Keine andere Schauspielerin kann so genervt und dann wieder so zerbrechlich auftreten wie Isabelle Huppert. Verströmt sie in der einen Szene leise Verzweiflung, betritt sie die nächste mit einer schlechten Laune, bei der man am liebsten die UNO rufen würde. Auch in ihrem neuen Film "Alles was kommt" vollzieht Huppert eine Gratwanderung. Die für sie typische Grundgereiztheit verbindet sich hier mit der anrührenden Abgeschlagenheit ihrer Hauptfigur.
Zunächst ist noch alles ganz in Ordnung im Leben der Philosophielehrerin Nathalie Chazeneux. Die erwachsenen, ein wenig langweiligen Kinder, sind aus dem Haus. Ihr Mann, der ebenfalls Philosophie lehrt, hat sich in seiner selbstgerechten Korpulenz eingerichtet. Beim Mittagessen mit den Kindern liefert sich das Ehepaar kleine gebildete Wortgefechte – etwa über ihre kommunistische Vergangenheit.
"Warum fängst du schon wieder damit an? Als ich zurückkam, war es vorbei. Ich habe Solschenizyn gelesen, und das war es dann." - "Aber du musst immer das letzte Wort haben, daran hat sich nichts geändert." - "Nicht alle haben deinen Weitblick. Das ist nun mal so, euer Vater hat seit er 18 war, seine Meinung nie revidieren müssen. Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Das ist auch schon '68 sein Credo gewesen."
Eine folgenschwere Mitteilung
Alles könnte so bleiben wie es ist – in dieser mit hellen skandinavischen Möbeln eingerichteten Intellektuellenwohnung voller Bücherregale. In diesem Leben zwischen Pascal-Bänden, Descartes-Lektüre und gelegentlichen Buchveröffentlichungen. Doch dann macht Nathalies Mann ihr eine folgenschwere Mitteilung.
"Nathalie, ich habe eine andere Frau kennengelernt." - "Was soll denn das? Und warum erzählst du mir das? Hättest du das nicht für dich behalten können?" - "Ich will mit ihr zusammen leben." - "Was? Ist es schon entschieden?" - "Ja, ich bin mir sicher." - "Und geht das mit euch schon lange?" - "Eine ganze Weile schon." - "Und ich dachte, du liebst mich ewig. Ich dämliche Kuh."
Verschwörung gegen die Filmheldin
Man muss sich anschauen, wie Isabelle Huppert diesen Augenblick spielt. Wie Nathalies Züge für einen schockierten Moment außer Kontrolle geraten – und wie sie sich gleich darauf wieder fängt. Wie sie aufsteht, aus dem Zimmer stürmt – und mitten hinein in einen Film, den man mit einem Satz auf den Punkt bringen kann: Eine Frau versucht in ihrem auseinanderbröckelnden Leben die Fassung zu wahren.
Allerdings haben sich alle gegen diese Heldin verschworen: Ihr Mann, der bei der Aufteilung der gemeinsamen Philosophiebücher Nathalies liebste Exemplare mitnimmt. Ihre streikenden Schüler, die sie von der Arbeit abhalten. Ihr Verlag, der ihre Buchreihe einstellt. Und ihre depressive Mutter, die abwechselnd mal die Feuerwehr und mal die Tochter anruft.
"Sie hat Sie mehrmals angerufen, Sie sollten rangehen, wenn Sie anruft." - "Aber haben Sie eine Ahnung, wie oft sie bei mir anruft?" - "Das verstehe ich, Madame, aber Sie ist Ihre Mutter, Sie sind verantwortlich." - "Ich friere furchtbar, kannst du mir meinen Nerz geben. Der junge Feuerwehrmann, der sich um mich gekümmert hat, war unglaublich süß."
Neuorganisation eines Lebens
Die Kamera der Regisseurin Mia Hansen-Løve verbündet sich mit dieser Heldin, die von Termin zu Termin eilt, vom Unterricht zur Wohnung der Mutter, vom Zug zum Taxi. Nathalie organisiert ihr Leben neu, bringt Dinge in Ordnung, lässt manches hinter sich. Dabei findet sie auf ganz beiläufige Weise zu sich. Oder zu einer neuen Freiheit.
Ebenso beiläufig stellt dieser Film im geschlossenen Milieu der Pariser Intellektuellenszene universelle Fragen: Was bietet überhaupt Sicherheit im Leben? Wie schützt man sich vor Verletzungen, ohne zu verbittern? Müsste man das eigene Leben nicht radikal ändern, um seinen Werten treu zu bleiben? In Nathalies Diskussion mit einem ehemaligen Philosophieschüler und Aussteiger geht es ans Eingemachte:
"Du willst, dass dein Alltagsverhalten mit deinen Werten übereinstimmt. Aber du bist nicht auf der Suche nach einem Denken, das eine völlige Veränderung deiner Lebensart zufolge hätte." - "Und was soll das heißen?" - "Du gehst auf Demonstrationen, unterschreibst Manifeste. Und schon hälst du dich für eine engagierte Intellektuelle. Du hast ein gutes Gewissen und stellst deine Lebensart nicht infrage." - "Stimmt, ich will keine Revolution anzetteln. Mein Projekt ist viel bescheidener. Ich will jungen Menschen selbstständiges Denken beibringen."
Freiheit zur Interpretation
Isabelle Huppert nimmt man solche Sätze ab. Vielleicht, weil sie selbst etwas Ähnliches macht. Sie spielt keine Emotionen aus, trägt nicht auf. Sie deutet an, lässt Lesarten offen. Hupperts Minimalismus lässt dem Zuschauer alle Freiheit. Diese Schauspielerin bringt uns mit ihrem Spiel das Denken bei.