Christiane Florin: Herr Ott, Sie lehren als Professor für Philosophie und Ethik in Kiel. Sie sind Mitglied der Grünen und engagieren sich in der evangelischen Kirche. Haben Sie im vergangenen Jahr ein "Refugees Welcome"-Schild hochgehalten?
Konrad Ott: Nein, weil mir diese ganze Refugees-Welcome-Kultur von Anbeginn an ein bisschen merkwürdig vorkam. Sie war zwar von sehr achtenswerten, anerkennenswerten moralischen Motiven getragen. Aber mir wurde sehr schnell klar, dass diese Bilder mit "Refugees welcome" in aller Welt zu sehen sehr würden und damit einen ungeheuren Pull-Faktor darstellen, dass nämlich viele Leute sagen würden: "Jetzt lohnt es sich, dass wir uns auf den Weg machen. Deutschland hat offene Grenzen. Wir sind dort willkommen." Deshalb glaube ich, dass die Willkommenskultur den Zustrom mit ausgelöst hat.
Florin: Sie befassen sich normalerweise mit der Ethik der Umwelt. Jetzt haben Sie ein Buch geschrieben mit dem Thema Zuwanderung und Moral. Warum?
Ott: Als im Sommer der Zustrom größer und immer größer wurde, habe ich mich von Menschen umgeben gesehen, die Gesinnungsethik vertreten haben. Nicht nur an meinem Lehrstuhl, auch in meiner Familie, auch in meiner Partei, auch in meiner Kirche. Ich habe mich dann motiviert oder vielleicht sogar genötigt gesehen zu sagen: So einfach ist das nicht.
Florin: Aber wer bestimmt denn im Moment die öffentliche Meinung und die veröffentlichte Meinung: Sind das wirklich noch die Gesinnungsethiker? Sind es die Verantwortungsethiker? Oder die Fanatiker?
Ott: Ich hoffe, dass die Fanatiker die Diskussion nicht bestimmten werden. Wir brauchen momentan sehr viel Urteilskraft, sehr viel Nüchternheit und sehr viel Vernunft. Was man sehen konnte, war, dass in den Monaten August bis Oktober eine gewisse kulturelle Hegemonie der Gesinnungsethik in den Medien zu spüren war, dass aber dann allmählich der Wind sich ein bisschen gedreht hat. Mittlerweile konkurrieren beide Positionen in der Zivilgesellschaft und im politischen Raum relativ scharf miteinander um die besten Gründe und um die vernünftigsten Handlungsstrategien für die kommende Zeit.
Florin: Können wir es etwas konkreter fassen: die gesinnungsethische Position in der Flüchtlingspolitik, was umfasst die genau?
Ott: Unter Gesinnungsethik verstehe ich eine Position, die von bestimmten normativen Grundprinzipien ausgeht. Das ist in diesem Falle der normative Individualismus, dass man sagt, alle Menschen sind zunächst einmal an Rechten und Würden gleich. Dann die Anerkennung von bestimmten Fluchtgründen, wie politische Verfolgung oder Flucht vor Krieg, vor Bürgerkrieg usw.
Florin: … aber das ist doch keine Gesinnungsethik, das ist das Grundgesetz.
Ott: Was die Gesinnungsethik dann auszeichnet ist, dass man anfängt die Fluchtgründe auszuweiten. Politische Verfolgung ist natürlich auch für mich ein Asylgrund. Aber Gesinnungsethik zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Fluchtgründe immer weiter und weiter fasst. Und wenn ich recht habe, dann begibt sie sich damit auf eine Art Abhang, man könnte sagen einen "slippery slope". Und am Ende dieses Abhangs steht dann so etwas, was auch einige Ethiker fordern, wie open borders, also offene Grenzen.
Florin: Ist Angela Merkel, die jahrelang je nach Standpunkt als Pragmatikerin geschätzt oder gescholten wurde, eine Gesinnungsethikerin?
Ott: Sie ist im Sommer 2015 gesinnungsethisch losgaloppiert.
Florin: Und jetzt?
