"Gerade heute Morgen auf dem Weg in die Uni, habe ich die Idee für einen Vortrag generiert, den ich in nächster Zeit halten werde. Ich habe die ganze Zeit am Schreibtisch drüber nachgedacht. Es ist mir nicht gelungen, zu einem Aufbau zu kommen. Aber heute in den zehn Minuten Fahrradfahren war es auf einmal da. Und das ist nicht zum ersten Mal so passiert", erzählt Elisabeth Cheauré, Professorin für Slawistik an der Universität Freiburg und Sprecherin des Sonderforschungsbereiches "Muße. Konzepte, Räume und Figuren".
Dass Muße gute Ideen fördert, weiß man seit Archimedes, der in der Badewanne das nach ihm benannte Prinzip entdeckte. Gute Ideen kommen oft beim Einschlafen, Kochen, Basteln, Stricken, Spazieren, oder der Gartenarbeit. Dabei kann körperliche Bewegung hilfreich sein. Bemerkenswert ist, dass Elisabeth Cheauré offenbar Muße hatte, eine Lösung zu finden, obwohl sie beim Radfahren auch auf den Straßenverkehr und das Gleichgewicht achten musste. Muße ist offenbar nicht Nichtstun und schwerer zu verstehen, als man zunächst denkt.
Dabei ist Muße für den Menschen außerordentlich wichtig, was schon lange bekannt ist. Viele Religionen und Philosophien kennen Übungen, die zur Muße verhelfen, etwa Meditation. Thomas Jürgasch von der Theologischen Fakultät:
"Also wenn man einen der ersten Muße-Theoretiker überhaupt zitieren möchte, Aristoteles, jetzt für eine bestimmte Form der Antike, dann könnte man sagen, dass sich das Menschsein eigentlich nur in Muße verwirklichen kann. So seine These. Also: Die Glückseligkeit des Menschen ist nur in Muße zu erreichen."
Schwer, die Muße zu erleben
Heute weiß man sogar, dass Menschen ohne Muße krank werden und früher sterben. Warum es trotzdem heute schwerfällt Muße zu verstehen, gar zu erleben, erklärt Professor Joachim Bauer. Er ist an der Universitäts-Klinik Freiburg Arzt, Psychiater, Psychotherapeut und zudem Neurobiologe, also Kenner der Zusammenarbeit von Nerven und Körper:
"Im Kern der Muße ist eine bestimmte Beziehung zum Zeit-Erleben. Die modernen westlichen Gesellschaften sind geprägt davon, dass die meisten Menschen einen großen Teil ihrer Zeit in einem Reiz-Reaktions-Modus erleben und verleben. Das heißt: Wir sind als Menschen Adresse von sehr vielen Reizen, die auf uns einwirken, vor allem auch durch die modernen Kommunikationsmedien, die uns permanent erreichen, weil wir sie bei uns tragen, und die uns dazu verführen, auf jeden eintreffenden Reiz, auf jeden Signalton sofort zu reagieren."
Reagieren ist fremdbestimmt und erzeugt Druck, eine ständige Anspannung. Sich auf etwas Einlassen dagegen ist ein selbstbestimmter Vorgang. Auch wer sich nicht von den unterschiedlichsten Diensten seines Smartphones terrorisieren lässt, wird in der Stadt überall mit Werbereizen bombardiert.
"Die verführen uns in einen Modus zu kommen, der uns zu Reiz-Reaktions-Maschinen macht und, wo wir nicht mehr innehalten, und nicht mehr zu uns kommen, in dem Sinne, dass wir auf uns schauen, wie von außen auf uns schauen und uns im Innehalten überlegen, was jetzt das ist, was wir wirklich wollen, sondern wir werden fremdgesteuert durch diese Reizflut."
