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Flüchtlingspolitik
"Es fehlt noch eine glaubwürdige Strategie"

Schon durch die Ankündigung des EU-Türkei-Pakts sei die Zahl der Menschen, die nach Griechenland kämen, dramatisch gesunken, sagte der Soziologe Gerald Knaus im DLF. Die Anzahl der Flüchtlinge, die derzeit dort eintreffe, sei zwar zu bewältigen - doch es fehle immer noch eine glaubwürdige Strategie.

Gerald Knaus im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Flüchtlinge im Hafen von Lesbos - von hier starten die ersten Boote zur Rückführung in die Türkei
    Flüchtlinge im Hafen von Lesbos - von hier starten die ersten Boote zur Rückführung in die Türkei (dpa/picture alliance/Alexia Angelopoulou)
    Es fehle eine Strategie, wie man die Versprechen der EU, die Asylverfahren in Griechenland im Rahmen der europäischen Gesetze abzuwickeln, erfüllen wolle. Denn das würde bedeuten, auch jedem, der ankommt, ein Gespräch anzubieten. Dazu fehlten aber noch die Kapazitäten, so der Soziologe. Es werde eine glaubwürdige europäische Mission in Griechenland gebraucht. "Am besten noch aus einem Topf bezahlt."
    Von Griechenland habe man gestern einen "taktisch klugen Schritt" gesehen, denn es seien Personen zurückgeschickt worden, die schon vor einem Monat hätten zurückgeschickt werden können, sagte Knaus. "Die wirklich große Herausforderung ist jetzt für alle, die einen Asylantrag gestellt haben, da ein faires, glaubwürdiges Verfahren zu haben, das auch vor Gericht standhalten würde." Dieses Verfahren müsste auch zeigen, dass es keine "Farce" sei, also nicht jeder zurückgeschickt werde.
    Seit gestern greift der sogenannte Flüchtlingspakt, wodurch Flüchtlinge, die keine Asylperspektive haben, von Griechenland in die Türkei zurückgebracht werden. Eine Gruppe von Wissenschaftlern und Politikberatern hat in mehreren Papieren die Grundzüge des Abkommens entwickelt. Sie nennnen den Pakt den sogenannten Merkelplan. Die Idee der Europäischen Stabilitätsinitiative ESI ist eine enge wie alternativlose Kooperation der Türkei und der Bundesregierung. Der Soziologe Knaus ist der Vorsitzende des ESI.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Die ersten Flüchtlinge wurden gestern in die Türkei zurückgebracht. Diese Rückführungen, wie die Politiker gerne sagen, verliefen einigermaßen ruhig.
    Seit gestern werden Flüchtlinge, die keine Asylperspektive in der EU haben, von Griechenland aus in die Türkei zurückgebracht. Das ist Teil des sogenannten Flüchtlingspaktes zwischen der Europäischen Union und der Türkei, dem Merkel-Plan, wie ihn eine Gruppe von Wissenschaftlern und Politikberatern bereits seit Oktober vergangenen Jahres nennt. In mehreren Papieren haben sie die Grundzüge des Abkommens entwickelt. Rückführung, Umsiedlung, Kontingente, Visafreiheit, all das haben sie der Bundesregierung und anderen europäischen Entscheidern vorgelegt. Die Idee der Europäischen Stabilitätsinitiative, kurz ESI, eine enge wie alternativlose Kooperation mit der Türkei, um eine "Orbanisierung Europas" zu verhindern. Deren Vorsitzender ist Gerald Knaus, ihn begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Knaus.
    Gerald Knaus: Ja guten Morgen.
    Knaus: Der Merkel-Plan, er greift seit gestern. Ist dessen Umsetzung in Ihrem Sinne?
