"Unsere Erziehung verwirklicht das Prinzip Ganzheitlichkeit. Körper und Geist bilden ebenso eine Einheit wie Leben und Arbeit. Wir lernen in gesunder Umgebung und sind stets füreinander da. Jedes Kind findet hier immer ein offenes Ohr."
Ulrich Tukur verkörpert meisterhaft Gerold Becker, den charismatischen Schulleiter der Odenwaldschule. Becker war in den 70er und 80er-Jahren der Haupttäter im Missbrauchsskandal an der Schule mit mindestens 132 Opfern. Den am Originalschauplatz gedrehten, sehenswerten Spielfilm "Die Auserwählten" mit Tukur und Julia Jensch in den Hauptrollen, zeigt die ARD heute Abend.
Zwei ehemalige Odenwaldschüler, die sich durch den Film in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen und juristische Schritte einleiteten, konnten die Ausstrahlung des Films nicht verhindern.
Doch der heutige Fernsehabend ändert nichts an der Tatsache, dass die Odenwaldschule ihre Chancen zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle vergangener Jahrzehnte nicht genutzt hat. Das sagt Tilman Jens, der heute Abend nach dem Spielfilm bei Anne Will über das Thema diskutieren wird. Der Sohn des Tübinger Theologen- und Publizistenpaares Walter und Inge Jens hatte die Reformschule in den 1970er-Jahren besucht. Jens war noch bis zum Frühsommer 2014 Mitglied des Schul-Trägervereins. Er selbst ist nicht missbraucht worden.
"Ich habe dort oben – in Ober-Hambach – eine glückliche Zeit verlebt, in einer hochproblematischen, für viele traumatisierenden Zeit. Das wusste ich damals so jedenfalls nicht. Und ich wollte etwas dafür tun, die Schule wieder in ein sicheres Fahrwasser zu bringen. Die Schwierigkeiten waren so groß, dass ich nach diesen drei Jahren sagen muss: Es hat nicht funktioniert."
Eine richtige Aufarbeitung ist nicht gelungen
Der Hauptgrund: Die Schule schaffte es nicht, sich der Kritik zu stellen, meint Pitt von Bebenburg von der "Frankfurter Rundschau", der Zeitung, die den Missbrauchsskandal aufdeckte:
"Es gab also dieses Phänomen, das jeder, der etwas Böses über die Schule berichtet hat, als Nestbeschmutzer gegolten hat. Und das ist das Grundproblem an dieser Schule, an dem hat sich nichts geändert. Der Hauptpunkt ist sicher dieses engste Kameradschaftsgefühl."
Im ARD-Film "Die Auserwählten" wird der Korpsgeist der Schule in mehreren Szenen deutlich, als sich die fiktive junge Lehrerin Petra – gespielt von Julia Jensch - Anfang der 80er-Jahre bemüht, die Missbrauchsfälle, die sie beobachtet, aufzuklären. Ihre Lehrerkollegen lassen sie auflaufen:
Petra: "Ich habe da was gesehen, im Wald, beim fotografieren. Da war der Bus vom Manni, er war mit einem Schüler da. Beide waren nackt."
Ältere Kollegin: "Nacktheit, Petra, hat bei uns nicht unbedingt etwas mit Sexualität zu tun."
Jüngere Kollegin: "Unterstellst Du dem Manni da irgendwas, nur weil er schwul ist."
Petra: "Aber darum geht es mir doch gar nicht. Der Junge im Bus war – jung."
Dass der Film an der Odenwaldschule selbst gedreht werden konnte, weist auf die Bereitschaft der heutigen Schulleitung heute hin, sich der Missbrauchsgeschichte zu stellen. Doch in den vergangenen Jahren blieb die weitere Aufklärung des Skandals immer wieder stecken. Damit habe der Trägerverein der Odenwaldschule die Opfer vor den Kopf gestoßen, resümiert Altschüler Tilman Jens. Die Schule, mit heute noch 140 statt 300 Schülern inzwischen auch wirtschaftlich existenzgefährdet, habe aus seiner Sicht zu früh wieder zum Alltag zurückgewollt:
"Es ist natürlich eine Konfrontation. Die Schule, die auf der einen Seite sagt, wir sind Schule, wir haben mit den Missbrauchsgeschichten kaum noch etwas zu tun. Die Haupttäter sind weg. Und die Opfer, die auf einmal sagen: Jetzt endlich hört ihr uns zu. 1999 wurde es schon mal bekannt und dann wurde wieder der Deckel des Schweigens draufgestülpt. Die sind zornig, zu Recht. Ungerecht, maßlos – auch zu recht. Die wollen Gehör, die wollen erstgenommen werden. Und die Schule hat das letztlich nicht leisten können."