Wer Muße findet, kann zu sich selbst kommen und entscheiden, wie er leben will. Aber man kann Muße nicht befehlen. Kein Wunder, dass Muße den Mächtigen häufig suspekt ist. Müßiggänger entziehen sich der Macht. Eine andere politische Wirkung stellt die Altphilologin Franziska Eickhoff schon beim Übergang von der römischen Republik zum Kaiserreich fest. Sie untersucht für ihre Promotion damalige Briefe:
"Das hängt vor allem damit zusammen, dass die römische Oberschicht sich in der Republik natürlich über die politische Verantwortung definiert und darüber auch ihr Sein als Elite rechtfertigt. Und in dieser Zeit steht auch die Mußezeit völlig im Schatten eigentlich der politischen Aktivität. Sie dient vor allem der Vor- und Nachbereitung dieser gesellschaftlichen Aufgaben."
Nützlichkeitsdenken gegenüber der Muße
Wenn Cicero etwas Philosophisches schrieb, betonte er häufig zuerst den politischen Nutzen seiner Gedanken. Dieses Nützlichkeitsdenken gegenüber der Muße ändert sich mit dem politischen Wandel:
"Während der Kaiserzeit habe ich den Eindruck, dass es vor allen Dingen darauf hinausläuft, diese Muße, die dann - ab Cicero sagt man - vor allem auch mit geistiger, Intellektueller Tätigkeit gefüllt wird, dass die gesellschaftsfähig wird."
Vielleicht ersparte das römische Kaisertum der Elite das Gerangel um Einfluss und Macht und schuf so Freiräume für Muße? Das Beispiel zeigt, dass es im Laufe der Geschichte verschiedene Vorstellungen von Muße gab. Der Romanist Professor Thomas Klinkert beschreibt, wo man solche Konzepte findet:
"Die Konzepte, das sind sozusagen auch die unterschiedlichen historischen Definitionen, die in bestimmten Fällen greifbar werden, wo man Schriften hat von Aristoteles oder Seneca oder von den antiken Mönchen, oder im Mittelalter, oder auch in der Neuzeit, bei Montaigne oder andern Autoren, wo man eben auf die Quellen zurückschauen kann und sehen kann, wie definieren die ihre Konzepte der Muße?"
Bereits den alten Griechen war klar, dass man zum Lernen Muße braucht. Im Altgriechischen bedeutete Scholae, eine "Gelegenheit oder Möglichkeit, etwas zu tun", das nichts mit der Arbeit zu tun hatte. Dieses Wissen prägte jahrhundertelang Schulen und Mönchsorden und spiegelt sich auch in der Geschichte des Wortes "Schule". Der Theologe Thomas Jürgasch:
"Altgriechisch ist Scholae Muße, wird dann im Lateinischen aufgenommen als Scola, als lateinisches Lehnwort, das dann in der monastischen Tradition eine wichtige Rolle spielt. Und zwar zunächst mal wird das Wort Scola für Ruhebänke verwendet, dann aber auch für Versammlungsräume und schließlich auch für die Gemeinschaften, die sich in diesen Räumen versammeln."
Muße wichtig ist zum Lernen
Dass Muße zum Lernen, zur Bildung notwendig ist, blieb bis heute so. Der Mediziner Joachim Bauer: "Kinder, die sich mit dem Satz des Pythagoras oder der Geometrie überhaupt auseinandersetzen, müssen Ruhe und Beschaulichkeit haben, damit sie das, was sie da sehen und lernen sollen, auch wirklich verstehen."
Eigentlich weiß man das und geht langsam durch Museen, Galerien, Gärten und Kunstausstellungen, weil man Zeit braucht, das alles auf sich wirken zu lassen. Niemand würde von Musikern fordern, schneller zu spielen, nur um früher nach Hause zu kommen. "Gut Ding, will Weile haben", sagt der Volksmund. Trotzdem versucht man in Schulen, Kinder schneller lernen zu lassen. Warum das nicht funktioniert, erklärt Joachim Bauer:
"Wenn wir Kinder unter Druck setzen, dann bringen wir sie - jetzt neurobiologisch betrachtet - in einen Stress-Modus, in einen Angst-Modus. Und wenn unser Gehirn, oder unser psychischer Apparat unter Stress, Druck gesetzt wird und Angst erlebt, dann kann Muße nicht stattfinden, und dann können auch Erkenntnisse nicht stattfinden, weil zum Begreifen, zum Verstehen und vielleicht auch zum Einschießen von erleuchtenden Gedanken braucht es einfach Zeit und die Abwesenheit von Angst und Zeitdruck."
