Aus Sicht Landsbergs gibt es keinen anderen Ausweg als die Grenzkontrollen. Der Bund habe die Flüchtlingspolitik "viel zu sehr in Trippelschritten" organisiert. Der Städte- und Gemeindebund habe immer wieder gewarnt, dass die Prognosen der Bundesregierung zu den Flüchtlingszahlen zu niedrig seien. Landsberg forderte, die Flüchtlingspolitik müsse professioneller werden. Die Zuweisungen kämen oft zu schnell und zu kurzfristig. Die Kommunen bräuchten für dieses Jahr mehr Geld und mehr Erstaufnahme-Einrichtungen. Auch die Bundeswehr müsse helfen – zum Beispiel beim Aufbau von Zelten, aber auch bei der Registrierung der Flüchtlinge.
Durch die Grenzkontrollen kämen jetzt wahrscheinlich erst einmal weniger Flüchtlinge nach Deutschland. Das Problem sei dadurch aber nicht gelöst. Landsberg geht jedoch davon aus, dass der Druck auf die Bundesregierung und die EU inzwischen so hoch ist, dass sich etwas tun werde.
Das Interview in voller Länge:
Bettina Klein: Zugverkehr nach Deutschland eingestellt, Grenzkontrollen vorübergehend wieder eingeführt - das ist die neue Entwicklung seit gestern Abend. Ergebnis: In München etwa ist es ruhig wie lange nicht. Eine Entscheidung also im Interesse der Städte und Gemeinden, die sich zunehmend überfordert fühlten von Zehntausenden Menschen, die Zuflucht bei ihnen suchten?
Bettina Klein: Zugverkehr nach Deutschland eingestellt, Grenzkontrollen vorübergehend wieder eingeführt - das ist die neue Entwicklung seit gestern Abend. Ergebnis: In München etwa ist es ruhig wie lange nicht. Eine Entscheidung also im Interesse der Städte und Gemeinden, die sich zunehmend überfordert fühlten von Zehntausenden Menschen, die Zuflucht bei ihnen suchten?
Wir bekommen dazu jetzt eine erste Einschätzung von Gerd Landsberg. Er ist Hauptgeschäftsführer vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Guten Morgen, Herr Landsberg.
Gerd Landsberg: Guten Morgen, Frau Klein.
"Viele Kommunen sind völlig überlastet"
Klein: War es richtig Ihrer Meinung nach, diese Notbremse zu ziehen?
Landsberg: Ich glaube, das war richtig, die Notbremse zu ziehen. In der Flüchtlingspolitik ist es fünf vor zwölf, in manchen Städten und Gemeinden ist es schon nach zwölf. Wir wissen alle, das löst das Problem nicht, aber es gibt eine Atempause und das ist genau das, was wir vor Ort empfinden.
Viele Kommunen sind organisatorisch, finanziell und natürlich auch personell völlig überlastet, weil die Zuweisung der Flüchtlinge, die kommt zu schnell, zu kurzfristig, in der Zahl überraschend, ganz abgesehen davon, dass das Geld nicht reicht. Und da ist es, wenn es etwas langsamer geht - und genau das wird das bewirken -, natürlich schon ein klares Zeichen.
"In der jetzigen Situation gab es keinen anderen Ausweg"
Klein: Da fragt man sich natürlich auch: Musste es jetzt so weit kommen? Gab es keinen anderen Ausweg, als die Grenzen dicht zu machen?
Landsberg: Das ist eine ganz schwierige Frage. Aber ich glaube, in der jetzigen Situation gab es keinen anderen Ausweg. Ich denke, dass der Bund seine Flüchtlingspolitik viel zu sehr in Trippelschritten organisiert hat, und das ist das Ergebnis. Ich darf mal daran erinnern: Anfang des Jahres hat der Bund gesagt, 200.000 werden kommen, die Kommunen werden mit 500 Millionen unterstützt. Dann haben wir gesagt, das werden ganz, ganz viel mehr. Das hat man zurückgewiesen.
Im Mai waren es dann 450.000. Man hat gesagt, okay, nicht 500 Millionen, sondern eine Milliarde. Da haben wir wieder gesagt, und ich bin dafür kritisiert worden, es werden ganz sicher viel, viel mehr. Im September waren wir jetzt bei 800.000 und ich gehe davon aus, dass es dieses Jahr über eine Million sein werden.
