Hermann Theißen: Herr Neudeck, Sie haben 1979 mit der Cap Anamur damit begonnen, vietnamesische Bootsflüchtlinge im Südchinesischen Meer zu retten. Wenn Sie mal die Bedingungen und Konstellationen, in denen Sie damals gearbeitet haben, mit denen vergleichen, in denen sich heute Flüchtlingspolitik bewegt, überwiegen dann die Parallelen oder eher die Unterschiede?
Rupert Neudeck: Ich glaube, dass eher die Parallelen überwiegen. Das ist auch eine gewisse Normalität, dass Bürokratie, Administration, politische Kameralistik eigentlich für solche Aufgaben schlecht geschaffen sind und nicht gut ausgerüstet sind. Die sagen jedes Mal, ganz gleich, ob die Zahlen im dreistelligen oder im siebenstelligen Bereich sind, die sagen jedes Mal diesen berühmten Satz: Das Boot ist voll. Deshalb, die Parallelen sind mir eher geläufiger als die Unterschiede, die es natürlich auch gibt.
Theißen: Also insbesondere die Bürokratie bleibt, die bleibt quasi ewig, aber die politische Konstellation war doch eine ganz andere.
Neudeck: Das war der große Unterschied. Wir waren im Kalten Krieg, das darf man nicht vergessen. Der Kalte Krieg bestimmte alles. Wir waren erst mal diejenigen, die Flüchtlinge aus der richtigen Richtung gerettet haben - das war damals etwas ganz wahnsinnig Wichtiges. Wir hatten auch die Situation, dass ich mit meinen linken Freunden nicht gut zurande kam dabei. Wir hatten eine große linke Tradition, die uns sagen wollte: Was macht ihr da eigentlich? Wollt ihr denn diese Bordellbesitzer von Saigon alle aus dem Wasser holen, die Vietnamesen haben doch jetzt die Amerikaner besiegt und haben jetzt die klassenlose Gesellschaft erreicht, was macht ihr da eigentlich. Also diese beiden großen Faktoren spielten bei unserer Aktion eine ganz große Rolle.
"Das schaffen wir nicht mehr allein mit dem Institut des Asylrechts"
Theißen: Also auch damals schon gab es in der öffentlichen oder offiziellen Wahrnehmung schon eine Wahrnehmung von unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen. Die einen waren besser, willkommener als die anderen. Hat sich das heute geändert?
Neudeck: Ja, das hat sich in gewisser Weise erst mal geändert. Es gibt nicht mehr die klassische Unterteilung von Vietnamesen zu Chilenen, um das mal klar zu sagen, wie das damals so war. Das gibt es nicht mehr. Wir haben aber aufgrund der Weltsituation und der Situation um das Mittelmeer herum auch eine ganz, ganz neue Situation, die wir damals noch gar nicht gesehen hatten. Wir haben sehr viel mehr Menschen, die zu uns nach Europa wollen, die nicht unbedingt politisch verfolgt sind. Und das hat auch wieder seinen Grund darin, dass wir jetzt die Welt nicht mehr aufgeteilt haben in diejenigen und die anderen. Wir haben heute eine Situation, wo wir mit dem Asylrecht, das damals uns natürlich als das Allerhöchste der Gefühle erschien, das die Eltern des Grundgesetzes uns zurecht als große Gabe der Großzügigkeit in die Verfassung geschrieben haben.
Damit kommen wir heute alleine nicht mehr hin, weil es gibt heute Millionen Menschen, die allein um ihres Erhalts Willen und des Erhalts ihrer Familie, ihrer Großfamilie und ihres Dorfes unbedingt einen anchorman, einen jungen Menschen hierher schicken. Der soll dann was bringen, der soll für den Kredit, den er bekommen hat von dieser Dorfgemeinschaft, der soll unbedingt etwas bringen. Und diese Menschen müssen wir auch irgendwie aufnehmen, aber das schaffen wir nicht mehr allein mit dem Institut des Asylrechts.
Theißen: Was zeichnet heute einen guten Flüchtling, einen willkommenen Flüchtling aus, in den Augen der Behörden, und was einen nicht willkommenen Flüchtling?