Deshalb sind musische Fächer, in denen man sich in Muße der Musik, dem Zeichnen, Töpfern, aber auch Tanz, oder Gymnastik widmet, wichtige Muße-Inseln im Schulalltag. Seit wenigen Jahren hat die Muße einen neuen Feind:
"Ein zweiter Faktor, der Kinder und Jugendliche heute daran hindert Muße zu erleben, sind die modernen Medien. Die Kinder spielen mit Smartphones, mit Tablets bereits. Sie haben zu tun mit den virtuellen Welten des Internets. Und hier ist das Innehalten nicht das, was trainiert wird, sondern, was uns die modernen Kommunikationsmedien trainieren ist das Go, also nicht das No Go; die schnelle Reaktion wird trainiert."
Das gilt selbstverständlich auch für Erwachsene. Der Mensch braucht aber Beides: die Muße - für sich selbst, und die Arbeit, das Ausüben der eigenen Fähigkeiten - oft für Andere. Die Freiburger Forscher untersuchen deshalb, ob es Schülern und Lehrern hilft, wenn sie Übungen lernen, eine Art Meditation, die es ihnen erleichtern zu sich, zur Ruhe und zur Muße zu kommen.
Muße als kulturelle Erscheinung
Es verwundert, dass Schulen trotzdem häufig Druck auf die Schüler ausüben und an der Muße knausern. Die Mächtigen wussten die Muße schon immer zu schätzen und treiben bis heute einen erheblichen Aufwand, um für sich Räume der Muße zu schaffen, wie der Kunsthistoriker Professor Hans Hubert berichtet, der ‚Muße-Räume in höfischen Residenzen' untersucht:
"Das ist in der Tat erstaunlich, denn Muße kann man ja theoretisch an jedem x-beliebigen Ort erfahren. Aber, da Muße offenbar eine kulturelle Erscheinung ist, die insofern auch soziologisch kulturellen Formen unterliegt, ist in diese Herrschaftsarchitektur tatsächlich sehr viel Kapital investiert worden, um dort gezielt und bewusst Muße-Räume zu schaffen."
Teilweise bekamen die Orte auch Namen, die zugleich Programm waren, wie "Solitude", 'Einsamkeit', oder "Sans-souci", 'Ohne Sorge'. Hans Hubert: "Es sind zunächst mal Orte des Rückzugs, im allgemeinen Sinne. Wobei Rückzug gar nicht den individuellen Rückzug meint, sondern durchaus den Rückzug in Gruppen, also in kleineren elitären Gruppen von Gleichgesinnten, die sich aus dem alltäglichen Bereich zurückziehen an besonders schöne Orte, oder eben auch abgeschiedene Orte. Also ich nenne mal einfach Loggien, Gärten, Terrassen mit Aussicht, Villen, also ausgelagerte Orte, die aus der Residenz tatsächlich ausgelagert sind. Natur spielt eine sehr, sehr große Rolle dabei interessanterweise, sei es der Ausblick auf die Natur, oder die gestaltete Natur in Form von Parkanlagen, von Gärten, von Wasserspielen, Brunnen, Grotten, all diese Dinge spielen eine riesige Rolle!"
