Andreas Main: Willkommen zu dieser Weihnachtsausgabe von Tag für Tag, unseren Informationen aus Religion und Gesellschaft. Wir wollen heute die so genannte Kindheitsgeschichte beleuchten – also das, was die Evangelien erzählen über Geburt und Kindheit des Jesus von Nazareth. Und wir wollen fragen, wie können Kinder und Jugendliche und junge Leute rund 2000 Jahre später, das verstehen, was das Kind Jesus seinerzeit erlebt hat, was wissen wir überhaupt darüber, was lässt sich heute vermitteln.
Einer, der diese Fragen beantworten kann, ist Professor Thomas Söding. Herr Söding stellen sie sich doch einmal selbst vor.
Einer, der diese Fragen beantworten kann, ist Professor Thomas Söding. Herr Söding stellen sie sich doch einmal selbst vor.
Thomas Söding: Ja, ich in ein Neutestamentler, aber in erster Linie bin ich einer, der auch mal getauft worden ist und der als Kind auch das Glück gehabt hat, diese Geschichten, die Kindheitsgeschichte zu hören. Mich hat die Bibel insgesamt so fasziniert, dass ich sie dann schließlich zu meinem Beruf gemacht habe.
Main: Sie sind Professor in Bochum. Was Sie besonders qualifiziert darüber hinaus für unser weihnachtliches Thema: Sie haben sich eben nicht nur mit den Weihnachtsgeschichten professionell beschäftigt am Lehrstuhl, sondern Sie sind auch mitverantwortlich für eine Jugendbibel, die in diesem Herbst erschienen ist. Der genaue Titel des Buches: "Bibel – Jugendbibel der katholischen Kirche". Auch darüber wollen wir reden. Steigen wir aber zunächst inhaltlich ein. Neben den biblischen Texten in Ihrer Jugendbibel - da stehen immer wieder ganz knappe Kommentare oder Zitate. Im Kapitel über die Weihnachtsgeschichte gibt es das schöne Zitat, was auch dieser Sendung den Titel gibt: "Jesus, was hat dich so klein gemacht? Die Liebe." Was bedeutet Ihnen dieser Satz?
Söding: Sehr viel. Dieses Wort kommt von einem mittelalterlichen Mönch, man würde vielleicht sagen finsteres Mittelalter. Hier zeigt sich aber helles Mittelalter. Es ist auf den Punkt formuliert. Die Geschichte, die hier erzählt wird, man würde vielleicht erwarten, dass ein solcher Heros des Glaubens eine knallige Geburtsgeschichte bekommen hätte, in der sozusagen schon sein grandioser Sieg vorab gefeiert wird. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist eine menschliche Geschichte. Sie spielt am Ende der Welt in einem Stall. Und dass dort gerade diese Heilsgeschichte beginnen soll, neu beginnen soll, das ist ein Wunder. Und genau dieses Wunder wird Weihnachten gefeiert.
Main: Klein und schwach, Joseph und Maria und Joseph auf der Flucht, keine Herberge nimmt sie auf. Krippe, Hirten – all diese Bilder sind im kollektiven Gedächtnis, nicht nur bei Kirchgängern, wohl auch bei Religionslosen oder bei Juden und Muslimen in unseren Breiten. Wie erklären Sie die Wirkmacht dieser Bilder?
Söding: Ich erkläre Sie mir in erster Linie mit ihrer Einfachheit. Es ist eine Geschichte, die plausibel ist. Sicher, auch die fromme Phantasie hat viel dazu eingetragen. Aber Vater, Mutter, Kind, das verfolgte Kind, das Kind, das verkannt wird, der Mensch, der ganz klein anfängt, aber groß herauskommt – das ist eine Liebesgeschichte, wie das dieser Mensch Bernhard von Clairvaux richtig erkannt hat.
Main: Wenn ich jemand wäre, der nicht glaubt, dass dieses Kind der Messias ist oder groß rauskommt, wie Sie formuliert haben, was könnte ich dennoch rauslesen aus diesen biblischen Geschichten – mit Gewinn?