Neudeck: Ich würde erst mal … Also für mich akzeptiere ich das natürlich sowieso nicht …
Theißen: Das habe ich unterstellt. Ich auch nicht.
Neudeck: Aber es gibt natürlich schon willkommene Flüchtlinge, und da würde ich wieder erst mal anfangen bei der Bevölkerung - die ist mir eigentlich lieber als Resonanzboden dafür. Die Bevölkerung ist eigentlich sehr großzügig, wenn es um konkrete Not in einer konkreten Kriegs- oder Naturkatastrophensituation geht, dann läuft unsere Gesellschaft zu Höchstformen auf.
"Die Situation muss so sein, dass man die Not sehen kann"
Theißen: Beispiel Syrien aktuell.
Neudeck: Beispiel Syrien, aber auch, um noch mal ein Beispiel davor zu sagen, bei der Bosnien‑Kriegskatastrophe war das auch damals ein Entschluss, der dazu geführt hat, dass knapp 400.000 Menschen und dann noch - das muss man heute sich auf der Zunge zergehen lassen - muslimische Bosnier hier aufgenommen wurden, mit großer Beteiligung aus der Bevölkerung. Die Situation muss so sein, dass man die Not sehen kann, in Anführungszeichen, und ohne, dass man klar sagen kann, das sind Menschen, die brauchen jetzt unbedingt einen Platz, auf dem sie ihren Kopf hinlegen können und ein Dach über dem Kopf. Es gibt natürlich weniger willkommene Situationen - und das muss man dann auch der Politik manchmal ein bisschen zurechtrücken -, in den Situationen, wo Menschen aus Ländern kommen, in denen Flüchtlinge erst mal nicht vorkommen.
Das hatten wir auch damals schon. Es gab den interessanten Fall, dass die Anerkennungsquote für Menschen aus Ländern, wo es ganz viele waren, die zu uns kamen, immer geringer wurde, während wenn aus einem Land, das wir kaum kannten vom Namen her, aus Afrika oder Lateinamerika oder Asien, wenn da mal einer oder eine Familie kam, dann bekamen die eigentlich sofort ihre Zustimmung. Also es geht manchmal auch um Zahlen dabei. Und dann haben wir natürlich die Situation heute, dass wir eine ganze Reihe, eine ganze große Gruppe von Menschen haben, in allen Asylheimen, die ich jetzt in letzter Zeit besucht habe, wo das bis über 50 Prozent geht, die aus dem kommen, was wir den Balkan nennen.
Und das muss man auch wieder im Einzelnen unterteilen: Da gibt es natürlich Menschen, die zwar hier aufgenommen werden, die aber in der Regel nicht das Asyl bekommen, und das Asyl ist wahrscheinlich auch für die nicht da. Da wäre es natürlich gut, wenn es endlich mal bei der Aufnahme eines neuen Landes in die Europäische Union in den acquis communautaire, also in dieses große Gesetzwerk, was dafür geradesteht, dass ein Land aufgenommen werden darf, wenn das reingenommen würde, dass ein Land, das in die Europäische Union kommt, alles in seiner Praxis und seiner Legislatur an Diskriminierungen vermeiden muss und ausräumen muss.
Und das betrifft ganz besonders die Flüchtlinge vom Balkan, weil da haben wir natürlich eine ganz große Gruppe, die in Deutschland auch sehr beachtet wird und sehr achtsam aufgenommen wird, die es zum großen Teil verdienen, dass sie auch hier ihren Platz finden - das sind Roma, Sinti, Aschkali oder, wie sie im Balkan auch heißen, Zigeuner, die haben dafür kein anderes Wort. Das wäre eine ganz wichtige Sache, dass die Europäische Union das versteht. Sie hat es immer noch nicht begriffen bei der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien, deshalb haben wir weiter ganz viele aus Rumänien und Bulgarien, was eigentlich ein Hohn ist. Wenn man sich vorstellt, dass die Mitglieder der Europäischen Union sind, aufgenommen nach allen Regeln der Kunst, und trotzdem diese Situation uns bieten.
