Archiv

Flüchtlinge auf dem Mittelmeer
"Menschenhandel begrenzen"

Als Konsequenz aus dem neuerlichen Bootsunglück im Mittelmeer fordert Amnesty International sichere Wege für Flüchtlinge nach Europa. Es müsse die Möglichkeit geben, schon vor der Überfahrt über das Meer Asyl zu beantragen, sagte der Generaldirektor der Organisation in Italien, Gianni Rufini, im Deutschlandfunk.

Gianni Rufini im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Flüchtlinge 2011 auf dem Weg nach Lampedusa
    Flüchtlinge 2011 auf dem Weg nach Lampedusa (imago stock&people / Anan Sesa)
    Die Lage in den Aufnahmezentren an der italienischen Mittelmeerküste sei wegen der großen Zahl der Flüchtlinge schwierig. Allein in den vergangenen vier Tagen seien 8.000 Menschen angekommen, sagte der Generaldirektor von Amnesty International in Italien, Gianni Rufini, im Deutschlandfunk. Die zunehmend schwierige Lage in Syrien, im Irak oder in Libyen treibe immer mehr Menschen zur Flucht.
    70 Prozent der Flüchtlinge, die 2014 im Mittelmeer gerettet worden seien, seien Asylbewerber gewesen. Für sie müssten "sichere Wege" nach Europa geschaffen werden. Rufini schlug vor, in den nordafrikanischen Städten Zentren einzurichten, wo diese Menschen Asyl beantragen könnten. Damit könne auch der Menschenhandel der Schlepperbanden stark verringert werden. Doch Europa verhalte sich schwach und begegne den vielen Flüchtlingen "mit einer Logik der Nothilfe. Nichts passiert, um diesen Menschenhandel an der Wurzel zu begrenzen."
    Hinweis: Dieses Interview können Sie für mindestens sechs Monate nach der Sendung auch in der italienischen Originalfassung nachhören.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Welche Lage herrscht gegenwärtig auf Lampedusa und in den Aufnahmezentren in Sizilien?
    Gianni Rufini: Die Lage ist ausgesprochen schwierig. Es sind 8.000 Menschen in vier Tagen angekommen. Sie sind von der Küstenwache gerettet worden und auf die verschiedenen Zentren in Sizilien verteilt worden, die gegenwärtig aus allen Nähten platzen. Also eine sehr kritische Lage, denn vermutlich ist dies innerhalb der letzten beiden Jahre die höchste Zahl in so wenigen Tagen.
    Heinemann: Wieso so viele?
    Rufini: Weil die Lage in Syrien, im Irak, im Mittleren Osten, in Gaza und natürlich auch in Libyen immer schwieriger wird. Die Milizen und die kriminellen Strukturen, die den Menschenschmuggel über das Mittelmeer organisieren, setzen auch Gewalt gegen die Migranten ein, damit sie die Reise antreten.
    Sie zwingen sie, auf die Schiffe zu gehen. Und auch die Instabilität, die Unsicherheit und die Gewalt, die in Libyen herrscht, kann dafür sorgen, dass Menschen früher die Überfahrt antreten, als ursprünglich geplant.
    "Europa verhält sich schwach"
    Heinemann: Wie kann man die Hilfe auf dem Meer verstärken?
    Rufini: Als die Mission "Triton" der Europäischen Union begann, haben wir gesagt, dass diese viel zu schwach besetzt, zu schlecht ausgerüstet ist, und in einem zu begrenzten Handlungsradius operiert, um einer solchen wachsenden Zahl von Flüchtlingen wirksam begegnen zu können. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Mission "Mare Nostrum", mit der im vergangenen Jahr 170.000 Menschenleben gerettet werden konnten, eben kein "pull factor" war, keine Maßnahme, die Flüchtlinge angezogen hätte, wie einige europäische Politiker dies behauptet haben.
    Im Gegenteil: Sie hatte eher eine begrenzende und ordnende Wirkung für die Fahrt dieser Menschen über das Meer. Europa verhält sich schwach, in humanitärer Hinsicht, und auch mit Blick auf die Rechte dieser Menschen. Diesen vielen Menschen begegnet man mit einer Logik der Nothilfe. Nichts passiert, um diesen Menschenhandel an der Wurzel zu begrenzen".
    Heinemann: Sollte die Operation "Mare Nostrum" wiederbelebt werden?
    Rufini: Sagen wir so: Wir benötigen eine ausgedehnte Such- und Rettungsoperation, die bis an die libyschen Hoheitsgewässer heranreicht. Von dort kommen gegenwärtig die meisten Migranten. Diese Operation müsste mit angemessenen Mitteln ausgestattet intervenieren können, auch um die wachsende Gewalt der organisierten Kriminalität entgegentreten zu können, die diesen Menschenhandel betreibt.
    Heinemann: Wie kann man die Händler und die Schleuser bekämpfen?