Ott: Jetzt versucht sie Pläne zu schmieden für eine stärker verantwortungsethische Position. Sie war im Sommer motiviert, sie wollte Deutschland als ein anderes Land darstellen, als ein aufnahmewilliges Land. Sie hat immer von den europäischen Werten geredet, sie hatte immer einen starken humanitären Gestus. Ich will das überhaupt nicht verurteilen. Ich bin kein Feind der Gesinnungsethik. Ich möchte einfach versuchen, diese beiden Moralen in ihrer jeweiligen Logik zu verstehen. Und jetzt versucht Frau Merkel, ihre damalige Position zu korrigieren. Ob ihr das gelingen wird, ist derzeit offen.
Florin: Was ihr dem Geringsten tut, das habt ihr mir getan, sagte Jesus. Den Satz zitieren Sie auch in Ihrem Buch. Papst Franziskus hat kürzlich gesagt, wer wie Donald Trump nicht Mauern einreißen, sondern die Grenzzäune erhöhen will, der sei kein Christ. Ist klar, dass Christen Gesinnungsethiker sein müssen?
Ott: Diese Stelle im Matthäus-Evangelium ist auslegungsbedürftig. Es konkurriert da eine historisch-kritische Bibelinterpretation mit einer stärker theologisch-ethischen Interpretation. In der kritischen bibelwissenschaftlichen Interpretation sind mit den geringsten der Brüder nur die christlichen Wandermissionare gemeint. Man kann das natürlich so auslegen, dass man sagt: "In jedem Flüchtling, in jedem, der seine Heimat verloren hat, erscheint das Bild Jesu Christi." Dann muss ich konsequent sagen, ein Flüchtling ist ein Wesen, dem gegenüber ich so verpflichtet bin wie ich es dem Erlöser selbst gegenüber bin.
Florin: Dieser Ansicht sind Sie aber nicht?
Ott: Dieser Ansicht bin ich nicht, nein. Obwohl ich nach wie vor glaube, dass ich mich zur christlichen Kirche zählen kann. Aber ich würde nicht so weit gehen wie manche Pfarrerin und Pfarrer, dass ich sagen würde: "Gott hat uns alle Flüchtlinge als Geschenke vor die Füße gelegt und wir müssen dankbar sein, dass wir diese Geschenke vorfinden und müssen uns dieser Geschenke würdig erweisen." Das ist eine typische gesinnungsethische Haltung, die für unsere säkularen Mitbürger nur schwer nachvollziehbar ist, weil sie natürlich die Voraussetzung einer solchen starken Position – jeder Flüchtling ist ein Geschenk, das uns Gott vor die Füße gelegt hat – nicht akzeptieren müssen.
Florin: Mein Eindruck ist, dass Sie vor allem den Gesinnungsethikern mit Ihrem Buch ins Gewissen reden, indem Sie zum Beispiel aufzeigen, was es tatsächlich bedeutet, offene Grenzen zu fordern. Oder was es bedeutet, nur das Individuum zu betrachten und nicht die Folgen für ein Land wie Deutschland, für die Gesamtheit der Deutschen. Was ist mit denen, die hasserfüllte Parolen rufen, wie wir das in Clausnitz und Bautzen gesehen haben und an vielen anderen Orten. Erreichen Sie die mit Ihren ethischen Überlegungen auch?
Ott: Nein. Da muss man aus verantwortungsethischer Sicht sagen: ganz klare Abgrenzung. Alle Flüchtlinge, die wir jetzt auf legale Weise ins Land holen, die stehen unter dem Schutz der grundgesetzlichen Ordnung. Damit haben sie das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit. Die Rechtsordnung schützt sie in allen Hinsichten. Brandstiftung ist etwas für den Staatsanwalt und etwas für die Polizei. Solche Handlungen sind schlechterdings indiskutabel und auch die Verantwortungsethiker werden sie in keiner Weise billigen, unterstützen oder Beifall klatschen. Deshalb muss die Verantwortungsethik sich klar von Menschen distanzieren, die solchen Taten zuneigen, sie begehen, sie unterstützen. Da gibt es kein Vertun.
Florin: Kann die AfD ethische Begründungen für sich in Anspruch nehmen?