"Das sind alles politische Kampfbegriffe"
Theißen: Es gibt ja diese grobe Unterscheidung auch im Alltagsbewusstsein, Flüchtlinge, die wegen Krieg und Verfolgung kommen auf der einen Seite und auf der anderen Seite die, die wegen Armut und Not kommen. Und da ist man ganz schnell bei dem Begriff Wirtschaftsflüchtling. Ist das eigentlich eine Kategorie, mit der man arbeiten sollte, kann man das überhaupt so unterscheiden, den Kriegsflüchtling und den Wirtschafts- und den Notflüchtling?
Neudeck: Nein, das kann man nicht, man darf es auch nicht. Das ist rechtlich unerlaubt, das zu tun.
Theißen: Man ist ja auch direkt beim Asylbetrug, wenn man von Wirtschaftsflüchtlingen …
Neudeck: Das sind alles politische Kampfbegriffe, die den Menschen nicht helfen und uns als Gesellschaft auch nicht helfen, weiter eine menschenfreundliche Gesellschaft zu sein. Es ist schon wichtig, Unterscheidungen zu machen, natürlich. Wenn wir jetzt die Mittelmeersituation sehen, dann haben wir eine Zwei- bis Dreiteilung dort, von denen, die ankommen, die diesen mörderischen Weg über das Meer machen: Wir haben die Syrer, die in der Tat, weil das Aufnahmeverfahren auch in den umliegenden Ländern so unglaublich schwierig und bürokratisch ist, die aus Verzweiflung es manchmal nicht aushalten und deshalb an die Küste sowohl der Türkei wie Ägyptens oder auch Tunesiens oder auch Libyens gehen, um dann nach Europa zu kommen.
Das sind Menschen, die wahrscheinlich im Konsens der deutschen Gesellschaft mittlerweile auch angenommen werden. Es hat auch damit zu tun, dass wir ein großes syrisches Exil haben, das auf uns passt. Das ist eine Mittelstandsgesellschaft, die syrische, mit sehr guter Ausbildung - wir haben wahrscheinlich über tausend syrische Ärzte, die unseren Gesundheitsdienst befördern. Das ist die eine Kategorie. Wir haben eine andere Kategorie, die hat wenig mit dem Asylparagrafen zu tun, in einzelnen Fällen aber doch, das sind die afrikanischen Migranten.
Das ist ein Problem, das Europa in den nächsten 20 Jahren außer Atem halten wird, das kann man jetzt schon sagen. Das hat damit zu tun, dass wir nicht mehr die Dritte Welt haben, sondern wir haben nur noch den Sorgenkontinent Afrika. Da ist es nicht gelungen, dass die afrikanischen 54 Staaten, die es gibt, die in der UNO sind, dass die einen Anschluss an den globalisierten Weltmarkt bekommen haben, wie es in den anderen Weltkontinenten der Fall ist. Und aus diesen Ländern nehmen junge Menschen, die zu Millionen, nicht nur zu Hunderttausenden sich auf den Weg machen … man spricht von 18 Millionen, die in Afrika auf dem Weg sind, sowohl nach Süden zur Südafrikanischen Union, das sind etwa vier bis fünf Millionen, aber eben auch an die Mittelmeerküste oder an die westafrikanische Küste.
Diese Menschen suchen nach einer Perspektive für sich und ihre Familie und ihr Dorf. Und diese Menschen, das sind eben keine politisch Verfolgten, sondern sie nehmen ein Menschenrecht der Charta der Vereinten Nationen in Anspruch, das sagt, dass jemand auf der Welt aus seinem Heimatland herausgehen darf, um für sich etwas Besseres zu holen. Das haben aber unsere Vorfahren auch schon gemacht - wenn man bedenkt, dass die nach Amerika und nach Südamerika gegangen sind.
Das sind zwei verschiedene Kategorien, die können sich manchmal überlappen. Wir haben zum Beispiel eine Gruppe, um die man sich sehr sorgen muss bei den Afrikanern, die sind wirklich total politisch verfolgt, in einer ganz schrecklichen Notlage, das sind die Eritreer. Die Eritreer sind in ein Regime hineingekommen, das eine nordkoreanische Diktatur darstellt, und die können eigentlich nur ihr Heil in der Flucht suchen, sind noch deshalb benachteiligt, weil sie keine Pipeline durch den Kontinent haben, durch freundliche Länder, sie müssen über den Sudan, über Ägypten, manchmal den Sinai kommen und werden ausgenommen nach allen Regeln des Verbrechens.