    Rufini: Vor allem, indem man für die Asylsuchenden und die Flüchtlinge, die nach Europa gelangen wollen, sichere Wege einrichtet. Darauf wird schon seit langer Zeit hingewiesen. Asyl müsste schon vor der Überfahrt über das Meer beantragt werden können. Also etwa in den nordafrikanischen Städten, die die Migranten auf ihrer langen Reise zu erreichen versuchen.
    Fast alle kommen aus Ländern, in denen gegenwärtig Krieg geführt wird oder Diktaturen herrschen und die Menschenrechte sehr schwer verletzt werden. Dadurch könnte der Menschenhandel stark verringert werden.
    Heinemann: Sind Sie sicher, dass damit auch der Zustrom von Flüchtlingen verringert werden könnte?
    Rufini: Wir haben gesehen, dass 2014 den Angaben von "Mare Nostrum" zufolge 70 Prozent der geretteten Personen Asylbewerber waren. Menschen, die zumindest theoretisch über das Recht verfügen, sicher nach Europa zu gelangen. Im organisierten Menschenhandel spielt die Flucht aus wirtschaftlichen Gründen nur noch eine sehr geringe Rolle. Die meisten, die nach Europa kommen, haben ein Recht auf Asyl.
    Heinemann: Das Protokoll von Dublin verpflichtet das europäische Land, in dem die Flüchtlinge ankommen, sich um diese Menschen zu kümmern mit Unterkunft und Bearbeitung des Asylantrages. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass diese Regulierung überarbeitet wird?
    Rufini: Auf jeden Fall ist es nötig. Und es wird dann passieren, wenn die europäischen Staaten sich des ganzen Problems bewusst werden. Ich hoffe, dass Frankreich, Deutschland, Spanien und auch Großbritannien, das sich diesem Vorschlag so sehr verweigert, sich bewegen, damit sichere Wege für die Migranten eingerichtet werden und eine angemessene Antwort gegeben werden kann. Die Versorgung dieser Menschen nur den Frontstaaten zu überlassen, Italien, Griechenland, Spanien, ist nicht nur gegenüber diesen Ländern ungerecht, sondern auch gegenüber den Flüchtlingen, die zu ihren Familienangehörigen wollen, und die das bisher nicht können.
    "Es geht nur um Nothilfe"
    Heinemann: Ist das politische Klima in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise günstig für solche Veränderungen?
    Rufini: Mit Blick auf die Migrationsproblematik hat die Politik bisher leider nie langfristige Antworten gegeben. Es geht nur um Nothilfe, als ob Migration etwas Vorübergehendes, ein kurzzeitiges Problem wäre. Das stimmt nicht. Migration ist in den internationalen Beziehungen ein strukturelles Phänomen.
    Der Menschenhandel wird mit den Jahren zunehmen, in dem Maße, wie die Probleme am Südrand des Mittelmeeres und im Mittleren Osten wachsen werden. Darüber muss öffentlich debattiert und sensibilisiert werden, die Menschen müssen darauf vorbereitet werden. Und es müssen Aufnahmestrukturen geschaffen werden, die es ermöglichen, dass Migration gestaltet wird, und dass sie nicht als Desaster erlitten wird.
    "Europäische Union stellt sich taub"
    Heinemann: Deutschland und andere Staaten beschuldigen Italien, dass von dort Asylbewerber in die nördlichen Länder geleitet werden. Respektiert Italien die Vereinbarung von Dublin nicht?
    Rufini: Vermutlich fehlen die Kapazitäten für so viele Menschen. Das ist verständlich, da die Zahl so schwindelerregend angestiegen ist. Möglicherweise haben die italienischen Behörden angesichts der Taubheit des Restes der Europäischen Union, der keinen Teil der Lasten tragen möchte, bei manch einer Flucht ein Auge zugedrückt.
    Heinemann: Wie reagieren die Menschen im Süden Italiens?
    Rufini: Ich habe den Eindruck, dass sich die Einstellung der Italiener nach dem Desaster vom 3. Oktober 2013 verändert hat, als 400 Flüchtlinge wenige Meter vor der Küste von Lampedusa ertrunken sind. Das Bild vieler ernsthafter, würdevoller Menschen, die sich nur vor Gewalt und Krieg in Sicherheit bringen wollten, und die im Mittelmeer ertrunken sind, hat die Menschen sensibler werden lassen und hat ihnen das Drama vor Augen geführt.
    Menschen retten ist für uns heute ein Grund, stolz zu sein. Italien hat als einziges Land eine ernsthafte humanitäre Antwort auf diese Krise gegeben. Wir retten die Leben armer Menschen, die großen Schwierigkeiten und Entbehrungen unterworfen sind. Leider gibt es aber auch Politiker und politische Kräfte, die Migration ausnutzen, die einen rassistischen, ausländerfeindlichen und hasserfüllten Feldzug führen. Das ist für kein europäisches Land ehrenhaft.