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Flüchtlinge und Arbeit
"Beschäftigung eigentlich in allen Branchen geglückt"

Die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt sei in den vergangenen Jahrzehnten meist erfolgreich gewesen, sagte der Historiker Ulrich Herbert im Deutschlandfunk. Nur in den Neunzigerjahren habe es Rückschläge gegeben - und das habe an den rassistischen Pogromen gegen Ausländer gelegen.

Ulrich Herbert im Gespräch mit Michael Köhler |
    Der Historiker Ulrich Herbert.
    Der Historiker Ulrich Herbert. (imago stock&people)
    Michael Köhler: Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland für 2015 nach unten korrigiert. Knapp 900.000 Menschen sind als Flüchtlinge in die Bundesrepublik gekommen. Sind sie eine Belastung für den Arbeitsmarkt und die Sozialkassen wie Skeptiker und integrationskritische Stimmen behaupten, oder können sie in den Arbeitsmarkt integriert werden? Was unterscheidet die heutige Situation mit ihren Einwanderungsschüben von den Gastarbeitern der 60er-Jahre? Muss die Integration misslingen, oder kann Deutschland seine Erfahrungen in der Einwanderungsgeschichte vorteilhaft nutzen?
    Über das Thema Flüchtlinge und Arbeit habe ich mit Ulrich Herbert gesprochen. Er ist Professor für Neueste Geschichte in Freiburg und Autor von Büchern zur Geschichte Deutschlands und der Ausländerpolitik im 20. Jahrhundert. Zuerst habe ich ihn gefragt: Wir haben gegenwärtig die höchste Zahl an Erwerbstätigen seit langem. Wohlstand und Liberalisierung sind fortgeschritten. Ist die Angst vor Migranten auf dem Arbeitsmarkt unbegründet?
    Ulrich Herbert: Das weiß man nicht, weil die Angst bezieht sich ja auf Zukunft, nicht unbedingt auf Gegenwart. Und es ist in der Vergangenheit schon so, dass die Zuwanderer egal welcher Form seit der Nachkriegszeit auf dem Arbeitsmarkt, aber auch in der Auseinandersetzung um sozialpolitische Leistungen oder Wohnungen eher mit dem unteren Drittel der Bevölkerung konkurrierten und das untere Drittel der einheimischen Bevölkerung darin durchaus eine Bedrohung sah. Häufig aber ist diese Angst nicht so eindeutig sozial oder sozialpolitisch formuliert, sondern eher eine Art von Ablehnung des Fremden schlechthin, die nicht unbedingt sozial abgefedert sein muss, denn es gibt ja auch zahlreiche Menschen, die gut oder sehr gut situiert sind, die dennoch die Zuwanderung ablehnen.
    "Der Begriff des Integrierens ist ein relativ neuer"
    Köhler: Die Bürgerkriegsflüchtlinge gehen irgendwann wieder zurück, die Migranten bleiben. Sie haben sich viel mit der Geschichte dieser Migrations- und Arbeitswanderung beschäftigt. Die Ruhr-Polen und die "Spaghetti-Fresser" waren leichter integrierbar. Warum? Weil sie katholisch waren, weil sie europäisch waren?
    Herbert: Zunächst mal ist der Begriff des Integrierens ein relativ neuer. Die Polen, die sogenannten Ruhr-Polen der Jahrhundertwende, waren preußische Staatsbürger. Da war die rechtliche Integration gar kein Problem. Von ihnen wurde aber verlangt, dass sie ihre polnische Sprache ablegten oder überhaupt ihr Bekenntnis zum Polentum. Sie sollten sich assimilieren, und das bedeutet angleichen unter Vernachlässigung ihrer Herkunft. Das haben sie verweigert und daraus entwickelten sich Konflikte, auch am Arbeitsplatz, wenn etwa den Bergleuten, die Polnisch sprachen, verboten wurde, die eigene Sprache zu benutzen, was dann zu Unfällen geführt hat.
    In anderen Fällen hat es anders ausgesehen. Die größte Gruppe der Flüchtlinge sind die Flüchtlinge nach 1944/45, insgesamt zwölf Millionen, die aus den Ostgebieten nach Deutschland geflüchtet sind oder vertrieben wurden. Die wurden von der einheimischen Bevölkerung überwiegend auch nicht mit offenen Armen empfangen und die Berichte in den Zeitungen oder in den Polizeiberichten über die Konflikte zwischen den Alteingesessenen und den aus Schlesien oder Ostpreußen kommenden Flüchtlingen ähneln bis in Kleinigkeiten dem, was wir derzeit erleben. Sie waren aber als deutsche Staatsbürger insofern privilegiert, als ihnen das Recht auf eine Wohnung, auf vollständige Unterstützung durch die sozialpolitischen Maßnahmen und auch zusätzliche Maßnahmen gewährleistet war und sie deswegen auch aufgrund der sehr guten wirtschaftlichen Entwicklung relativ schnell in den neuen westdeutschen Arbeitsmarkt eingegliedert werden konnten.