Um diese Gruppe muss man sich ganz besondere Sorgen machen. Aber es gibt eben diese beiden großen Kontingente von Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, und das sind beides Menschen, die aufgrund der Tatsache, dass sie alles in Kauf nehmen, manchmal einen monate-, manchmal jahrelangen Fluchtweg brauchen, um hierher zu kommen, würde ich die alle erst mal Flüchtlinge nennen, auch nicht mehr Migranten, sondern Flüchtlinge. Die sind Flüchtlinge, die verdienen, dass man sich um sie hier kümmert, auf welche Art auch immer.
"Es muss dieses tun, denn sonst verrät sich Europa"
Theißen: Sie argumentieren jetzt aus der Perspektive der Flüchtlinge, also die verschiedenen Motive, es wird natürlich bei den Aufnahmeländern andersherum argumentiert, und da vermischen sich ja moralische Motive mit utilitaristischen Motiven. Also Syrien zum Beispiel sei deshalb akzeptiert, weil, wie Sie gesagt haben, Mittelstandsgesellschaft, qualifiziert, kann man in unserer Arbeitswelt gut gebrauchen. Wie geht man mit dieser Mischung aus utilitaristischen und humanitären, moralischen Werten um?
Neudeck: Ich würde dafür plädieren, dass man sich immer klarmacht, dass es nie eine reine moralische Argumentation und Motivation gibt und nie eine reine utilitaristische oder nützliche. Es gibt immer Mischformen dabei. Ich wollte das mit den Syrern nur sagen deshalb, weil manchmal ist es eben auch nützlich für die Gesellschaft, wenn sie ein moralisches Prinzip - und das ist tatsächlich die uralte Forderung der Menschheit, save our souls, Menschen in Seenot zu retten. Wenn man dieses Mandat der Weltgemeinschaft nicht aufgibt, dann kann es so sein, dass einer Gesellschaft das sogar zu Nutzen sein kann.
Aber der Grund - das war eben auch für uns bei Cap Anamur so -, der Grund, so etwas zu tun, ist, es nicht zuzulassen, dass in einem Einzugsbereich, den wir mit beherrschen können - jetzt das Mittelmeer, damals das Südchinesische Meer -, dass man dort nicht freiwillig einfach darauf verzichtet, das Notwendige zu tun, um Menschen aus Seenot zu retten. Bei den Vietnamesen damals wussten wir das natürlich überhaupt nicht, wir wussten nur, dass die ganz weit von uns entfernt sind, auf der anderen Seite des Globus.
Jetzt haben wir aber dieses wunderbare, glückliche Ergebnis, dass wir dafür belohnt werden geradezu, denn das ist die ausländische Gruppe in der Bundesrepublik Deutschland, die es wahrscheinlich geschafft hat, sich den Höchstgrad an Anerkennung zu erwerben, denn Stadtdezernenten in Deutschland sagen wir das immer wieder: Herr Neudeck, wenn wir mit allen so wenig Probleme hätten wie mit den Vietnamesen, hätten wir gar keine Arbeit mehr. Also manchmal kommt das eben dazu als Morgengabe, aber man macht es nicht deshalb, man darf es nicht deshalb tun. Wenn das Wort von der Wertegemeinschaft und von der Werteverfassung und von der Wertegemeinschaft Europäische Union, wenn das einen Sinn machen soll, dann kann Europa sich nicht verraten und muss diese Menschen auf dem Mittelmeer versuchen zu retten und aufzunehmen, ganz gleich wie. Es muss dieses tun, denn sonst verrät sich Europa.
"Wir könnten diese Menschen ja selbst rüberbringen zu uns"
Theißen: Als Sie Cap Anamur, die Aktion gemacht haben, haben Sie sich ja, wenn man so will, als Fluchthelfer betätigt, das ist sozusagen die positive Konnotation. Ich kann es auch negativ konnotieren: Sie waren ein Schlepper. Sind Sie ein Schlepper gewesen?
