Martin Zagatta: Auch Flüchtlinge aus dem Senegal drängen nach Europa. Mehr Flüchtlinge also aus Afrika. Aber das Abkommen mit der Türkei zeigt Wirkung, die Balkanroute ist weitgehend geschlossen. Es kommen weniger Flüchtlinge nach Europa als vor zwei Jahren noch. Italien schlägt dennoch Alarm, weil das Mittelmeer von Libyen aus zur Fluchtroute geworden ist. Mehr als 100.000 Menschen sollen so schon in diesem Jahr auf diesem Weg nach Europa gekommen sein. Gerald Knaus ist am Telefon. Er ist der Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative, berät die Bundesregierung und andere europäische Politiker und soll ganz maßgeblich das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei auf den Weg gebracht haben. Guten Morgen, Herr Knaus!
Gerald Knaus: Guten Morgen!
Zagatta: Herr Knaus, ist das, verglichen mit vor zwei Jahren, eine geringere Zahl von Flüchtlingen – das ist ja unbestritten, dass die Zahl da zurückgegangen ist –, oder stehen wir tatsächlich vor einer neuen Flüchtlingskrise?
Knaus: Man muss unterscheiden. Wir haben hier zwei sehr unterschiedliche Situationen, und vor allem haben wir im zentralen Mittelmeer im Gegensatz zur Ägäis seit vielen Jahren keine glaubhafte Strategie. Während wir aus der Türkei eine geringere Zahl von Menschen haben, die sich in Boote setzen, und eine sehr erfreulich niedrige Zahl von Menschen, die ertrinken – in den letzten Monaten war es niemand in der Ägäis –, haben wir im zentralen Mittelmeer die größte Katastrophe in den letzten vier Jahren, die es dort je gab, im letzten Jahr kamen mehr Menschen als je zuvor, mehr Leute, die ertranken, als je zuvor, und in diesem Jahr bislang neue Rekordzahlen. Das heißt, die EU hat in der Ägäis eine Strategie entwickelt, im zentralen Mittelmeer haben wir keine. Das führt dazu, dass jeden Tag zwischen 15 und 20 Menschen ertrinken.
"Nur grundlegende Reform der EU-Asylpolitik könnte Italien helfen"
Zagatta: Da wird ja vor allem beklagt, dass Italien sich im Stich gelassen fühlt, weil sich zahlreiche EU-Staaten weigern, Flüchtlinge dann aus Italien aufzunehmen. Wie lässt sich das erzwingen?
Knaus: Das Grundsatzproblem liegt ja viel tiefer. Wir haben seit 20 Jahren in der Europäischen Union ein System für den grenzlosen Raum, den Schengen-Raum. Ein System, das vorsieht, dass diejenigen, die die EU erreichen, grundsätzlich im ersten Land, wo sie ankommen, den Asylantrag stellen müssen. Die Idee dahinter war einmal, dass man nicht lange warten muss als Asylantragsteller, und dass man auch nicht in der Lage ist, in verschiedene Länder zu gehen und das mehrmals zu probieren. Aber das Ergebnis hat nie funktioniert. Es war nie möglich, wirklich klarzustellen, dass Leute das tun. Heute ist Italien in einer Situation, wo rechtlich eigentlich jeder, der nach Italien gebracht wird aus internationalen Gewässern, dazu verpflichtet ist, in Italien zu bleiben, dort registriert zu werden, und Italien dadurch aufgrund des europäischen Systems eigentlich selbst verantwortlich ist für die gesamte Anzahl von Menschen, die da kommen. Und die Umverteilung ist so entwickelt worden, dass sie eigentlich nur ganz wenige der Gruppen betrifft, die in Italien ankommen, denn nur diejenigen, die aus Ländern kommen mit einer sehr hohen Anerkennungsquote, können umverteilt werden. Und fast alle, die in Italien ankommen derzeit, mit wenigen Ausnahmen, kommen aus Ländern, wo die Anerkennungsquote für Flüchtlingsstatus gering ist. Das heißt, derzeit ist es gar nicht möglich, so wie die EU das Umverteilungsprogramm entwickelt hat, aus Italien den Großteil der Menschen umzuverteilen. Das heißt, wir haben ein systematisches Problem. Nur eine grundlegende Reform der EU-Asylpolitik könnte Italien wirklich helfen.
Zagatta: Funktioniert das denn, dass man beispielsweise Asylverfahren an den Außengrenzen macht, dass Italien das jetzt machen müsste, funktioniert das denn mit dem Türkei-Abkommen, oder werden da einfach Menschen, Flüchtlinge an der Weiterreise gehindert?