    Köhler: Ulrich Herbert, Gastarbeiter-Diskussionen haben wir ja immer wieder im letzten halben Jahrhundert gehabt. Jetzt kommen aber Migranten aus Nahost, von Afrika mit ganz anderen kulturellen Hintergründen, auch mit ganz anderen Bildungsniveaus. Wo sind da die Unterschiede, was ist anders?
    Herbert: Zunächst mal nicht viel, denn die größte Gruppe der sogenannten Gastarbeiter, also derjenigen, die in den 60er- und frühen 70er-Jahren von deutschen Unternehmen hier hergeholt worden sind in Arbeitsplätze, um hier zu arbeiten, die größte Gruppe waren Türken. Und die Debatte um die Türken in den 80er-Jahren oder auch schon in den 70er-Jahren ähnelt in vielen dem, was wir heute erleben, nur dass die Türken zu dieser Zeit weniger als Sendboten des Islam angesehen wurden, sondern zum Teil unter Kommunismusverdacht standen, weil es viele linke Türken waren, die wegen der Militärjunta nach Deutschland gekommen waren, oder aber als schlechte Arbeiter oder kulturell weit zurück, oder anatolische Bauern, wo die kulturelle Distanz als besonders groß angesehen wurde.
    Viele ungelernte Arbeiter
    Köhler: Die wurden ja aktiv angeworben, wir erinnern uns, zwischen '55 und '73 aus den europäischen Nachbarländern und auch aus der Türkei.
    Herbert: Ja. Eigentlich ging es erst '61 richtig los mit dem Mauerbau. Als die DDR-Flüchtlinge ausblieben, wurden die Gastarbeiter geholt. Vorher waren das ganz geringe Zahlen. Die wurden von deutschen Unternehmen hier hergeholt und in Arbeitsplätze gesetzt, insbesondere in solche Arbeitsplätze, die ein Großteil der Einheimischen nicht mehr besetzen wollte, weil es sich um einen sozialen Aufstieg handelte in diesen 60er-Jahren.
    Köhler: Das ist wichtig, was Sie sagen, weil das ist die Motivation. Die ist damals eine andere gewesen als heute.
    Herbert: Völlig anders. Wir, die westdeutsche Wirtschaft holte die Ausländer nach Deutschland und die machten Pflasterarbeiten. Insbesondere in den ungelernten Tätigkeiten, Straßenpflasterer, gerade im Automobilbau wurden sehr viele ungelernte Arbeiter eingesetzt.
    Köhler: Schichtarbeit auch viel.
    Herbert: Viel Schichtarbeit, aber vor allen Dingen ungelernt. Das war das Entscheidende, weil der Trend bei den Deutschen, den Einheimischen dazu ging, dass jedenfalls die jüngere Generation bessere Ausbildung bekam. Wir dürfen nicht vergessen: Die Zahl der ungelernten und angelernten Arbeiter lag um 1965 in der Bundesrepublik noch bei 50 Prozent. Das ist eine sehr hohe Zahl. Die ging dann zurück und wurde aufgefüllt durch die Ausländer. Die hatten insofern kein Problem bis 1973 mit dem Arbeitsplatz, weil sie ja in die Arbeitsplätze hineinkamen. Auch die Krise '66, '67, so eine kleine Konjunkturkrise, die hat dazu geführt, dass doch relativ viele Ausländer, ganz am Anfang vor allen Dingen Italiener, Spanier, Jugoslawen, wieder zurückgingen in ihre Heimatländer, und damit schien bewiesen, dass man hier ein flexibles Arbeitsmarktinstrument hat.
    Als die nächste Krise kam '73 gingen sie nicht mehr zurück, weil die meisten jetzt schon länger da waren in Deutschland oder in der Bundesrepublik, und dann begann die sozialpolitische Auseinandersetzung um die Anwesenheit der Gastarbeiter und ihrer Familien. Denn interessant ist, dass die Zahl der Ausländer in Deutschland, die auf Arbeitsplätzen saßen, der arbeitenden ausländischen Bevölkerung und der Wohnbevölkerung, die hier lebten, bis 1973 fast gleich war. Das heißt, jeder Ausländer oder jeder Gastarbeiter, der hier lebte oder hier wohnte, hatte auch einen Arbeitsplatz. Danach nicht mehr! Danach ist die Zahl derer, die nur hier wohnen, nicht aber arbeiten, insbesondere Familienangehörige, viel größer und damit begannen die sozialpolitischen Probleme.
    "Die Erfahrungen sind besser als in anderen Ländern"
    Köhler: Herr Herbert, höre ich da zwei Dinge richtig heraus? Erstens: Die Form der Arbeit ist eine andere. Einfacher gesagt: Die Industriearbeit der 60er-Jahre entfällt heute. Und auch das Bildungsniveau und auch die Einstiegsvoraussetzungen heute sind andere und damit auch für die Migranten, die zu uns kommen, ganz andere Einstiegsvoraussetzungen.