    Knaus: Na ja. Das Entscheidende ist ja nicht der erste Tag, sondern wie es in den nächsten Wochen und Monaten weitergeht. Und was wir derzeit sehen, ist, dass die Ankündigung dieses Planes schon zu einem dramatischen Fall bei der Anzahl der Leute geführt hat, die nach Griechenland kommen. Wir sind von im Durchschnitt 1.100 am Tag in den ersten 20 Tagen im März zu um die 300 am Tag seit dem 20. März gekommen. Das heißt, die Zahlen sind jetzt bewältigbar, aber was immer noch fehlt, ist eine glaubwürdige Strategie, wie man all die Versprechen, die die Europäische Union gemacht hat, die Asylverfahren in Griechenland im Rahmen der europäischen Gesetze abzuwickeln, also jedem, der da ankommt, ein Gespräch anzubieten, um auch wirklich zu überprüfen, dass diese Leute in der Türkei sicher sind, bevor man sie zurückführt. Wie man das umsetzt, da fehlen noch die Kapazitäten und es fehlt auch noch eine glaubwürdige Strategie, wie man diese Kapazitäten aufbaut. Das ist machbar, aber es ist noch nicht passiert und das muss noch passieren.
    "Die große Herausforderung ist jetzt für alle ein faires Verfahren zu haben"
    Dobovisek: Ist das professionell, was wir da gerade beobachten?
    Knaus: Na ja. Was wir jetzt gesehen haben, das war ein taktisch kluger Schritt der Griechen, nur die Leute zurückzuschicken, die man auch schon vor einem Monat hätte zurückschicken können. Es gibt ja seit Monaten Rückführungen von Pakistanis und anderen. Das war einfach. Die wirklich große Herausforderung ist jetzt für alle, die einen Asylantrag gestellt haben, da ein faires, ein glaubwürdiges Verfahren zu haben, das auch vor Gericht standhalten würde, und das gleichzeitig auch zeigt, es ist keine Farce, es wird nicht jeder zurückgeschickt, es ist nicht das, was auch zurecht kritisiert wird als Möglichkeit, aber gleichzeitig ermöglicht es jene, die in der Türkei sicher sind - und das sind in dem Land mit den meisten Flüchtlingen der Welt heute, das sind die meisten Flüchtlinge -, es ermöglicht es, diese Leute zurückzuschicken. Und das jetzt hinzubekommen bei einer kleinen überforderten und nicht überaus motivierten griechischen Asylbehörde, die sich hier ein bisschen im Regen stehen sieht derzeit, stehen gelassen sieht, das ist eine große Herausforderung.
    Dobovisek: Woran fehlt es?
    Knaus: Ja ganz konkret. Wenn jeden Tag wie in den letzten Wochen 330 Leute kommen im Durchschnitt - gehen wir mal davon aus, es bleibt noch eine Weile dabei -, dann müsste man jeden Tag auf diesen Inseln 300 bis 400 Anträge bearbeiten. Aber wenn man jedem ein Interview verspricht, dann geht das mit den derzeit bestehenden 130 Leuten, die Asylanträge direkt verarbeiten in der griechischen Behörde, dann geht das nicht rein zahlenmäßig für ein glaubwürdiges Verfahren. Das heißt, was man benötigt wäre nicht nur einen Appell, wie das die Kommission gemacht hat, schnell ein paar Leute hinzuschicken aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden oder anderswo, die da mitmachen können, sondern eine wirklich glaubwürdige europäisch-griechische Mission integriert, am besten noch aus einem Topf bezahlt, damit die Länder, die Leute sekundieren, nicht darüber nachdenken müssen, was sie das jetzt kostet, mit glaubwürdiger Leitung. Irgendjemand, der in Europa ein Asylamt geleitet hat, sollte da auch hinuntergeschickt werden. Den Griechen sollte man anbieten, ihnen auch bei dem politischen Druck, der besteht, zu helfen, denn die Griechen werden sonst von Menschenrechtsorganisationen geschlagen für eine Aufgabe, die sie gar nicht wirklich gut erfüllen können aufgrund der fehlenden Kapazitäten. Und man sollte sich auch dazu verpflichten, diejenigen, denen man Asyl gewährt, nach klaren Richtlinien, die man transparent machen muss, dass man die dann auch nach Europa übernimmt.
    "Aufgrund der Kapazitäten hat es nicht funktionieren können"
    Dobovisek: Nun hören wir heute Morgen, Herr Knaus, aus Brüssel, dass die EU-Kommission den Vorschlag macht, Asylentscheidungen auf EU-Ebene zu holen mit einer eigenen Agentur und einheitlichen Asylregeln. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist das ja dann genau der richtige Vorschlag.