Neudeck: Ja, dazu muss ich einfach subjektiv mal etwas sagen, weil ich das doch sehr interessant finde - subjektiv war ich in der Tat gerade bei den damaligen Medien der DDR als Schlepper und Schleuser ausgeguckt. Das war für uns natürlich ein Ruhmestitel, den wir damals hatten. Es war eben Kalter Krieg und deshalb galt alles, was von dort kommt, natürlich eher als eine Ehrenbezeichnung. Ich denke aber manchmal, dass es sehr heuchlerisch ist, wenn wir dauernd nur von den Schlepper- und Schleuserbanden sprechen, denen wir das Handwerk legen müssten. Ich denke das aus zwei Gründen: Zwischendurch fällt mir immer ein, dass ich mir in einer Zeit, in der ich gerade mal geboren war, hätte ich mir wahrscheinlich nachträglich gewünscht, wir hätten Schlepper- und Schleuserbanden an der Ostsee und der Nordsee gehabt, und die hätten jüdische Mitbewohner, ganz gleich für wie viel Geld auch immer, aufgenommen.
Um es klarzumachen: Diese Schlepper und Schleuser sind in der Situation jetzt an der ägyptischen Küste - ich hab das in Alexandrien mir jetzt angesehen -, die sind die letzte Hoffnung für manche Menschen. Und dass sie das auf dem Markt machen … Also wir haben eine Situation, die eigentlich normal ist, weil alles, was wir sonst in der Gesellschaft und im Wirtschaftsleben haben, wird auf dem Markt ausgetragen durch Angebot und Nachfrage, und so haben wir eine Situation, die wir selbst geschaffen haben, denn wir könnten diese Menschen ja selbst rüberbringen zu uns. Die Syrer zum Beispiel könnten wir alle rüberbringen, mit Flugzeugen oder mit Schiffen, denn die sind ganz sicher, dass sie Asyl bekommen könnten.
Und deshalb verstehe ich nicht, weshalb man jetzt heuchlerisch immer den Finger zeigt auf diese Schlepper- und Schleuserbanden. Wir könnten denen das Handwerk legen, wir tun das aber nicht. Diese Schlepper- und Schleuserbanden - um das Wort einfach jetzt nur ohne Anführungszeichen weiter zu benutzen -, diese verdienen sich in den letzten zehn Monaten dumm und dämlich.
Theißen: Ja, das ist das eine, aber der Schleuser oder die Schleuser werden ja als das Böse an sich dargestellt. Wenn ich denen einen Schutzpatron andichten sollte, dann würde ich den listigen und zwielichtigen Hermes nehmen, der einerseits der Schutzpatron der Geschäftsleute und Reisenden ist, auf der anderen Seite aber der der Diebe, und der sich an der Grenze zwischen Leben und Tod, also am Styx, wunderbar auskennt.
Neudeck: Das wäre ein Vorschlag, den ich an Ihrer Stelle durchaus dem Vatikan unterbreiten würde, denn das würde die Situation auch ein bisschen entkrampfen. Wir sind in einer schrecklich manichäischen Diskussion, indem wir eben Gute und Böse da gegeneinander ausmanövrieren. Wir haben eine große Weltorganisation, die könnte diese Flüchtlinge transportieren, die hat die Schiffe dazu. Es gibt sogar noch eine zweite, die aus dem Zweiten Weltkrieg rübergekommen ist, das ist der IOM. Wir haben zwei riesige Organisationen, die könnten dieses Geschäft, das dann ein humanitäres wäre, in einer Weise menschenfreundlich und ohne Todesfälle und ohne Ertrinken leisten, wie man sich das besser gar nicht vorstellen könnte, und diese Menschen würden nicht so furchtbar viele Traumatisierungen erleiden auf dem Wege, die sie jetzt erleiden. Also wir müssen wegkommen von diesem Schuldvorwurf gegenüber denen, die in mancher Hinsicht für diese Menschen, die alles verloren haben und völlig am Ende sind, die letzte Hoffnung darstellen.