Auch Innenräume, die der Muße dienen, wurden und werden häufig mit Naturmotiven verziert, etwa einer Fototapete vom einsamen Strand. Klöster, ebenfalls Machtzentren, bevorzugen gleichfalls schöne Orte. Offenbar wusste man schon früh, was dem Menschen guttut und Muße fördert. Das Wort "Kloster", bedeutet "abgeschlossener Ort". Im Kloster gilt sogar eine eigene Zeit, die durch acht Andachten gegliedert ist. Klöster sind Orte der Besinnung, also der Muße, auch, wenn es heißt: "Ora et labora!"; bete und arbeite. Beide, Arbeit und Gebet können, müssen aber nicht Muße sein. Joachim Bauer erklärt:
"Wir können uns einen Schuster vorstellen, der hoch konzentriert seinen Schuh macht, dabei die ganze Welt um sich herum vergisst, voll konzentriert auf sein Werk ist und in dieser hochgradigen Fokussierung innerhalb seiner Arbeit Muße erlebt. Genauso kann die Muße dann natürlich auch ohne Arbeit stattfinden: er kann den Schuh nach einer Weile weglegen und sinnierend aus dem Fenster schauen und sich seinen Gedanken überlassen. Und auch in diesem Zustand des Nichtstuns Muße erleben. Das heißt, wir können Mußezustände sowohl innerhalb und außerhalb der Arbeit erleben."
Muße als Verbindung von Entspannung und Konzentration
Joachim Bauer enthüllt noch eine seltsame Eigenschaft der Muße: Die Verbindung von Entspannung und Konzentration: "Die Muße ist eigentlich die Möglichkeit, zwischen beiden Zuständen zu wechseln. Das heißt, in einem Zustand der Freiheit von Zeitdruck und von Angst in der Lage zu sein frei flottierende Gedanken, Einfälle zuzulassen, zu schauen was in mir hochsteigt an Ideen, während ich aus dem Fenster oder in die Natur schaue, und dann immer wieder auch innezuhalten und den Fokus zu machen und bei einem Punkt stehenzubleiben und den zu vertiefen, um dann wieder zurück zu kommen zum freien Flottieren der Gedanken. Also dieser Wechsel von Fokussierung und schweifen lassen der Gedanken ist vielleicht eines der Geheimnisse der Muße."
Weil Muße immer an eine Person geknüpft ist, kann man an einzelnen Figuren, egal, ob aus Geschichte oder Literatur diskutieren, ob sie Muße haben. Der Romanist Thomas Klinkert:
"Die Figuren der Muße, das können zum Beispiel Wanderer sein, Touristen, das können Autoren sein, oder Figuren in Erzählungen, in fiktionalen Texten, das können aber auch reale Figuren sein wie Mönche oder Philosophen."
Der französische Autor Stendhal beschließt in Rom seine Biografie zu schreiben, weil er grade 50 wird und er schreibt sie dann als Biografie eines Anderen. Daran kann man erkennen, wie Muße zum Schreiben führt. Das ist für Literaturwissenschaftler ein neuer Zugang. Thomas Klinkert:
"Meine Hypothese ist die, dass in der Literatur häufig solche Muße-Situationen beschrieben werden, die das Entstehen von Literatur erkennbar werden lassen, die also quasi eine Art Selbstbeschreibungsmodell der Literatur sind."
1859 erschien Iwan Gontscharows Roman "Oblomow" über einen trägen russischen Adligen, der durch seine Untätigkeit alles verliert. Diese Figur ist so schillernd, dass heute noch unklar ist, wie man sie deuten soll, erzählt die Slawistin Elisabeth Cheaurè:
"Das kann man sehr schön auch in der Literaturkritik und Wissenschaft nachvollziehen. Ist das jetzt ein Akt des Widerstands? Oder ist es jetzt tatsächlich die - ich sag jetzt mal polemisch - typische russische Faulheit und Trägheit, mit der der Westen zum Teil sehr gerne, um auch seine eigene Identität zu konstruieren, das Andere etikettiert, in diesem Fall Russland."
Es fällt manchmal schwer abzugrenzen, was nur Faulheit und was wertvolle Muße ist, auch im Alltag.