Söding: Das Wesentliche ist, dass Leben anfangen kann – dass es gut ist, dass Kinder geboren werden – dass jedes Kind eine Verheißung in sich trägt und dass es dann für alle diese Kinder diese Geschichte von dem einen Kind gibt, das den Namen Gottes selbst trägt. Und nicht um jetzt selbst groß herauszukommen, sondern halt um den Himmel über allen Menschen zu öffnen.
Main: Ist das Weltliteratur?
Söding: Ganz gewiss. Aber Weltliteratur jetzt nicht, weil diese Texte mit viel Prunk und Pomp daher kommen. Der Evangelist Lukas, der Evangelist Matthäus – die hatten ihre ganz eigene Art zu erzählen. Die haben nicht das Griechisch der feinen Leute, der gebildeten gewählt, sondern das Griechisch des einfachen Volkes. Und durch diese Einfachheit, durch diese Klarheit der Sprache entsteht ein viel größerer Eindruck, als wenn sie jetzt gezeigt hätten, was sie stilistisch alles drauf haben.
Main: Sie haben zwei Evangelisten angesprochen. Es ist "Weltliteratur" aus mehreren Federn. Wir haben vier so genannte Evangelien. Wenn wir uns das Fluchtmotiv anschauen, welcher Autor oder welche Autoren berichten was?
Söding: Ja, die Kindheitsgeschichte wird nicht in allen Evangelien mitgeteilt, sondern ist in zwei Evangelien – nach Matthäus und nach Lukas. Johannes setzt noch mal ganz anders an, vor aller Zeit, ganz oben im Himmel und kommt dann unten auf der Erde an. Und der Evangelist Markus begnügt sich einfach damit, mit der Taufe von Jesus im Jordan anzufangen. Aber gerade Matthäus und Lukas – das sind übrigens auch die Evangelien, die die Bergpredigt und die Feldrede überliefern, die haben ein ganz eigenes Sensorium für die Wurzeln, die jüdischen Wurzeln, aus denen Jesus kommt. Deswegen interessieren sie sich für diese Geschichte von Anfang an. Und diese Anfangsgeschichten sind alles prekäre Erzählungen, die immer damit zu tun haben, dass Menschen nicht da sind, wo sie eigentlich zu Hause sind, dass sie sich auf den Weg machen müssen, den sie vielfach beschwerlich finden. Bei Matthäus gibt es die Flucht nach Ägypten. Und dann geschieht dieses Spektakuläre im Verborgenen, dass genau dort, wo die Menschen nicht zu Hause sind, ihnen Gott begegnet.
Main: Sie deuten das theologisch, wortgewaltig. Was ist historisches Faktum von dem, was Matthäus und Lukas berichten?
Söding: Da streiten sich die Gelehrten, wie das so üblich ist, gerade bei solchen Texten, die eine so große Bedeutung haben. Ich will da jetzt nicht auf die Pauke hauen, sondern ganz ruhig und bescheiden sein und sagen: Ja, dass Jesus gelebt hat, dass er als wahrer Mensch geboren worden ist, dass Maria und Joseph seine Eltern sind – von Joseph wird dann ja noch einiges erzählt, weil über Maria und ihre spezifische Beziehung zu Gott noch einiges erzählt wird – das alles ist der Kern. Es ist gleichzeitig ein Kern, der mit dem Judentum zu tun hat. Jesus wächst nicht in der Stunde null der Heilsgeschichte auf, sondern ist sozusagen geborgen in einem lebendigen Judentum. Und das wird jetzt in Geschichten dargestellt, bei denen einen sagen, ich gehöre dazu, dass da Familientraditionen eine Rolle gespielt haben, während andere dann der Meinung sind, das sind eher Legenden.
Main: Sie haben eben auch die Flucht nach Ägypten angesprochen. Man kann ja die auch rein theologisch motiviert deuten. Würde ich mir zum Beispiel jetzt eine jüdische Brille aufsetzen, dann würde ich sagen: Klar, wir haben da eine jüdische Sekte, die glaubt, Jesus sei der von den Juden erwartete Messias. Die müssen natürlich in ihren Texten behaupten, in diesem Jesus werde alles erfüllt, was in der hebräischen Bibel steht, also dem so genannten Alten Testament. Also auch diese Fluchtgeschichte – womöglich doch eine reine Glaubensgeschichte? Was ja nicht ihren Wert mindert.