"Die ganze Flüchtlingspolitik muss professioneller ablaufen"
Klein: Dennoch war ja erstaunlich zu hören, dass die Länder und offenbar auch die Kommunen sich überrumpelt fühlten von der Ansage der Bundesregierung, ihr dürft jetzt kommen. War das nicht wirklich seit Monaten und Wochen abzusehen, diese Entwicklung?
Landsberg: Diese Welle war jedenfalls aus kommunaler Sicht nicht abzusehen und in der Tat ist dieses Signal der Bundesregierung wohl weder mit den Ländern, noch mit den Kommunen abgesprochen worden.
Klein: Das heißt, es gab überhaupt keine Information? Ich meine, man konnte das sogar den Zeitungen entnehmen, was da beschlossen wurde.
Landsberg: Es gab schon Informationen, aber jeder hofft natürlich, dass es ihn nicht in dieser Deutlichkeit trifft, und deswegen sage ich schon lange, die ganze Flüchtlingspolitik muss professioneller ablaufen. Es kann nicht sein, dass ein Bürgermeister am Sonntagnachmittag um 15 Uhr erfährt, übrigens, Du bekommst nicht 300 Flüchtlinge, sondern 500 oder 600.
"Grenzkontrollen bringen ein bisschen Ruhe"
Das ist kaum zu organisieren und führt natürlich auch zu einer völligen Überlastung unserer Verwaltungen, aber auch natürlich der freiwilligen Helfer. Die sind generell am Limit und deswegen brauchen wir mehr Ruhe und ein bisschen Ruhe bringen diese Grenzkontrollen.
Klein: Das heißt, Sie können den Eindruck und die Klage der Stadt München sehr gut nachvollziehen, dass man sich dort im Stich gelassen fühlt?
Landsberg: Diese Klage kann ich gut nachvollziehen. Ich höre die von ganz vielen auch kleineren Städten, dass die sagen, wir wissen nicht mehr, wo wir die Leute noch unterbringen sollen. Die Turnhallen sind dicht, die Gemeinschaftshäuser sind dicht, wir haben teilweise schon Probleme, Stockbetten zu organisieren, und deswegen sagen wir auch, die Entscheidung des Bundes - das ist ja bisher nur eine Entscheidung, die Erstaufnahmeeinrichtungsplätze auf 150.000 zu erhöhen - ist richtig.
Aber ich halte es wieder für zu wenig. Wir brauchen mindestens 200.000 und wir brauchen sicherlich noch ein viel größeres Engagement der Bundeswehr. Ich darf mal daran erinnern, dass bei der Flutkatastrophe über 40.000 Soldaten im Einsatz waren. Da erhoffen wir uns natürlich auch jetzt noch viel mehr Hilfe des Bundes, zum Beispiel bei der Einrichtung von Zeltlagern, auch bei der Registrierung, auch bei der Organisation.
"Wir haben alle die Situation falsch eingeschätzt"
Klein: Herr Landsberg, Sie beklagen mangelnde Information, mangelnde Unterstützung und mangelnde Organisation. Wer ist da auf Landes- und oder Bundesebene seiner Verantwortung nicht nachgekommen?
Landsberg: Ich denke, wir haben alle die Situation falsch eingeschätzt, die Dynamik der Prozesse. Wir haben natürlich gesehen, dass zum Beispiel in der ersten Jahreshälfte fast 45 Prozent der Flüchtlinge aus dem Balkan kamen. Wir haben als Deutscher Städte- und Gemeindebund gesagt, das muss gestoppt werden. Wir haben gesagt, führt die Visapflicht ein, gegebenenfalls auch Grenzkontrollen. So nach und nach setzt sich das jetzt durch, aber es ist eben zu langsam. Und man hat natürlich immer gehofft, dass die Situation in den Bürgerkriegsländern etwas ruhiger wird, und auch da sind wir natürlich alle gemeinsam enttäuscht worden.
"Der Bund muss handeln und mehr umsetzen"
Klein: Herr Landsberg, ganz konkret: Wer ist jetzt gefragt? Wer muss jetzt handeln auf Bundes- oder auf Landesebene?