    Knaus: Na ja. Hier wird der dritte Schritt vor dem ersten gemacht, und das ist grundsätzlich ein Problem hier in dieser Stadt. Die Kommission sollte sich jetzt vollständig darauf konzentrieren, dass diese Mission in Griechenland funktioniert. Wenn das funktioniert, wenn die Europäische Union es schafft, in einer Situation, in der jeder weiß, wie viel davon abhängt, glaubwürdige Verfahren zu haben, die schnell, aber auch im Rahmen des Rechts funktionieren, wenn man das schafft, hier eine europäische Asyl-Unterstützungsmission aufzubauen, dann kann man sehr leicht darüber reden, so etwas auch anderen Ländern anzubieten, die an der Grenze liegen. Tatsächlich war es ja ein Skandal, dass in den letzten sechs Monaten jeder sieht, wie viele Leute in Griechenland ankommen, jeder sagt, irgendwie wäre es doch schön, wenn die Griechen die Verantwortung übernehmen, nach dem Dubliner Abkommen die Anträge womöglich zu behandeln - natürlich hat keiner einen Antrag gestellt, aber es hätte auch nicht funktionieren können aufgrund der Kapazitäten -, wenn man da jetzt sagt, wir haben einen Mechanismus, wo Europa in so einer Situation schnell, konkret und praktisch hilft, wäre das der erste Schritt zu dem hin, was die Kommission jetzt im Papier vorschlägt. Aber wenn man das jetzt nicht schafft in den nächsten Monaten - und derzeit gibt es diese glaubwürdigen Pläne noch nicht, wie man das schafft -, dann braucht man jetzt nicht über eine erst in ein paar Jahren dann bestehende europäische Asylbehörde nachzudenken. Hier muss man wirklich den ersten Schritt machen, bevor man über den dritten oder vierten Schritt nachdenken kann.
    "Ohne Türkeiabkommen hätte Europa noch sehr viel weniger Glaubwürdigkeit"
    Dobovisek: Sie haben bereits im vergangenen Jahr die Verhandlungen und eine Zusammenarbeit mit der Türkei als alternativlos bezeichnet. Jetzt beobachten wir, dass sich Präsident Erdogan in Ankara seiner Sache offenbar sehr sicher ist, Stichwort Bürgerkrieg gegen die Kurden, Stichwort eingeschränkte Pressefreiheit. Bereitet Ihnen das keine Bauchschmerzen?
    Knaus: Na ja. Wenn man jetzt sich ansieht, was in der Türkei passiert, dann muss man schon feststellen, dass viele dieser Dinge schon seit einigen Jahren in diese Richtung laufen. Und man muss auch sagen, wenn wir kein Abkommen mit der Türkei hätten zur Flüchtlingsfrage, dann hätte Europa noch sehr viel weniger Glaubwürdigkeit und vor allem auch moralische Kapazität, hier irgendetwas zu sagen. Denn aus türkischer Sicht stellt sich das - und jetzt meine ich die Bevölkerung - so dar: Europa schafft es nicht, selbst einem Mitgliedsland wie Griechenland zu helfen, mit einer großen Zahl von Flüchtlingen zurechtzukommen, Europa will niemand aufnehmen, Europa will, dass die Türkei mit 2,7 Millionen Flüchtlingen das alleine bewältigt, und dann macht Europa der Türkei Vorschläge, wie man Flüchtlinge behandeln soll oder wie man mit Menschenrechten umgeht. Ich glaube, dass eine glaubwürdige Umsetzung dieses Flüchtlingsabkommens auch den europäischen Politikern eine andere Glaubwürdigkeit verschafft, den Türken zu sagen, dass vieles, was sie im Bereich der Menschenrechte jetzt machen, falsch ist und in die falsche Richtung geht, die Beziehungen zu Europa sich so nicht entwickeln können, das was man an der Grenze macht zu Syrien…
    Dobovisek: Also letztlich tatsächlich aus Ihrer Sicht alternativlos, Herr Knaus. - Wir müssen zum Ende kommen, die Nachrichten folgen. - Gerald Knaus, er leitet die Europäische Stabilitätsinitiative. Ich danke Ihnen.
    Knaus: Ja vielen Dank! Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.