"Wir müssen diesen Menschen gleich erlauben, in den Arbeitsprozess zu gehen"
Theißen: Nach aktuellen Schätzungen soll es in diesem Jahr rund 450.000, 500.000 Asylsuchende in Deutschland geben, das sind doppelt so viele wie im letzten Jahr. Die Politiker scheinen davon völlig überrascht zu sein, akquirieren Turnhallen, bauen Zeltdörfer und stecken die Leute immer enger zusammen, und der Innenminister warnt vor einem Kollaps der Flüchtlingspolitik. Wie dramatisch ist die Situation wirklich?
Neudeck: Ich will durchaus sagen, dass das schwierig ist. Ich kenne ja die andere Seite auch, und das ist nicht einfach. Wir leben in einer unglaublich penibel-ordentlichen Welt, die durch Vorschriften gekennzeichnet ist, durch Regelungen an allen Ecken und Enden. Das ist für Kameralisten, also für Beamte der Verwaltung, nicht einfach, diese Situation zu handeln, das muss man denen zugestehen. Dennoch müssen wir sagen, wenn unsere Gesetze ein bisschen flexibler und praktischer werden - das muss werden in den nächsten Monaten.
Wir müssen diesen Menschen gleich erlauben, in den Arbeitsprozess zu gehen. Wir müssen ihnen gleich erlauben, die Sprache zu lernen. Diese jungen Menschen vibrieren von Aktivität. Die werden zum Teil von unseren Bestimmungen bis über zwei Jahre still gestellt. Die Bertelsmann-Stiftung hat ja in ihrer Studie rausgebracht, dass für Afghanen es 16,7 Monate dauert, bis ein Bescheid kommt, und bei den Pakistanis 17,6 Monate, das sind fast zwei Jahre. Ich könnte das nicht aushalten, ein Leben, in dem ich nichts zu tun habe.
Und die Verwaltungen zwingen diese Menschen in diese Unbeweglichkeit. Gleichzeitig schafft das diese Vorurteile in der Gesellschaft, dass die ja nur vom Staat leben. Das wollen diese aber gar nicht, das wollen die überhaupt nicht. Manche schämen sich dafür, dass sie das nicht selbst leisten können, für sich und ihre Familien, aber es gibt keine Möglichkeit bisher, dass das rigoros geändert wird. Es gibt Hinweise darauf, dass die Verwaltung das längst begriffen hat, sie geht aber in viel zu kleinen Dosen darauf zu.
Also dieser Beschluss, dass es nach drei Monaten möglich sei, die Menschen in den Arbeitsprozess reinzulassen, ist erst mal … drei Monate ist auch eine lange Zeit, und dann muss das mit dem Arbeitsamt vermittelt werden, dann sind es doch wahrscheinlich sechs Monate. Wir müssen diese 400.000 oder 500.000, die wir vielleicht hier dann hätten, die können sehr wohl auch woanders, die können auch sich selbst bewegen und selbst Quartiere suchen, wenn sie dann einen Arbeitsplatz haben oder wenn sie bezahlt werden. Es ist gar nicht notwendig, dass die Verwaltung immer alle gleich in Turnhallen oder Container unterbringt, das geschieht aber aufgrund unserer Sicherheitshysterie, mit der wir eben aufpassen müssen, dass hier nicht ein Stück Geheimdienstagent aus Irak oder Syrien reinkommt, was wir sowieso nicht verhindern werden. Deshalb, es wäre mit einer besseren Flexibilität sehr viel mehr Menschen geholfen, und die Verwaltung hätte auch nicht so viel Ärger, wenn wir ein bisschen praktischer mit diesen Menschen und menschenfreundlicher umgehen würden.
"Wir haben noch keine europäische Flüchtlingspolitik"
Theißen: Wir haben jetzt über deutsche Verhältnisse geredet, wenn wir auf Europa blicken, da sieht es ja in manchen Ländern, ich sag mal, recht düster aus. Wie ist es bestellt um das Friedensprojekt Europa in Bezug auf Flüchtlingspolitik?