Knaus: Wir haben auch in der Ägäis, auch auf den griechischen Inseln das Problem, dass in dem Moment, in dem die Zahlen dramatisch gesunken sind, und das ist ja sehr schnell erfolgt, die Europäische Union ihren Blick sehr schnell abgewandt hat, anstatt die Herausforderungen in Griechenland dazu zu nützen, ein funktionierendes neues System zu entwickeln. Auch auf den griechischen Inseln dauert es viel zu lange, rechtskräftige Asylentscheidungen zu treffen. Und darüber hinaus hat die Europäische Union es ebenfalls verabsäumt, in der Ägäis klarzustellen, wie sie sicherstellen kann, dass jeder Einzelne, der in die Türkei zurückgeschickt werden soll, dann in der Türkei tatsächlich sicher ist. Da hat sich die Kommission die Arbeit sehr leicht gemacht, indem man im April und Mai 2016 Briefe an die Griechen geschickt hat und gesagt hat, ihr sollt jetzt die Türkei als sicheres Drittland betrachten. Das hat rechtlich allerdings keinen Bestand, denn in jedem Einzelfall muss man prüfen – und dazu bräuchte man auch dringend einen Mechanismus, wo man in jedem Einzelfall auch in der Türkei nachvollziehen kann, was mit den Leuten passiert, die zurückgebracht werden. Das Ergebnis: Die Zahl ist zwar dramatisch gesunken, aber wir haben auch heute noch immer nicht das, was wir dringend jetzt bräuchten in Italien und überall an den Außengrenzen, ein funktionierendes, faires und vor allem auch schnelles System, das in der Lage ist zu unterscheiden zwischen denjenigen, die man zurückschicken kann, weil sie Schutz haben dort, wohin man sie zurückschickt – und im Falle Afrikas können das nur die Herkunftsländer sein –, und denjenigen, die in der EU bleiben, denen man Schutz bieten muss. Dieses System zu etablieren, ist nicht gelungen auf den Ägäis-Inseln, obwohl dort nur sehr wenige Menschen sind, und wir brauchen es dringend heute in Italien. Das müsste im Zentrum der europäischen Debatte, die Reform des Asylsystems, stehen.
Vorschlag: Rücknahme der Geflüchteten, dafür Stipendien und Visa
Zagatta: Aber wenn das jetzt in Griechenland schon nicht funktioniert, wenn es in Italien nicht funktioniert, wie realistisch sind denn dann solche Pläne, mit den Herkunftsländern in Afrika. Das funktioniert doch überhaupt nicht?
Knaus: Das Wichtigste, was funktioniert hat in der Ägäis, ist, dass die Türkei zugesagt hat - und das lag daran, dass die EU hier einerseits gut verhandelt hat und andererseits auch die Türken erkannt haben, dass es in ihrem Interesse ist -, dass wenn die griechischen Asylbehörden entscheiden, dass jemand sicher ist, dann würde die Türkei diese Personen nach einem Stichtag sofort zurücknehmen. Die Türkei entscheidet nicht, wer zurückgeschickt wird. Aber wenn die EU zu der Erkenntnis kommt, jemand ist in der Türkei sicher oder ihr Antrag ist abgelehnt, dann nimmt die Türkei diese Person sofort. Und der einzige Grund, warum die Türkei da zugesagt hat, und das war ein sehr starkes Signal, was sofort dazu geführt hat, dass weniger Leute kommen, der einzige Grund war, dass die Türkei erkannt hat, wenn sie einen Stichtag definiert, dann muss sie gar nicht viele Leute zurücknehmen. Das war ihre Hoffnung, und so hat sich das auch bewahrheitet, denn das würde ein sehr starkes Signal sein, dass weniger Leute kommen. Diese Art von Verhandlung mit einem Stichtag und der Bereitschaft, Leute zurückzunehmen, die müssten wir jetzt intensiv führen mit den Herkunftsländern. Um es nochmal klarzustellen: Das würde bedeuten, im Einklang mit dem Flüchtlingsrecht zu agieren. Denn wenn jemand nach einem schnellen Verfahren abgelehnt wird oder wenn jemand keinen Asylantrag stellt und dann das Herkunftsland sagt, wir nehmen diesen Staatsbürger wieder zurück, dann ist das in keinerlei Hinsicht ein Bruch mit dem EU-Recht, dem Flüchtlingsrecht, wie so viele andere Vorschläge, die derzeit kursieren, wären. Also sehr viel von dem, was wir derzeit diskutieren in Brüssel, wäre eine Verletzung der grundlegenden humanitären Regeln, die sich die EU selbst auferlegt hat.
Zagatta: Und der Anreiz für diese Länder müsste sein: Geld?
Knaus: Geld allein reicht sicherlich nicht. Das ist auch eine der Vorstellungen, die schon bei der Türkei nur sehr begrenzt funktioniert hat. Geld sieht sehr stark danach aus, und das ist politisch nicht zu vertreten, als würde die EU sich eine Elite kaufen. Tatsächlich ist die Entwicklungshilfe ja auf viele Jahre festgelegt. Die Versuche, einen großen neuen Fonds für Afrika zu schaffen, die vor zwei Jahren versprochen wurden auf dem Gipfel in Malta, die lassen sich gar nicht realisieren, weil die EU das Geld nicht einfach herbeizaubern kann. Aber was wir vorschlagen, was auch politisch ein viel stärkeres Signal wäre, ist orientiert an dem, was die USA und Kuba 1995 beschlossen haben, nämlich dass die EU sagt, Senegal oder Nigeria oder Elfenbeinküste, ihr gebt das Signal, ihr seid bereit, nach einem Stichtag eure Bürger ohne Verzögerung wieder zurückzunehmen. Das wäre ein starkes Signal an eure Staatsbürger, sich gar nicht erst auf diese Reise zu begeben. Dafür bekommt ihr ein Kontingent von Stipendien und Visa für reguläre, organisierte, legale Einwanderung von einigen Tausend Menschen im Jahr. Allerdings das auf einige Jahre, solange ihr bereit seid, euren Teil des Abkommens zu erfüllen. Das hat mit Kuba geklappt. Die Zahl derjenigen, die sich in Boote begeben haben Richtung Florida, ist sofort gefallen von über 30.000 im Jahr auf 500. Im Gegenzug haben die Vereinigten Staaten Kubanern einen regulären Zugang ermöglicht. Und solche Verhandlungen müssten wir jetzt dringend führen mit Ländern wie Nigeria, Senegal oder Gambia.
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