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Frauen in Afghanistan
Wenn Töchter als Söhne aufwachsen

Der schlimmste Ort, an dem ein Mädchen zu Welt kommen kann: So beschreibt eine Frau in Afghanistan der Journalistin Jenny Nordberg ihre Heimat. 2009 stieß die Pulitzerpreisträgerin dort erstmals auf die sogenannten "bacha posh" - Mädchen, die als Jungen ausgegeben werden, um so das Ansehen der Familie zu steigern.

Von Ralph Gerstenberg |
    Kleine Mädchen stehen am Sonntag (28.08.2011) in Kundus (Afghanistan) vor einem Haus.
    Viele afghanische Eltern verkleiden ihre Töchter als Jungen: Frauen, die keine Söhne zur Welt bringen, gelten als schwach - auch charakterlich. (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    Zum ersten Mal wurde Jenny Nordberg stutzig, als sie an einem Porträt der afghanischen Politikerin Azita arbeitete und erfuhr, dass deren einziger Sohn eigentlich eine Tochter ist. Die Politikerin habe sich jedoch entschieden, das Mädchen als Jungen auszugeben und aufzuziehen. Seitdem heißt Mahnouch Mehran, trägt Hosen, darf Drachen steigen lassen, auf Bäume klettern und all die Dinge tun, die ihren drei älteren Schwestern in der afghanischen Gesellschaft verwehrt bleiben.
    Der Grund für diese ungewöhnliche Entscheidung liegt in einer Kultur, die nur eine männliche Erbfolge vorsieht. Frauen, die keine Söhne zur Welt bringen, gelten als schwach, auch charakterlich. Es wird ihnen sogar als böser Wille ausgelegt, wenn sie keine männlichen Nachkommen gebären. Für eine aufstrebende Politikerin wie Azita, die es in der Männerwelt des Kabuler Parlaments schwer genug hat, stehe das Fehlen eines Sohnes allem im Weg, was sie als Abgeordnete erreichen wolle, erfuhr Jenny Nordberg von Azita.
    Ein falscher Sohn sei immer noch besser als gar keiner
    "Plötzlich fand sie sich in die Rolle gedrängt, keine richtige Frau zu sein. Parlamentskollegen, Wähler und ihre eigene Verwandtschaft zeigten wenig Mitgefühl: Wie konnte man darauf vertrauen, dass sie in der Politik irgendwas erreichte, wenn sie ihrem Mann nicht einmal einen Sohn schenken konnte? Dass sie dem konstanten Besucherstrom von einflussreichen Politikern keinen Jungen präsentieren konnten, wurde auch dem Ehemann zunehmend peinlich.
    Also wandten sich Azita und ihr Mann mit einem Vorschlag an die jüngste Tochter: 'Möchtest du wie ein Junge aussehen und dich wie ein Junge anziehen und all die lustigen Jungssachen machen? Willst du so sein wie dein Vater?' Das wollte sie unbedingt. Es war ein unwiderstehliches Angebot."
    Erstaunlicherweise, bemerkt Jenny Nordberg, akzeptierte das Umfeld diese Entscheidung. Auch diejenigen, die das wahre Geschlecht von Azitas Sohn kannten, beglückwünschten sie dazu. Ein falscher Sohn sei immer noch besser als gar keiner. In der investigativen Journalistin regt sich ein Verdacht. Sollte Azitas Tochter nicht das einzige Mädchen sein, das in Afghanistan als Junge aufwächst?
    Zur Ehrenrettung der Familie wird die Tochter in einen Sohn verwandelt
    Zunächst stößt Nordberg auf eine Mauer des Schweigens und Abwiegelns. Doch je mehr sie nachhakt, je länger sie zuhört, an Türen klopft und abgelegene Viertel durchstreift, desto sicherer wird sie: Es gibt in Afghanistan ein Phänomen, über das niemand redet, obwohl es bei genauerem Hinschauen überall zu sehen ist - die verborgenen Töchter des Landes, die bis zu ihrer Pubertät als Jungen aufwachsen.
    "Wie ich feststelle, gibt es sogar eine Bezeichnung für diese Kinder, die nicht wirklich da sind. Der umgangssprachliche Ausdruck für ein Kind, das weder Sohn noch Tochter ist, lautet 'bacha posh.' (...) Wörtlich übersetzt aus dem Dari heißt es: 'wie ein Junge gekleidet'. (...) Dass es diesen Begriff gibt und er weithin bekannt ist, legt den Schluss nahe, dass diese Kinder nicht so selten sind. Wie auch das Phänomen an sich nicht neu ist."