Söding: Was ihren Wert nicht mindern würde. Ja, aber welche Verheißung wird denn erfüllt. Die des Propheten Hosea, das ist ein Prophet des Alten Testaments: Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. Das heißt, wer sich auch von dem Judentum her mit dem Propheten Hosea beschäftigt, erkennt, dass die Herkunft dieses Volkes im Ausland liegt, in Ägypten, im Sklavenhaus liegt, dass dort immer auch die Bedrohung eine Rolle spielt, dass die eigene Identität verloren geht, dass man vertrieben wird und dass man von Gott zurückgerufen würde. Das ist der entscheidende Punkt. Jesus, so das Evangelium nach Matthäus, lebt diese Geschichte Israels, eine Geschichte der Flucht und Vertreibung, aber auch eine Geschichte von Rettung aus. Dadurch wird Israel neu mit Gott in Verbindung gebracht. Matthäus ist ein Jude gewesen, der als Jude vom Christusglauben überzeugt gewesen ist und der genau deswegen diese Exodus-Töne, diese Auszugsgeschichte letztlich diese Ostertöne anschlägt, wenn er die Weihnachtsgeschichte erzählt.
Main: Aber wie kriegt man das zusammen: Wir haben da den Bericht von einer Flucht nach Ägypten, davor die Suche nach Herberge und Krippe bei Lukas. Dieses Motiv setzt ja voraus, dass eine Hochschwangere von Galiläa aus, von Nazareth aus einen weiten Weg zurücklegt. Wie wahrscheinlich ist es, dass Jesus in Bethlehem geboren ist? Was spricht dafür, was spricht dagegen?
Söding: Ich kann zunächst einmal sagen, was dafür spricht. Es spricht dafür, dass wir zweimal eine Überlieferung haben im Neuen Testament von der Geburt Jesu. Beide Male wird Bethlehem genannt. Die Erzählungen bei Matthäus und bei Lukas haben, wenn man sie genau betrachtet, eigentlich relativ wenig miteinander gemein, weil einmal von Joseph, einmal von Maria her erzählt wird. Aber zu den Berührungspunkten gehört eben halt Bethlehem. Wenn es jetzt in der historisch-kritischen Exegese Bedenken gegenüber der Bethlehem-Tradition gibt, dann haben die damit zu tun, dass Bethlehem eben halt ein soziologisch besetzter Ort ist. Aus Bethlehem kommt David, aus Bethlehem wird der Messias erwartet. Und deswegen denken eben einige, dass sei nur eine erfundene Geschichte. Ich bin da eher bei denen, die sagen, Jesus und der Tempel in Jerusalem und Johannes der Täufer – das waren doch auch nicht einfach nur Ideen, das waren auch lebendige Geschichten, das waren Verwandtschaften, das waren Familienüberlieferungen, die da aufgenommen worden sind, die aber jetzt natürlich in den Evangelien eine Gestaltung bekommen haben, dass die eigentliche theologische Botschaft eben halt herauskommt. Und die heißt für diese ersten Christenmenschen: Jesus ist der Messias, auf den das Volk Israel hoffen darf.
Main: Sie gehen also davon aus, dass diese jüdische Familie viele, viele Kilometer vor 2000 Jahren gemacht hat, weite Wege. Wir beobachten heute so etwas weltweit wie eine Massenflucht – besonders eben auch aus Syrien vor dem so genannten "Islamischen Staat". Menschen fliehen allenthalben. Kann man solche Brücken schlagen? Kann man sagen: Die Bibel ist heute aktuell vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise, die wir erleben?