Ott: Was heißt Ethik? Ich würde immer unterscheiden zwischen Moral und Ethik. Ethik ist eine Reflexionsdisziplin, die unterschiedliche moralische Auffassungen analysiert auf ihre Voraussetzungen und auf ihre Konsequenzen hin. Genau das habe ich mit dem Buch tun wollen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass die AfD versucht, irgendeine Art von moralischer Positionierung aufzubauen, Verteidigung des Abendlandes oder so etwas . Dann muss man aber genau hinschauen, auf welchen Voraussetzungen das beruht. Das wird nicht mehr der normative Individualismus der Menschenrechte unbedingt sein. Und welche Konsequenzen wird das haben? Welche völkischen Positionen werden dann wieder vorgebracht? Aber die AfD ist momentan, das sagt ja sogar einer ihrer führenden Vertreter, der Herr Gauland, nicht regierungsfähig. Und sie hat sich auch noch nicht so geäußert, dass man da als Ethiker irgendetwas analysieren könnte.
Florin: Sie fordern am Ende Ihres Buches einen gesellschaftlichen Diskurs über die Flüchtlingspolitik, ein Ringen um gesinnungsethische und verantwortungsethische Positionen. Wie viel Zeit haben wir denn für diesen Diskurs?
Ott: Ich glaube, wir haben im Moment vielleicht eine kleine Atempause. Ich fordere natürlich als alter Habermas-Schüler immer den Diskurs. Aber die Frage ist: Bleibt uns im Moment tatsächlich die Zeit, alle Argument soweit auszudiskutieren, dass wir im Einvernehmen mit der Bürgerschaft eine gemeinsame politische Linie finden werden? Da bin ich zunehmend skeptisch. Was wir auf jeden Fall vermeiden sollten ist, dass wir als Bürgerschaft uns an dieser Frage tief und bitter zerstreiten. Die Kraft der Entzweiung, die dieser Frage innewohnt, ist so groß, und das sieht man jetzt in Europa, dass man im Grunde sagen muss: Der innere Frieden der Bürgerschaft ist auch ein sehr, sehr hohes Gut und darf bei dieser Frage nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Florin: Was gefährdet den inneren Frieden?
Ott: Den inneren Frieden gefährdet die zunehmende Tendenz zur Polarisierung und die um sich greifende, massive Unzufriedenheit in bestimmten Teilen der Bevölkerung mit dieser Politik. Wenn man das Volk mal in den Bussen, in der Eisenbahn reden hört, - ich lebe in Vorpommern -, dann hat man den Eindruck, dass die AfD bei den nächsten Landtagswahlen bei 15 plus landen wird und dass wir dann damit rechnen müssen, dass diese Kräfte parlamentarisch sehr stark vertreten sein werden. Die AfD ist im Grunde für viele Menschen sehr viel eher wählbar als die NPD.
Florin: Ist die AfD wirklich so stark oder ist die Mitte so schwach?
Ott: Ich halte die zivile bürgerliche Mitte für sehr, sehr stark. Ich glaube, dass die bürgerliche Mitte gerade in Teilen Westdeutschlands, in Teilen Süddeutschlands sehr stark noch von grünen, rot-grünen, liberalen, toleranten Ideen geprägt ist. Wir müssen in den nächsten Jahren sehen, dass diese Kräfte bei der Flüchtlingspolitik eine treibende Rolle spielen werden. Das Problem ist: Die Bürgerschaft scheint sich zunehmend auseinander zu dividieren. In vielen kritischen Fragen – Griechenlandkrise, Ukraine-Krise, deutsche Einigung – haben wir teilweise sehr große Erfolge erzielt. Nur bei dieser Problematik sehe ich miteinander die auseinanderdividierenden Kräfte als sehr, sehr stark an. Das erfüllt mich mit großer Sorge.
Florin: Das "Wir", von dem Angela Merkel in ihrem berühmtem Satz "Wir schaffen das" gesprochen hat, ist in Gefahr?
Ott: Es wird zunehmend schwierig zu sagen, wer denn dieses "Wir" ist, das "das" schaffen soll. Das "Wir", das darf ich mal als Philosoph sagen, ist eine der ideologischsten Vokabeln überhaupt. Man appelliert immer als ein "Wir" und tut das umso lauter, je weniger es ein kollektives "Wir" tatsächlich noch gibt.
Konrad Ott lehrt Philosophie und Ethik der Umwelt an der Universität Kiel. Von ihm ist gerade erschienen: Zuwanderung und Moral. Reclam. 96 Seiten, 6 Euro.
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