    Nach und nach trifft Jenny Nordberg dann auch Mädchen, die aus ganz verschiedenen Gründen "bacha posh" wurden. Da ist die kleine Familienernährerin, die für 1,30 Dollar am Tag in einem Lebensmittelgeschäft arbeitet, was ein Mädchen niemals dürfte. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als sich die Haare wachsen zu lassen, schönen Schmuck zu tragen und zu tanzen. Meist ist wie bei Azita die Ehrenrettung der Familie der Grund für die äußerliche Umwandlung einer Tochter in einen Sohn.
    Anderen Frauen soll eine verkleidete Tochter als Vorbild dienen für das, was beim nächsten Mal in ihrem Körper entstehen soll - ein Sohn natürlich. Einfühlsam nähert sich Jenny Nordberg diesen Mädchen, die nach Eintritt in die Pubertät oft Schwierigkeiten haben, wieder in die weibliche Rolle zurückzukehren. Zu sehr sind ihnen männliche Gesten und Verhaltensweisen in Fleisch und Blut übergegangen.
    Eine unfruchtbare Frau gilt nicht wirklich als Frau
    Vor allem aber sind es die Freiheiten, die ihren nicht verkleideten Geschlechtsgenossinnen zeitlebens verwehrt bleiben, auf die sie nicht mehr verzichten wollen. So lernt Jenny Nordberg auch erwachsene Frauen kennen, die als Software-Entwickler oder Polizist arbeiten und darauf hoffen, mit Austritt aus dem gebärfähigen Alter in ihrer Männerrolle akzeptiert zu werden.
    "Sobald eine Frau zu alt geworden ist, um noch Kinder zu bekommen, stellt sie keine sexuelle Bedrohung mehr für die Gesellschaft dar und kann mit widerwilliger Anerkennung oder zumindest mit größerer Toleranz rechnen. (...) Von jetzt an ist sie als Frau ohnehin nicht mehr zu gebrauchen. Erst wenn ihr Körper nicht mehr dazu taugt, von anderen zum Zweck des Kindergebärens in Besitz genommen zu werden, wird er wieder ein Stück weit ihr eigener Körper. In Afghanistan gilt eine unfruchtbare Frau nicht wirklich als Frau, und zwar genau aus dem Grund: weil sie ihre Weiblichkeit verleugnet."
    In historisch-kulturellen Passagen geht Jenny Nordberg immer wieder auf die Rolle der Frau in Afghanistan ein, dem schlimmsten Ort, an dem ein Mädchen zur Welt kommen könne, wie eine ihrer Interviewpartnerinnen bemerkt. Die Diskriminierung von Frauen hat dort eine lange Tradition, auch wenn es im 20. Jahrhundert – also schon vor den Bemühungen seit 2001 – immer wieder Emanzipationsbestrebungen gab, zuletzt in den Achtzigerjahren, während der sowjetischen Besatzungszeit. Damals konnten Frauen studieren und heiraten, wen sie wollten. Doch diese von außen eingeführte Gleichberechtigung endete mit dem Abzug der Sowjettruppen. Jenny Nordberg demonstriert das am Beispiel Azitas, deren Geschichte sich durch das ganze Buch zieht.
    Schicksal vieler afghanischer Frauen und Mädchen
    In den Achtzigern von ihrem Vater zum Studium ermutigt, wurde Azita in den Neunzigerjahren mit einem ungebildeten Cousin zwangsverheiratet, der sie schlug und misshandelte. Doch ihr Wille blieb unbezwungen. Sie lernte Englisch, dolmetschte für die ISAF-Truppen, wurde 2002 Abgeordnete ihrer Provinz, studierte und landete schließlich im Parlament.
    Doch auch dieses Wunder weiblicher Durchsetzungskraft in einem rigiden System ist inzwischen Vergangenheit. Nach einer Intrige verlor Azita ihren Posten, zu Hause wird sie wieder geschlagen und muss zudem eine Zweitfrau akzeptieren, die aus ihrer jüngsten Tochter gegen deren Willen wieder ein waschechtes Mädchen machen will.
    Jenny Nordberg hat ein eindrucksvolles und betont subjektives Buch über Afghanistans verborgene Töchter und deren Mütter geschrieben, ein Buch, das versucht, die frauenverachtende Kultur des Landes nicht nur mit westlichem Blick zu betrachten, sondern das diejenigen zu Wort kommen lässt, an deren Schicksal die Autorin Anteil nimmt: Afghanische Frauen und Mädchen, von denen ein kleiner Teil als Junge aufwächst.
    Jenny Nordberg: "Afghanistans verborgene Töchter. Wenn Mädchen als Söhne aufwachsen"
    Aus dem Englischen übersetzt von Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß, Hoffmann und Campe Verlag, 432 Seiten, 22,00 Euro.