Söding: Ich meine, man muss das machen. Die Bibel ist genau in der Region entstanden, in der es jetzt so heiß hergeht. Das Evangelium nach Matthäus ist wahrscheinlich aus Syrien. Lukas hat genau diese Region vor Augen, auch wenn er später die Geschichte des Apostels Paulus erzählen wird. Genau in diesen Gärungen, in diesen Bewegungen ist das Christentum entstanden. Die Flüchtlingsgeschichte ist dem Christentum ins Stammbuch geschrieben. Alle, die sich auf das christliche Abendland berufen, müssen eben halt wissen, dass das Abendland aus dem Morgenland kommt und dass das Evangelium eben halt von dort her zu uns gekommen ist. Ich bin nicht der Meinung, dass man beim Blick auf die Weihnachtsgeschichte jetzt auch schon die Handlungsanweisung für die Lösung bei der Flüchtlingsfrage hat. Aber ich meine doch, dass die Mentalität, die Art und Weise der Denkens, des Glaubens, des Hoffens, das die von dieser Weite der Horizonte erfüllt sein kann. Bei Matthäus kommen die Sterndeuter, die Magier, die Heiligen Drei Könige, wenn man so will, die kommen ganz aus dem Osten. Jesus flieht nach Ägypten, also in den Westen. Da wird schon ganz deutlich, in welchen weltweiten Horizonten diese ganz kleine Geschichte begonnen hat und welche weltweiten Horizonte auch in dieser Geschichte erfüllt werden sollen.
Main: Wir wollen ja auch fragen, wie können Kinder und Jugendliche und junge Leute rund2000 Jahre später das verstehen, was diese Familie seinerzeit erlebt hat. Ich frage mich: Spricht nicht auch einiges für den Ansatz, solche Geschichten puristisch für sich stehen zu lassen in der Religionspädagogik? Ohne diese Aktualisierung?
Söding: Ich bin sehr dafür, dass man jetzt nicht versucht, irgendwelche Mätzchen zu veranstalten, um diesen Geschichten Leben einzuhauchen. Die sind lebendig aus sich selbst heraus. Sie müssen allerdings häufig aus einer Wolke aus Kitsch befreit werden, dass sie in ihrer ursprünglichen Strahlkraft überhaupt zur Geltung kommen kann. Das sind Erzählungen, die das Leben geschrieben hat. Das sind auch Erzählungen, die das Leben aufbrechen. Und dazu müssen sie in dieser Kraft, die Chance haben zu wirken. Und das macht man meines Erachtens am Besten in der Tat, in dem man diese Erzählungen stehen lässt, in dem man sich auf sie konzentriert und in dem man dann auch deutlich macht, dass das die Geschichten von Menschen aus Fleisch und Blut sind. Die Weihnachtsgeschichten sind ja überhaupt nicht glatt, sondern sie sind voller Abgründe, voller Ecken und Kanten. Sie wollen sozusagen aufrütteln. Und das ist meines Erachtens die Chance, die diese Geschichten nach wie vor haben. Die muss ihnen im Gottesdienst gegeben werden, und die muss ihnen auch im Religionsunterricht gegeben werden.
Main: Sehen Sie die Gefahr der Manipulation, wenn aus theologisch ausgerichteten Texten, die 2000 Jahre alt sind, politische Handlungsoptionen für heute abgeleitet werden?
Söding: Ja, solche Texte sind immer anfällig für Manipulation. Aber warum? Weil sie eben halt so viel zu sagen haben. Weil ihnen eben auch viel Bedeutungen zugeschrieben wird. Aber diese Geschichten gehören nicht ins Museum, sondern die Geschichten gehören auf die Tagesordnung des heutigen Lebens, auch auf die Tagesordnung der Politik. Sie brauchen intelligente Leserinnen und Leser. Sie brauchen Impulse, sie brauchen Stimulanzien. Das können beispielsweise Erfahrungen, Zeugnisse anderer Menschen sein, die wir zum Beispiel in der Jugendbibel auch so ausgewählt haben, dass jetzt nicht eine bestimmte Interpretation vorgeschrieben wird, sondern dass die jugendlichen Leser und Leserinnen angeregt werden, ihre eigenen Interpretationen zu finden.
