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Flucht und Neuanfang
"Der eigentliche Kraftakt ist das, was im Inneren passiert"

Sie wollte der Liebe wegen aus der DDR fliehen - das bedeutete das Ende ihrer Sportkarriere. Sie studierte Germanistik und durfte in Jena nicht abschließen. Dann gelingt die Flucht in den Westen. Mit Blick auf ihre Neuanfänge sagte die Schriftstellerin Ines Geipel im Dlf: "Es muss einen Grad von innerer Nötigung geben."

Ines Geipel im Gespräch mit Kathrin Hondl |
    Ines Geipel vor einer Stelltafel am Tag der offenen Tür der Stasi-Unterlagen-Behörde
    Ines Geipel blickt zurück auf die eigene Vergangenheit (Christian Schroth / imago)
    Kathrin Hondl: Und jetzt fangen wir noch mal gaaaanz neu an:
    Neuanfänge sind unser Thema an diesem langen Feiertagswochenende hier im Deutschlandfunk in "Information und Musik". Es gibt zwar psychologische Studien, die sagen: Je älter Menschen werden, desto weniger neigen sie dazu, ihr Leben zu verändern – also einen Neuanfang zu wagen. Den Wunsch nach einem Neuanfang aber, den hatte wahrscheinlich jeder und jede schon mal – neue Wohnung, neue Möglichkeiten, neue Aufgaben, eine neue Liebe, ein neues Land oder eine neue Stadt …
    Und manchmal wird man auch zum Neuanfang gezwungen – zur Flucht zum Beispiel aus einem Land, in dem man keine Perspektive mehr sieht – womöglich um sein Leben fürchten muss.
    Unser Gast zum Thema Neuanfänge ist heute die Schriftstellerin Ines Geipel. Guten Morgen, Frau Geipel.
    Ines Geipel: Guten Morgen!
    Hondl: In Ihrer Lebensgeschichte, Frau Geipel – Sie sind 1960 in Dresden geboren –, gab es, glaube ich, mehrere sehr radikale Entscheidungen zu Neuanfängen. 1984 wollten Sie – damals waren Sie eine erfolgreiche Leistungssportlerin, Sprinterin, Leichtathletin – zum ersten Mal aus der DDR fliehen. Was war da passiert?
    Zersetzungsvorgang nach dem Fluchtversuch
    Geipel: Wir waren in einem Trainingslager in Vorbereitung auf Los Angeles, Olympische Spiele 1984, in Mexiko und ich habe mich verliebt – und so verliebt, dass ich schon den Eindruck hatte, das ist ernst und es muss der Bruch sein, und dann gab es Absprachen mit dem Liebsten. Und dann wurde alles ganz anders, weil die Staatssicherheit mir auf die Spur kam, und es wurde ziemlich ernst mit Zersetzungsvorgang und ziemlichen Zugriffen. Die Anfänge können manchmal auch ziemliche Einbrüche werden.
    Hondl: Die geplante Flucht scheiterte – das muss ja wirklich schrecklich gewesen sein, oder? Was bedeutet das, wenn man an so einem Neuanfang, der Flucht aus Liebe gehindert wird?
    Geipel: Na ja, das ist jetzt hier fast schon Hollywood-Stoff. Das war eine Art von innerem Einbruch. Da blieb erst mal alles stehen, weil natürlich das, was meine innere Leitlinie war – es ging ja nichts mehr. Und es gehörte noch dazu, dass 1984 ja auch tatsächlich ausfiel für den Osten, Olympische Spiele, und da ging es einfach wirklich erst mal gar nicht weiter.
    Hondl: Und Sie wurden ja auch zu einem beruflichen Neuanfang gezwungen.