    Herbert: Sieht so aus. In vielen Fällen ist es auch so. Ich bin da aber skeptisch, weil nämlich die klassische Industriearbeiterschaft, ungelernte Industriearbeiterschaft bei uns seit den 80er-Jahren sukzessive durch eine neue Unterschicht, die wir manchmal Prekariat nennen, gerade im Dienstleistungsbereich schlecht ausgebildete zu schlechten Löhnen, das ist doch nach wie vor ein sehr erheblicher Prozess. Und in diesen Bereichen, die Bulettenbräter, oder die Sicherheitsdienste, da ist der Anteil der Ausländer überproportional und das sind auch die Bereiche, in die ein erheblicher Teil der Flüchtlinge der 90er-Jahre, der Asylbewerber aus den 90er-Jahren zunächst mal hineingekommen sind. Dann differenziert sich das je nach Bildungsaufstieg oder nach Bildungshintergrund.
    Köhler: Hat Deutschland vielleicht auch trotz der Probleme gegenwärtig aufgrund dieser von uns gerade beschriebenen langen Migrationsgeschichte, Integrationsgeschichte, Einwanderungsgeschichte vielleicht bessere Voraussetzungen, um mit dem Problem umzugehen, als, sagen wir mal, die französischen Nachbarn? Ist aus dieser langen Geschichte ein gewisser historisch-kultureller Vorteil vielleicht zu ziehen?
    Herbert: Ja, das sagen alle Fachleute. Das ist ganz unbestritten. Die Situation der Menschen mit Migrationshintergrund - das schließt ja auch diejenigen ein, die mittlerweile deutsche Staatsbürger geworden sind, oder die Aussiedler, die einen erheblichen Teil, viele Millionen ausmachen, die spät aus Osteuropa nach Deutschland gekommenen -, die haben hier in der Bundesrepublik in den letzten Jahren einen immer größeren Anteil der Gesamtbevölkerung gestellt. Heute sind es fast 20 Prozent, ungefähr 20 Prozent. Die Erfahrungen im Arbeitsplatz oder auch in den Städten mit hohem Ausländeranteil sind insgesamt sehr viel besser als in den meisten vergleichbaren Ländern, insbesondere Großbritannien und Frankreich. Das hängt mit der wirtschaftlichen Lage in Deutschland zusammen, hängt aber auch damit zusammen, dass der Gewöhnungsprozess viel langsamer lief und die meisten Westdeutschen, die das Phänomen jetzt schon seit den 60er-Jahren kennen und auch die Vorteile der Anwesenheit von Migranten kennengelernt haben, neben allen Problemen, die sie damit verbunden haben, die spielen hier eine große Rolle, während in den Regionen, in denen der Ausländeranteil besonders gering ist und die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte fehlen - und das betrifft vor allen Dingen die ostdeutschen Länder, vulgo die ehemalige DDR -, sind diese Fremdheitswahrnehmungen viel größer.
    Auch die politische Gesamtlage spielt eine Rolle
    Köhler: Herr Herbert, wo ist Beschäftigung von Migranten in der Vergangenheit - und wir haben jetzt einen Zeitraum von über einem halben Jahrhundert gerade überblickt - in der Bundesrepublik geglückt und woran liegt das?
    Herbert: Sie ist eigentlich überall in allen Branchen geglückt in dem Maße, in dem sich zeigt, dass nach einer gewissen Eingewöhnungszeit die Differenzen zwischen Einheimischen und Nichteinheimischen auf den verschiedenen Arbeitsplätzen, in den verschiedenen Segmenten geringer werden. Das sieht man nicht nur an den leuchtenden Beispielen gut integrierter oder hochgradig berühmt gewordener Gastarbeiterkinder, die wir als Vorbilder in Deutschland haben, sondern das sieht man auch auf einer ganz normalen Ebene im Bereich der verschiedenen Sektionen der Wirtschaft, wobei es allerdings Rückschritte gegeben hat in den 90er-Jahren. So ist zum Beispiel der Anteil der türkischen Kinder, die aufs Gymnasium gegangen sind, in den 90er-Jahren zurückgegangen, und zwar als Reaktion auf die Pogrome der frühen 90er-Jahre. Das heißt, die Ablehnung, die massive Ablehnung, die gewalttätigen Pogrome in den frühen 90er-Jahren haben gerade einem Rückgang der Integrationsbereitschaft von Teilen der ausländischen Bevölkerung geführt und insofern ist die Frage, wo das klappt und wo nicht, nicht nur von der Bereitschaft der einzelnen, sich zu integrieren oder mit Ausländern zu kommunizieren, abhängig, sondern auch von der politischen Gesamtlage.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.