Main: Konkret – gerade auch mit Blick auf die Fluchtthematik bei Matthäus und mit Blick auf das Migrationsmotiv in der Kindheitsgeschichte bei Lukas: In welche Richtung, meinen Sie, sollten junge Menschen durch diese Kindheitsgeschichten aufgerüttelt werden in der aktuellen Flüchtlingskrise?
Söding: Im Altertum ist Jesus vorgeworfen worden, dass er ein Armutsflüchtling gewesen sei. Und der Vorwurf in der Antike war: Wäre er der Sohn Gottes gewesen, dann hätte Gott ja doch wohl aufgepasst, dass ihn eine solche Schmach, eine solche Demütigung erspart geblieben wäre. Die ganz frühen Theologen haben gesagt, nein, nein, nein, Jesus – wir glauben, dass er als Sohn Gottes wahrer Mensch geworden ist. Wenn Gott auf ihn aufgepasst hat, dann auf eine menschliche Art und Weise. Da war beim Kind so, dass die Eltern sich um ihn gekümmert haben. Das war bei ihm, als er Erwachsener wurde, ebenso, dass er halt einen Weg gegangen ist, der von diesen Erfahrungen des Gottesvolkes Israel voll ist. Das wäre für mich ein Punkt, an dem junge Leser und Leserinnen heute gefragt werden: Wie sehe ich einen solchen Menschen, der eine solche Geschichte gehabt hat? Wie sehe ich meine eigene Geschichte im Angesicht Jesu, im Angesicht dieses Mensch gewordenen Messias, dieses Vollblut-Messias, wenn man ihn so nennen kann? Und dann bin ich ganz zuversichtlich, dass ich jetzt da nicht als Dirigent eingreifen muss, sondern dass dann die Geschichte ihren Weg in den Herzen ihrer Leser und Leserinnen machen wird.
Main: So wie Sie es erklären und so, wie ich diese Jugendbibel auch gelesen habe, wollen Sie unbedingt vermeiden, dass das etwas kindisch simples Bekennerhaftes bekommt, sondern Sie wollen Komplexität vermitteln – und das mit einfachen Worten. Ist da so in Ihrem Sinne?
Söding: Die Glaubensgeschichte ist nicht banal, sie ist nicht in dem Sinne simpel. Es ist allerdings so, dass sie in einem bestimmten Sinne auch einfach ist, weil es eben halt eine Geschichte ist, die vom Glauben an den einen Gott geprägt ist, weil es eine Geschichte ist, die insgesamt ein Happy End hat. Also das einzige Happy End, das seinen Namen wirklich verdient, nämlich dass am Ende Gott alles in allem ist und dass dadurch die Menschen nicht vernichtet werden, sondern zu sich selbst in ihrer Fülle kommen. Das ist natürlich eine unglaubliche Hoffnung, die man vielfach widerlegt finden könnte. Und dann gibt es diese kleinen Geschichten, die Geschichten von der Geburt von einem Menschen, die immer auch unter Schwierigkeiten vonstattengegangen ist und dennoch eine solche Verheißung in sich trägt. Und das wollten wir zum Ausdruck bringen. Und da outen wir uns als Menschen, die von dieser Gottesgeschichte begeistert sind.
Main: Wenn man sich das Buch mal in die Hand nimmt – die meisten Hörer werden es noch nicht gelesen haben – also jetzt die neue Jugendbibel, dann muss man es so verstehen: Man hat einfach den biblischen Text oder zumindest die zentralen Auszügen - und daneben gibt es diese Symbole – die Glühbirne. Dann gibt es einen dreieckigen Pfeil. Dieser dreieckige Pfeil steht für bibelwissenschaftliche Anmerkungen. Wie schwierig war das für Sie, ganze exegetische Debatten in dreizehn Wörtern mit einem Hauptsatz und einem Nebensatz auf den Punkt zu bringen?