    Geipel: Ja. Es gab dann eben durch die Tatsache, dass die Staatssicherheit mir in dieser Weise auf die Spur gekommen war, diese Entweder-Oder-Situation. Natürlich ist man eine Sportverräterin und muss raus aus dem System, und ja, dann fand ich mich wieder in Jena und immerhin konnte ich dann noch Germanistik studieren, was ich ursprünglich nicht wollte. Ich wollte natürlich Medizin machen. Da gibt es schon ziemliche Umwege in meinem Leben. Und ja, trotzdem war natürlich der Bruch mit dem Sport dann tatsächlich aber ein Neuanfang in der Literatur und die Literatur ist ein sehr weites, unendliches Feld. Dort konnte ich erst mal abtauchen und habe mich natürlich auch ein bisschen restauriert im Inneren, glaube ich, weil ich natürlich durch den Sport auch innerlich ziemlich leer war.
    Mitlaufen in der "Versorgungsdiktatur DDR" oder fliehen
    Hondl: Und dann haben Sie noch mal den Mut aufgebracht, ein zweites Mal die Flucht zu wagen – 1989 dann. Wie haben Sie diesen Mut aufgebracht nach all den Erfahrungen, die Sie gemacht hatten?
    Geipel: Na ja, ich glaube, man kann in so einer Versorgungsdiktatur wie der DDR irgendwie in der Masse mitlaufen. Aber wenn es Brucherfahrungen gibt, dann gibt es sie, und dann hat man rausgeschaut und dann passte nichts mehr. Und ja, dann gab es die Entscheidung. Ich hatte dann am Ende des Studiums die Not, überhaupt noch das Studium beenden zu dürfen, aus politischen Gründen, weil ich mit der Opposition in Jena sehr verbunden war, und ich war die einzige, die nicht vermittelt wurde. Ich hätte ganz gut auf dem Friedhof pflanzen können als Gärtnerin, aber ich hatte es mit der Literatur. Ich wollte das machen. Und dann war auch klar, das hat ja auch mit Herkunft, Familie zu tun: Ich muss raus. Hier geht nichts mehr, ist alles eng, ich kriege keine Luft mehr, das ist zu Ende, dieses System. Ich oute mich jetzt als wahrscheinlich gefühlt als eine der letzten drei Mohikaner, für die 1989 der Aufbruch war und nicht das Trauma, also ein großes Glück: Wir gehörten endlich zur Welt. Und ich war eben geflohen und landete in Darmstadt. Das war ja nun auch erst mal ein bisschen harsch, aber ich glaube, diese sehr läuternden Anfänge mit Gesindestube in einem Privathotel, nichts anderes als ein Tisch und ein Waschbecken und ein Bett, keine Bücher, keine Klamotten, keine Freunde, kein Nichts, das hat manchmal was sehr Pures, Reines. Das war genau das Richtige für mich aus diesem sehr verstrippten Sport, aus dieser sehr belasteten Familiengeschichte.
    Hondl: Ihr Vater war bei der Stasi.
    Vater Stasi-Terroragent mit acht Tarnnamen
    Geipel: Na ja, er war nicht nur bei der Stasi. Er war richtig 15 Jahre unter acht verschiedenen Namen als Terroragent in den Westen gefahren, und das klärte sich alles sehr viel später, nach '89 erst. Ich bin im Grunde meiner eigenen Lebensgeschichte ein Stück weit auch immer hinterhergelaufen, weil ich sehr, sehr viel zu klären hatte.
    Hondl: Sie haben das mal beschrieben, wie Sie sich gefühlt haben, nachdem Ihnen 1989 die Flucht über Ungarn nach Österreich geglückt war. Und zwar haben Sie da geschrieben: "Mir war noch wochenlang schwindelig, das innere Zentrum war weg." Was war das für ein Schwindelgefühl? Hat so ein eigentlich wirklich glücklicher Neuanfang auch was Bedrohliches?
    Geipel: Ja, unbedingt! Man läuft ja aus dem eigenen Zentrum heraus. Auf nichts kann man sich noch … Es gibt ja diese Art von Entortung tatsächlich durch die Flucht, und ehe man sich dann wieder halbwegs konsolidiert hat, das hat viel mit Ängsten zu tun, mit vielen Fragen: Ist es richtig, so zu brechen, so sich zu verabschieden von der Familie beispielsweise? Das war schon grundexistenziell – klar.