Neudeck: Das ist noch schlicht nicht geleistet. Wir haben noch keine europäische Flüchtlingspolitik, obwohl ich vor einem Jahr geschworen hätte, dass wir sie heute schon haben. Wir haben das bisher nicht geschafft. Ich würde dafür plädieren, dass die Länder in Europa, die schon bereit sind zu einer wirklichen Flüchtlingspolitik - und dazu gehört ganz besonders die Bundesrepublik Deutschland, mein Land, dazu gehört aber auch Schweden, dazu gehören die Niederlande, Frankreich, also diese sieben, acht, neun, zehn Länder -, die sollten eigentlich innerhalb der Europäischen Union schon mal einen Verbund gründen.
Diese Klugheit hat es ja in der Europäischen Union immer gegeben, dass man nicht alle Staaten gleich verpflichtet, in die Schengenabkommen reinzugehen, auch in die Euroländer sind nicht alle reingegangen. So könnte man jetzt aber schon mal einen europäischen Verbund schaffen, der sich dann erweitern ließe. Ich denke, das wäre sehr günstig, weil wir brauchen schon ein gemeinsames Handeln in der europäischen Politik, und es reicht nicht, wenn man mit Hauptquartier in Warschau die Frontex gegründet hat. Das ist weder eine Lösung des Flüchtlingsproblems, noch ist es eine akzeptable Maßnahme, die man politisch ausnutzen könnte.
Theißen: Europa ächzt und stöhnt ja über den Ansturm der Flüchtlinge, wie es so noch immer heißt, und dabei wird leicht aus dem Auge verloren, dass es, wenn man mal die Welt ins Auge nimmt, ganz anders aussieht. Die größten Flüchtlingsströme, 80 Prozent sagen die Statistiker, gehen in die südliche Hemisphäre, also in die ärmeren Länder.
Neudeck: Ja, das muss man sich immer wieder klarmachen, man darf aber auch nicht vergessen, der Kontinent - und darauf bin ich eigentlich stolz und darauf sollten wir auch stolz sein - ist einfach ein Hort der Sicherheit für die Menschen. Es gibt auf dieser Welt in den weitesten Teilen nicht diesen Rechtsstaat und Sozialstaat als Errungenschaft, das spüren die Menschen, und man kann auch nicht vergleichen die 1,4 Millionen Syrer im Libanon mit den 200.000, die wir jetzt hier neu aufgenommen haben. Im Libanon kümmert sich niemand, keine Regierung kümmert sich um irgendwen, da ist jeder vogelfrei.
Der wird zwar nicht rausgeschmissen aus dem Land, aber die müssen sich auf der Parzelle, auf der Syrer im Libanon ihr Zelt aufbauen - auch das darf man nicht nur idealistisch sehen. Es wäre gut, wenn wir uns klarmachen, dass die Belastung der Länder um Syrien herum ganz gewaltig ist, auch die Belastung der Länder in Nordafrika ist gewaltig. Aber eine menschenfreundliche Aufnahme, wie wir sie wollen in Europa, die müsste ganz anders aussehen, als diese Lager in Syrien, in der Türkei, in Jordanien, im Libanon aussehen.
"Den meisten Regierungen in Afrika ist es total egal, was mit ihren jungen Leuten geschieht"
Theißen: Wir haben noch nicht gesprochen oder nur am Rande gesprochen über die Gründe für die zunehmenden Fluchtbewegungen. Sie haben neben den Kriegen Afrika sozusagen als Problem schon mal benannt.
Neudeck: Das Problem ist, dass die Mehrzahl dieser Länder es noch nicht geschafft hat zu einer Regierungsführung oder einer Elite, die sich um das Volk kümmert. Den meisten Regierungen in Afrika ist es total egal, was mit ihren jungen Leuten geschieht, wie die umkommen auf dem Wege durch die Sahara oder über das Mittelmeer. Es gibt noch keine einzige Bekundung der Trauer und der Traurigkeit eines afrikanischen Staatschefs, nicht mal bei den Staatsbesuchen hier, über dieses furchtbare Los von mittlerweile über 20.000 Ertrunkenen.
