ein magischer, genussvoller Augenblick. Danach fahren die beiden auf seinem Fahrrad gemeinsam zurück ins Dorf. Ein zweiter magischer Moment aus Wind und Tempo, in Grün und Blau, weißem Sonnenlicht und schwarzen Schatten. Dann gibt es Nudeln mit Tintenfisch bei Kyokos Vater, einem Fischer.
"Still the Water" ist ein überaus sinnlicher Film, voll schlichter und zugleich über sich hinausweisender Schönheit, erfüllt von der Ausstrahlung dieser subtropischen Insel mit ihren Korallenriffen und mit starkem Sensorium für den Kreislauf der Natur, von Leben und Tod.
Mütter-Beziehung ist zentral
Eine Sommergeschichte - dies ist in erster Linie ein zurückgenommenes, ruhiges Porträt zweier Schüler, und ihres Erwachsenwerdens. Kawase zeigt das Glück der Losgelöstheit im Augenblick, die Brüchigkeit des Familiären und den Schmerz des Erwachsenwerdens - die Abschiede von der Kindheit.
Dazu gehört auch das Verhältnis beider Hauptfiguren zu ihren Müttern: Denn Kaitos Mutter ist alleinerziehend und ist wenig zuhause, Kyokos Mutter aber ist todkrank und wird bald sterben. Die Tochter weiß es und kann es doch nicht fassen. So durchziehen den Film Gespräche über das Sterben und das Rätsel des Todes: "Warum muss man überhaupt sterben?" "Warum muss meine Mutter leiden?" "Wo ist sie, wenn ihr Körper verschwunden ist?"
Im Gartenhaus wird für die Mutter das Sterbebett aufgestellt. Von hier aus kann auf einen uralten Baum blicken kann. Die Sterbeszene, in der die Mutter von Dutzenden Frauen und Männern der Insel umgeben ist, zählt zu den Höhepunkten des Films: Sie singen und tanzen am Sterbebett, jahrhundertealte Rituale der Inselbewohner - ein glücklicher Tod.
Von Freunden zu Liebenden
Es gibt zwischen den beiden Freunden, die über den Film zu Liebenden werden, auch Gespräche über unsere Verbundenheit mit der Natur. Kaito sagt "Das Meer erschreckt mich. Es ist lebendig." Kyoko erwidert: "Wenn man surft, dann ist dies wie ein eins-Werden mit dem Meer, mit der Natur."
Es sei wie Sex fügt sie hinzu und wir ahnen, dass beide nicht kennen, wovon sie spricht. Sie aber weiß es trotzdem.
"Still the Water" - übersetzt "Uns bleibt immer noch das Wasser" -, ist ein sehr berührender Film, Kino voller Poesie, zugleich über menschliche Grundsatzerfahrungen.
Der Film hat alle Tugenden des japanischen Kinos: Er erzählt visuell und musikalisch, in wenigen Worten, und oft beiläufig, Beobachtungen im Vorübergehen aufnehmend. Eine ruhige, doch leicht bewegte Kamera zeigt den Wind, die Wellen, das Licht der Sonne, das durch die Bäume scheint und begleitet die Figuren schwebend, zitternd, subjektiv durch ihr Leben.
Kawase erzählt vollkommen stringent und zugleich leichtfüßig und unaufdringlich. So gelingt ihr ein nahezu perfekter Film, erinnernd an Bergman, Rosselini und Truffaut.
Auch das Sterben macht in diesem Film keine Angst. Aus dem Mund des alten Fischers hören Kyoko und Kaito gegen Ende ein paar grundsätzliche Lebensregeln: "Ihr jungen Leute solltet nie feige sein! Wenn ihr was sagen wollt, sagt es. Wenn ihr was tun wollt, tut es. Wenn ihr weinen wollt, weint!"