Söding: Ja, Mut zur Lücke ist das eine. Das andere ist aber auch – wir hatten das Glück, dass es ein großes Projekt gewesen ist. Wir konnten mit Jugendlichen sprechen. Wir haben uns eine Woche und länger getroffen, um jetzt genau zu erfahren, was sind die Fragen, die ihr habt. Wir versuchen eine Erklärung. Dann haben die gesagt, naja gut, das ist viel zu kompliziert oder das ist zu banal, legt ein bisschen nach oder nehmt ein bisschen raus. Und irgendwie kann dann vielleicht auch versuchen, so ein Gespür zu finden. Ja, also wir wollten Informationen liefern, weil die Bibel nie vom Himmel gefallen ist, sondern zu 100 Prozent ein Wort von Menschen zu ihrer Zeit ist. Sie trägt die Spuren ihrer Entstehungszeit an sich, das wollen wir auch nicht ausradieren, das wollen wir sichtbar machen. Und dazu braucht man die Information. Aber die Bibel wollte immer aktiv, kreativ gelesen werden und deswegen brauchen wir auch die Zeugnisse von Menschen. Ob das jetzt Päpste sind oder Menschen von heute sind, ob das Fußballer sind oder ob das Heilige sind – das Beste ist gerade gut genug. Was wir da gefunden haben, das haben wir an den Rand gesetzt. In der Mitte steht der Bibeltext, das ist das Wichtigste. Aber dieser Bibeltext hat eine Welle von Begeisterung ausgelöst. Das wollen wir an einzelnen Stellen sichtbar machen, so dass die Jugendlichen auch den Mut haben, ihre eigenen Gedanken von diesem biblischen Text inspirieren zu lassen.
Main: Kommen wir nochmal zurück zur Weihnachtsgeschichte, zur Kindheit Jesu – Sie haben da schon einiges angedeutet. Lassen Sie uns nochmal wie in einer Synopse die verschiedenen Texte nebeneinander halten und vergleichen: Das Johannes-Evangelium erzählt nichts Historisches, hat aber dennoch eine Weihnachtsbotschaft. Was ist diese Botschaft für Sie in einem Satz?
Söding: Das Johannes-Evangelium beginnt ganz oben: "Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort". Ein Buch, das so weit oben beginnt mit Jesus, muss dann wirklich ganz unten ankommen. Das ist das Besondere – also Gott kommt ganz unten bei den Menschen an.
Main: Markus liefert gar nicht – das haben Sie schon gesagt. Matthäus konzentriert sich worauf?
Söding: Matthäus beginnt mit einem Stammbaum Jesu, ordnet also Jesus in die Heilsgeschichte Israels ein und spielt dann am Beispiel des Joseph die Zweifel durch, den Unglauben: Das kann nicht wahr sein, dass Gott seine Verheißung wahrmacht! Das kann nicht wahr sein, dass Jesus wirklich der Messias ist! Das kann nicht wahr sein, dass er der Gott-mit-uns-ist! Das kann nicht wahr sein, dass Maria schwanger geworden ist, ohne dass ich mit ihr Geschlechtsverkehr gehabt habe!
Main: Und alles, was wir Weihnachten feiern, kommt primär von Lukas. Die Kindheitsgeschichte - die gibt es nur bei Lukas. Was ist sein Erkenntnisinteresse, wenn er den Glauben der ersten Christen für die folgenden Generationen zusammenfasst? Was will er vermitteln?
Söding: Er will vermitteln, dass die Jesus-Geschichte als Heilsgeschichte genau dort beginnt, wo so ein Hotspot der Hoffnungsgeschichte Israels liegt, nämlich in Bethlehem. Und er erzählt jetzt nicht nur sozusagen von oben herab, was die Engel alle Großartiges zu verkünden haben, sondern er erzählt immer auch mit, wie die Menschen – Maria an der ersten Stelle – darauf reagiert haben, wie sie nachdenklich geworden sind, wie sie nicht sofort die Lösung gehabt haben, wie sie aber – so heißt es ja immer von Maria – die Dinge in ihrem Herzen bewegt haben und wie sie angefangen haben zu lernen, weil bei ihnen die Ahnung begonnen hat, die Ahnung auch gekommen ist: Das, was da in Bethlehem begonnen hat, das hat eine grandiose Zukunft vor sich, deren Dimension wir noch gar nicht begreifen können.
Main: Schafe, Kühe etc. tauchen aber in diesen vier Evangelien gar nicht auf - auch nicht in ihrer Jugendbibel. Das hat einen Grund.