Das ist ein bedenkliches Zeichen, und das zeigt, dass wir in Afrika noch vor einer weiteren Revolution stehen. Diese Revolution wird sicher kommen, wir haben auch Anzeichen dafür, es gibt Andeutungen dafür, dass die junge Gesellschaft, dass die Jugendlichen dort auch nicht mehr bereit sind, das so hinzunehmen. Die Burundi-Revolte jüngst, die in Deutschland kaum wahrgenommen wurde, war sicher eine Jugendrevolte, eine erste wahrscheinlich. Und man soll auch nicht zu schnell sagen, dass Revolten oder Rebellionen gescheitert sind, auch im arabischen Raum sind die Rebellionen nicht gescheitert.
Diese jungen Leute werden sich auf Dauer das nicht gefallen lassen, was ihre Regime gemacht haben. Dass das jetzt noch Zeiten dauert, dass es Rückschläge gibt, das wissen wir aus der Zeit der Französischen Revolution, die auch nicht im Juli 1789 beendet war, da gab es wahnsinnige Rückschläge. Da gab es den Terreur, da gab es Robespierre, da gab es Napoleon - da gab es Rückschläge, die eigentlich uns heute unter dem Gesichtspunkt des Aktualitätsterrors sprechen lassen würden von einer gescheiterten Revolution. Nein, ich glaube, dass diese arabische Revolution ihre Fortsetzung finden muss in afrikanischen Ländern, denn diese Regierungen sind in der Regel nicht in der Lage zu sehen, was ihre Bevölkerungen brauchen, und sind nicht bereit gewesen, bisher für ihre Bevölkerungen einen entsprechenden wirtschaftlichen Aufschwung zu schaffen, damit die jungen Leute da bleiben und auch gerne da bleiben in ihren Ländern.
Theißen: Das Versagen und der Zynismus der afrikanischen Eliten ist das eine Problem und auch ein älteres Problem, aber es kommen ja auch von uns verursachte Ursachen hinzu - ich denke beispielsweise an Land Grabbing. 200 Millionen Hektar Land sind von ausländischen Regierungen und Firmen in den letzten Jahren in den armen Ländern, vor allen Dingen in Afrika gekauft worden, die werden benutzt, um nachwachsende Rohstoffe zu produzieren, die wir für unsere grüne Energiewende hier brauchen, oder um seltene Erden und Erze abzubauen, die wir für unsere Computer brauchen, also das heißt, den Ländern wird Land entzogen, was eigentlich zum Leben gebraucht wird. Ist es da nicht völlig legitim, dass Afrikaner sagen, wir gehen in den Westen und holen uns unser Land, unseren Lebensraum zurück?
Neudeck: Wenn sie das täten, würde ich gerne mit ihnen mitgehen, wenn sie das revolutionär verstehen, aber sie verstehen es in der Regel nicht so, sondern sie sind erst mal für sich selbst und ihre Familie unterwegs und nehmen Wahnsinniges in Kauf. Aber es ist richtig, wir wissen das schon lange. Wir haben eine europäische Landwirtschaftspolitik betrieben, die Afrika zurückgeworfen hat. Wir nehmen Rohstoffe alle auf. Ich weiß, in Nouadhibou, an der Küste von Mauretanien, sehe ich immer, dass die Schiffe von Europa auf Reede in einer Reihe liegen, die dort die Erze* aufnehmen aus diesem riesengroßen Flächenland, und mein Freund, der Pater Jérôme, sagt dann immer, ja, das nimmt sich Europa - aber die Flüchtlinge wollen wir nicht haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rupert Neudeck, geboren 1939, begann als Journalist 1971 in Köln für die katholische Funk-Korrespondenz zu arbeiten und war ab 1977 Redakteur des Politischen Feature im Deutschlandfunk. Der promovierte Philosoph ist seit Jahrzehnten weltweit in der Flüchtlingshilfe aktiv. Mit Unterstützung von Heinrich Böll gründete er die Initiative "Ein Schiff für Vietnam", die sich ab 1979 für die Betreuung vietnamesischer Flüchtlinge stark machte. 1982 ging aus der Initiative die Hilfsorganisation "Komitee Cap Anamur/Deutsche Notärzte e.V."hervor, die allein zwischen 1979 und 1982 mehr als 9.500 vietnamesischer Boatpeople im Südchinesischen Meer bergen konnte.
* In einer ersten Abschrift des Interviews stand hier aufgrund eines Hörfehlers "Ärzte".