Landsberg: Erstens muss natürlich der Bund handeln und das heißt im Klartext, er muss das, was er angekündigt hat, umsetzen und er muss mehr umsetzen. Die Bundesregierung hat ja für nächstes Jahr drei Milliarden in Aussicht gestellt. Interessanterweise hat sie zu 2015 überhaupt nichts gesagt. Wir erwarten schon eine Soforthilfe mindestens von einer weiteren Milliarde noch für das Jahr 2015. Das ist auch nicht unverschämt. Wenn man gesagt hat, bei 450.000 Flüchtlingen bekommt ihr eine Milliarde, dann müssen es notwendigerweise bei über 800.000 zwei Milliarden sein. Sicherlich ist auch die EU gefordert.
Da muss man die Bundesregierung in Schutz nehmen. Ich glaube, wenn die Solidarität mit den Flüchtlingen scheitert, dann wird Europa scheitern. Es kann nicht sein, dass einzelne Länder sich da verabschieden, die zwar gerne Strukturhilfen in Anspruch nehmen, aber wenn es um Flüchtlinge geht sagen, damit haben wir eigentlich nichts zu tun, da ist ja Deutschland schuld, das sollen die mal organisieren.
Deswegen plädiere ich auch für einen Flüchtlingsgipfel auf EU-Ebene der Regierungschefs. Ich bin auch sicher, dass der kommen wird, aber es dauert halt zu lange aus unserer Sicht.
"Andere Bundesländer müssen gegenüber Bayern solidarisch sein"
Klein: Herr Landsberg, Sie zeigen jetzt mit dem Finger auf die Länder, die Bundesebene und auf die EU. Ich frage mal nach der Solidarität innerhalb der Kommunen. Die sind ja nicht gleichermaßen belastet. München hat in den letzten Tagen den Hauptansturm zu verkraften gehabt. Wie steht es denn um die Solidarität jetzt auch, was Ihre Vereinigung, Ihre Organisation angeht?
Landsberg: Wir plädieren für die Solidarität. Es ist ja Aufgabe der Länder, das auf die Kommunen zu verteilen, nach Größe, nach Wirtschaftskraft. Das wird auch gemacht und selbstverständlich müssen die anderen Bundesländer gegenüber Bayern auch solidarisch sein. Da wiederholt sich ja fast etwas, was ich gerade in Europa beschrieben habe.
Man muss auch mal ehrlich sagen: Bayern ist das Land, das im kommunalen Finanzausgleich über fünf Milliarden den schwächeren Ländern zur Verfügung stellt, und deswegen brauchen wir da auch Solidarität, obwohl ich verstehe, dass alle Länder sagen, ja wir wissen auch nicht wohin.
"Der Druck ist so groß, dass Bund und EU sich bewegen werden"
Klein: Wären da nicht auch andere Städte gerufen, zum Beispiel Leipzig spielt ja eine Rolle in den vergangenen Tagen, dass man von dort auch auf kommunaler Ebene stärker Solidarität zeigt und sagt, wir versuchen jetzt, mehr Menschen aufzunehmen als bisher?
Landsberg: Die Verteilung der Länder geht ja nach dem Königsteiner Schlüssel. Insofern ist das vielleicht etwas kurz gesprungen zu sagen, Leipzig oder der Osten kann mehr machen. Man muss sagen, der Osten ist natürlich viel dünner besiedelt, hat eine geringere Wirtschaftskraft, und bisher sind wir mit dem Königsteiner Schlüssel ganz gut gefahren, auch wenn es in der einen oder anderen Sache knirscht.
Klein: Abschließend, Herr Landsberg. Es gibt im Augenblick eine Atempause. So sehen es die Helfer in München. Aber es werden ja weiter auch Menschen zu uns kommen. Womit rechnen Sie da jetzt in den nächsten Tagen?
Landsberg: Ich gehe davon aus, dass der Flüchtlingsstrom sich jetzt etwas verlangsamt, das Problem damit aber nicht gelöst ist. Und ich bin sicher, der Druck ist jetzt so groß, dass sowohl der Bund sich noch bewegen wird wie auch die Europäische Gemeinschaft.
Klein: Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für die Einschätzung.
Landsberg: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.