    Hondl: Neuanfang bedeutet immer auch Abschied. Wovon, meinen Sie, hängt es ab, wie schwer dieser Abschied fällt?
    Geipel: Ich glaube, es muss einen Grad von innerer Nötigung geben. Ich wusste um die Belastung der Familie nicht, aber man fühlt sie natürlich als Kind, als Jugendliche. Das hat immer viel mit Tabus und Schweigen zu tun. Und dann überlagern sich so viele Überlegungen. Dann gibt es so einen irrationalen Moment: Du gehst los, du löst dich. Dieses Moment vom Sich-Lösen aus einer alten Welt, die was Unstatthaftes für einen selber hatte, in der es keine Luft mehr gab, das ist natürlich im Grunde so ein Schwebezustand, der auch eine ganze Weile erst mal anhält. Es ist ja nicht etwas weg, weil es weg ist. Wenn man über Neuanfänge spricht, spricht man klar über eine äußere Bewegung. In dem Fall aber das, was der eigentliche Kraftakt ist, ist ja das, was im Inneren passiert, und das braucht natürlich sehr viel länger.
    Abarbeiten an der DDR braucht Zeit
    Hondl: Vor ein paar Wochen hatten wir ja diesen denkwürdigen Tag, seitdem tatsächlich die Mauer schon länger nicht mehr da ist, als sie stand, obwohl es den meisten wahrscheinlich gar nicht so vorkommt. Wie ist das bei Ihnen? Wie präsent ist die DDR und dieses Leben vor der Flucht noch bei Ihnen, trotz dieser vielfältigen und vielen Neuanfänge?
    Geipel: Ich fürchte, wir haben doch alle nicht gedacht, wie lange die Klärung, Aufarbeitung, das Abarbeiten an dem Osten dauern wird. Der Osten ist sehr Thema durch diese politischen Radikalisierungen und durch dieses enorme Maß an Destruktion, was da im Osten nach wie vor waltet, und das haben wir miteinander zu lösen. Insofern ist diese DDR oder das, was da politisch im Osten passiert, wie viele schiefe Bilder sich jetzt in der Diskussion, in der Debatte auch darüberlegen und wie wenig beispielsweise – da kann ich immer mich richtig ein bisschen ärgern – tatsächlich die Opfer da sind im öffentlichen Diskurs, das lässt einen natürlich nicht los, auch wenn die Welt in einen hineingekommen ist.
    Hondl: Also bräuchte es auch da dringend einen Neuanfang?
    Geipel: Wir brauchen einen, ganz dramatisch! Wir brauchen einen Neustart, was den Osten angeht. Und ich glaube, dass es auch vielen klar ist, dass etwas sich nicht erledigt hat, wenn es vorbei ist, sondern ich glaube, wir lernen aus den eigenen Lektionen. Wir wollten diese Einheitserzählung sehr schnell und deswegen müssen wir jetzt lange, lange nacharbeiten.
    Hondl: Vielleicht zum Schluss doch noch eine persönlichere Frage. Welche Rolle spielt oder hat gespielt für Sie das Schreiben, die Literatur bei Ihrer Verarbeitung dieser vielen und ja wirklich dramatischen radikalen Neuanfänge?
    Das Glück des Schreibens
    Geipel: Es war ja von Anfang an, selbst vor dem Sport, das, was ich machen wollte, und das war schlechterdings für mich in der DDR vorstellbar. Ein Buch zu machen zu Zeiten der DDR mit eigenen Themen, war im Grunde das, was nicht machbar war. Insofern ist dieses Einen-Roman-Schreiben immer wieder neu das pure Glück. Es ist das, wo ich selber bei mir ankomme und so meinen Hort, meine Aura um mich herumbauen kann. Und eben mal nicht für die Doping-Opfer streite, sondern tatsächlich Zeit habe. Ich glaube, Aufbrüche, Neuanfänge haben auch mit Zeit zu tun, die man sich selbst ermöglicht.
    Hondl: Danke schön! Die Schriftstellerin Ines Geipel war das in unserer Gesprächsreihe über Neuanfänge an diesem Wochenende hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Geipel.
    Geipel: Ich danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.