Schräg liegt der schwarze Eisenbahnwaggon in der Kurve. Die Lokomotive bläst weißen Dampf ins Bild. Ein missvergnügter Herr im Pelz schaut durch die Scheibe. Und ein junger, magerer lehnt aus dem Fenster, blickt zurück zu uns, zurück zum Bahnsteig und winkt. Ein Holzschnitt von Frans Masereel. Er könnte es selbst sein. Immer auf Achse, nirgends zu Hause, nie müßig.
"Holz ist eine schwere Sache. Das lässt sich nicht einfach schneiden. Es ist Birnbaum und der ist ziemlich hart. Aber immerhin arbeite ich stundenlang auf einer Platte. Immer wenn ich ein Stück Holz in der Hand habe, dann bin ich froh und arbeite wie ein junger Bursche."
Das erste Exil
Geboren am 30. Juli 1889 im belgischen Fischerdorf Blankenberge, wächst Frans Masereel in Gent auf; mit Achtzehn besucht er die École des Beaux-Arts. Es folgen Lehr- und Wanderjahre in England und Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz. Den Ersten Weltkrieg verbringt er als "Fahnenflüchtiger" in Gent. Abseits der großen Schlachten schneidet er gedankenschwere sozialkritische und pazifistische Appelle in expressionistisch-harter Manier in seine Holzstöcke. Sie machen Masereel schlagartig berühmt. 1921 in Paris entstehen beklemmende Straßen- und Welttheater-Szenen wie im Rausch. Zugleich illustriert Masereel Romane von Emile Zola und Thomas Mann. Der schwärmt 1926 vom "voraussetzungslos Menschlichen" der Bilder-Atlanten, in denen Masereel die aus den Fugen gegangene Welt in den Blick nimmt:
"Man findet bei Masereel allenthalben Weltlichkeit, reines Vergnügen am Abenteuer des Lebens: Vergewaltigung und Liebeskummer, Reisen in die fernen Länder der Mohren und Chinesen. Daneben alltäglich zerstreutes Tun: Boxen und Tanzen, Akkordeonspiel und Picknick, Klettern und Schießen, gut Essen, Trinken und Schlafen, Rollschuh und Fahrradfahren, Herumstreunen in den Feldern, jemandem dabei sogar das Leben retten, dann wieder andere Abenteuer ..."
Masereel lernt Romain Rolland und Stefan Zweig kennen, er liest Werke von Marx und Kropotkin. Vielleicht deswegen wird er zum lichtvollen Prediger und düsteren Ankläger. Das Album "Die Sonne" ist ein Hohelied auf die Sehnsucht des Menschen nach Frieden und Glück - nach einem besonnten Leben. Masereel verlegt dieses Streben in die raue, rauchgeschwängerte Industrielandschaft: Der Protagonist sieht sich geworfen in die kapitalistische Wirklichkeit; die Welt der Roaring Twenties von Berlin.
"Ich habe verschiedene Leute gekannt in Berlin; Schriftsteller und Maler. Ich war sehr befreundet mit Carl Sternheim, Franz Werfel, George Grosz. Ich habe auch Brecht gut gekannt. Ich kam jedes Jahr zweimal nach Berlin, und wir waren sehr gute Freunde alle."
La Vie Bohème
In der Metropole irrlichtern die Widersprüche: Reaktionäre und Revolutionäre, Reiche und Habenichtse, Weltverbesserer und Rassisten, Saalschlachten und Friedensmärsche, Stahlhelm und Reichsbanner. So ist die Schwarz-Weiß-Kunst des Holzschnitts wie geschaffen für Masereel:
"Wenn Sie das Wort engagiert brauchen wollen, bin ich einverstanden. Ich bin für die humanistischen Angelegenheiten in unserer Zeit und auch in unserer Kunst! Ein Künstler, der etwas zu sagen hat, ist immer eine Fahne. Der Künstler soll ein Vorbild sein für die allgemeinen Bürger der Welt.
Er malt nun an der Küste des Ärmelkanals regnerische Strände und Häfen, porträtiert Matrosen und Fischer. Doch der Friede trügt. Der Überfall der Deutschen Wehrmacht treibt ihn 1940 in ein zweites Exil: unstet streunt er durch Südfrankreich. Erst nach 1945 arbeitet er wieder künstlerisch.
"In der Hitlerzeit war ich natürlich überall polizeilich verboten. Und die ganze Jugend wusste nichts mehr von mir. Aber jetzt fängt es wieder an, und ich habe sehr viel gearbeitet, jeder weiß das in Deutschland."
Zu den harten Holzschnitten treten nun wolkige Aquarelle und weiche Gemälde, bei denen Chagall Pate gestanden haben könnte. Und auch die Themen werden weicher, hinter persönlichen Konflikten und Begegnungen treten die großen Gesellschafts- und Friedensfragen zurück.
Seine späten "Romane in Bildern" waren einfache Variationen des großen Themas Mensch. 1972 ist Frans Masereel in Avignon gestorben, beigesetzt ist er in Gent.
Seine späten "Romane in Bildern" waren einfache Variationen des großen Themas Mensch. 1972 ist Frans Masereel in Avignon gestorben, beigesetzt ist er in Gent.