Söding: Ja, das hat den Grund, dass das Neue Testament an der Stelle etwas zurückhaltend ist. Allerdings ist es eben halt auch so: Wer sich mit der christlichen Frömmigkeitsgeschichte beschäftigt, der kennt das von Anfang an: dass diese etwas spröden neutestamentlichen Erzählungen oder konzentriert neutestamentlichen Erzählungen dann andere nicht zufrieden gestellt haben, so dass sich weitere Erzählungen angelagert haben, die einfach das Geschehen etwas hübscher, etwas farbenfroher haben gestalten wollen. Da kommen dann die Schäflein und der Ochs und der Esel herein. Ja, ich verachte diese Weitererzählungen in gar keiner Weise. Man muss die nur unterscheiden von den neutestamentlichen Kernen, die neutestamentlichen Evangelien konzentrieren auf das, was geglaubt werden kann. Und diese sogenannten apokryphen Evangelien zeigen nämlich...
Main: ... in denen sind nämlich die Tiere zu finden.
Söding: Vollkommen richtig. Das kommt dann teilweise aus dem dritten, vierten, achten Jahrhundert nach Christus. Die sagen einfach, das ist keine ferne Geschichte, sondern die Geschichte hat mit deinem Leben zu tun, mit Tieren zu tun, ist ja für Kinder wunderbar. Also ich würde das ausnutzen, aber nicht mit dem Kern verwechseln.
Main: Also ein Plädoyer wider die Buchstabengläubigkeit.
Söding: Am liebsten wäre mir der Geist in den Buchstaben.
Main: Jetzt haben wir auf jeden Fall vier Texte mit vier Positionen – also kanonische Texte. Es gibt keine Überschneidung zwischen den Texten mit Blick auf Weihnachten. Unter journalistischen Gesichtspunkten würde man dann sagen: Vorsicht, Vorsicht – lieber abwarten, bevor ich das als gesicherte Nachricht ansehe.
Söding: Ja, würde ich auch machen. Allerdings wenn Sie als Journalist jemanden fragen, wie er ein bestimmtes Ereignis erlebt hat, dann werden Sie auch relativ unterschiedliche Erzählungen bekommen - je nachdem von welchem Standpunkt aus jemand ein Geschehen betrachtet hat, welche Brille er aufgehabt hat, welche Vorgeschichte er hat. Das ist eben halt weitgehen in den Evangelien auch so. Wenn der eine Evangelist sich dafür entscheidet – Matthäus – ich schaue jetzt mal in erster Linie auf Joseph – und der andere Evangelist Lukas sich entscheidet, ich schaue mal auf Maria, dann ist ja klar, dass da unterschiedliche Geschichten erzählt werden. Und wenn ich beide Geschichten lese, sage ich am Ende, ja, Gott sei Dank, dass ich diese Vielfalt habe und dass ich nicht nur einen Einheitstext serviert bekomme.
Main: Was ist die theologische Kernaussage am Ende des Jahres 2015?
Söding: Gott kommt den Menschen unendlich nah. Gott ist mit uns. Das ist das Immanuel-Motiv, das zutiefst mit Weihnachten verbunden ist. Gott mit uns – das kann man glauben...
Main: ... man kann es auch lassen.
Söding: Niemand wird gezwungen, es zu glauben. Die einzige Frage ist, wenn ich glaube, wie sehe ich dann Gott und die Welt und mich selbst. Wenn ich nicht glaube, wie sehe ich dann mich selbst und die anderen und die Menschen, die gläubig sind. Und daran entscheidet sich dann die Glaubwürdigkeit.
Main: Der Neutestamentler Professor Thomas Söding. Er lehrt und forscht in Bochum und hat die neue Jugendbibel der katholischen Kirche mit herausgegeben. Wir sprachen darüber, wie sich die Geschichte um die Geburt Jesu heute vermitteln lässt in der Jugendbibel und darüber hinaus. Ich danke Ihnen, Thomas Söding, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
Söding: Ich bedanke mich und wünsche noch Frohe Weihnachten.