"Friedrich Rittelmeyer hatte in jungen Jahren, da ihm das Reden von der Kanzel nicht in den Schoß gefallen war, etwa 25 Wochenstunden gebraucht für seine evangelischen Predigten neben all dem Unterricht, den er noch zu bewältigen hatte. Und ist doch nicht mit der fertig ausgearbeiteten Predigt dann am Ziel gewesen. Und hat sich in einem Falle sogar zwei Tage mal hintereinander in die Kirche eingeschlossen und hat sich in der leeren Kirche auf die Kanzel gestellt und hat ein, zwei Sätze aus seiner Predigt gesprochen. Hat sich innerlich vorgenommen: So, das sagst du jetzt dem Studienrat sowieso, und jetzt sprichst du es mal wie für das Mütterchen, das immer zum Putzen kommt oder für den Bauern, der da immer extra anreist, dass es die erreicht."
Für Joachim Knispel, Pfarrer der Christengemeinschaft in Berlin-Prenzlauer Berg, ist Friedrich Rittelmeyer ein Vorbild. Friedrich Rittelmeyer habe sein Predigeramt ernst genommen.
"Und dann hat er sich hingesetzt in eine der Reihen und hat wie im Nachhören versucht, das zu erleben: Wie ist das jetzt in der Seele von diesem Studienrat angekommen, der Satz, den du gesprochen hast? Wie ist es in der Seele von dem Mütterchen oder von dem Bauern, oder … Und dieser konkrete unmittelbare Bezug zu den Menschen seiner Gemeinde, die haben seine Predigten, dann auch seine Bücher stark gemacht."
Beliebter Prediger und Kriegsgegner
Seit 1916 predigte der bayerische Theologe in der Neuen Kirche am Berliner Gendarmenmarkt, dem heutigen Deutschen Dom. Rittelmeyer war hier so etwas wie ein Star-Prediger. Bald wurde er zum Kriegsgegner und unterzeichnete anlässlich des 400. Lutherjubiläums im Oktober 1917 einen Aufruf für Frieden und Verständigung. Rittelmeyer gehörte zu jenen jungen Theologen, die eine neue theologische Orientierung suchten.
"Die evangelische Theologie erlebte ja - in Gestalt der sogenannten Dialektischen Theologie von Karl Barth - eine 'Theologie der Krise', auch einen Aufbruch. Ein Hadern auch mit den theologischen Deutungen des Ersten Weltkriegs. Manche dieser Nationalprotestanten wie Adolf von Harnack begrüßten ja das Geschehen des Ersten Weltkriegs. Das hat die junge Theologen-Generation doch irre werden lassen an dieser Theologie."
Sagt der Theologe Matthias Pöhlmann. Er ist bei der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern zuständig für Sekten- und Weltanschauungsfragen. Pöhlmann kann nachvollziehen, dass Rittelmeyer Orientierung suchte, eben auch in der damals noch jungen Anthroposophie des Publizisten Rudolf Steiner.
Fasziniert von Rudolf Steiner
"In dieser spannenden Phase der Weimarer Republik - in der Anfangszeit - da kam es zur Wiederbelebung von Okkultismus, Spiritismus und überhaupt Interesse auch an der Theosophie und Anthroposophie", sagt Matthias Pöhlmann. "Die Weimarer Republik ermöglichte auch vielen dieser neuen entstehenden Gemeinschaften organisationsrechtliche Möglichkeiten, was im Kaiserreich noch nicht so der Fall gewesen ist."
Rittelmeyer war von der Person Rudolf Steiners fasziniert. Aber mit den Vertretern der Theosophie konnte er zunächst nichts anfangen. Auch die Anthroposophie, die Steiner aus der Theosophie entwickelte, war Rittelmeyer, dem evangelischen Theologen, anfangs unverständlich. Dennoch gründete er 1922 - als fast 50-Jähriger - die Bewegung für religiöse Erneuerung, die Christengemeinschaft.
Die Christengemeinschaft stützt sich einerseits auf die gesamte christliche Überlieferung, andererseits wesentlich auf die Anthroposophie, ein Denkgebäude, dem viele Einflüsse zugrunde liegen: etwa die Ideen Goethes, die christliche Mystik oder fernöstliche Lehren. Die Anthroposophie versteht sich als eine neue Lehre, die auf das gesamte Leben ausstrahlen soll, etwa auf die Waldorf-Pädagogik, die homöopathische Medizin oder die biologisch-dynamische Demeter-Landwirtschaft. Rudolf Steiner gab auch den neuen Kultusgemeinden der Christengemeinschaft den Rahmen vor, Friedrich Rittelmeyer wurde ihr erster Erzoberlenker.
"Menschenweihehandlungen"
Die Liturgie in den so genannten "Menschenweihehandlungen" wird seit 1922 unverändert zelebriert, sagt Joachim Knispel, der Berliner Pfarrer der Christengemeinschaft.
"Also Menschenweihehandlung ist der Versuch, einen neuen Zugang für den Menschen zur göttlichen Welt zu eröffnen durch eine feste Liturgie mit ihren vier großen Abschnitten oder Stufen: Evangeliumverkündigung, Opferung, Wandlung und Kommunion."
Eine heilige Handlung, die niemals in einem Rundfunkgottesdienst zu hören sein wird. Selbst jedes Aufnahmegerät ist bei der Christengemeinschaft verpönt.
"Was in solcher Unmittelbarkeit geschieht wie ein solcher Gottesdienst, der ganz und gar darauf gebaut ist, dass die, die da anwesend sind mit ihrem ganzen Seelenleben mitgehen, diese ganze Unmittelbarkeit und Unwiederholbarkeit, die lässt sich mit dem besten Medium nicht übertragen", sagt Knispel.
Besucher sind zwar willkommen, Informationen über den Ablauf oder Inhalt eines Gottesdienstes sollen aber nicht nach außen dringen, sagt Knispel. Dieser Vorschrift unterliegt der evangelische Theologe Matthias Pöhlmann allerdings nicht. Ein neuer Kultus und neue Ämter - darin unterscheide sich die Christengemeinschaft von den Kirchen. Und weiter:
"Die Christengemeinschaft hat jetzt im Gegensatz zur Evangelischen Kirche, die ja nur zwei Sakramente kennt, plötzlich sieben, also so eine Art Re-Katholisierung, dass der Sprachduktus, auch die Modulation noch sehr stark an die 20er-Jahre erinnert. Wenn man direkt in der Menschenweihehandlung ist, fallen einem auch manche fremde Formulierungen auf, allein auch wie der Segen gespendet wird, wo eben der Priester die eine Hand nach oben, die andere nach unten hin streckt, dass oben und unten verbunden wird. Es ist von Gott sehr stark in neutrischen Formulierungen die Rede."
Ist die Taufe der Christengemeinschaft eine Taufe?
Den Neuerungsanspruch der Anthroposophen nehme Pöhlmann durchaus ernst. Aber genau deswegen könne es keine Gemeinschaft mit den evangelischen und vielen anderen Kirchen geben. Für den evangelischen Theologen ist die Taufe der Christengemeinschaft keine Taufe.
"Die Taufe wird nicht anerkannt von den ökumenischen christlichen Kirchen, weil sie ein wesensfremdes Element zum einen mit ins Spiel bringt, die Asche, und zum anderen ist das ganze Glaubensgebäude der Christengemeinschaft doch so stark anthroposophisch durchdrungen, dass man sagen muss, es ist kein ökumenisches Christentum, sondern eher ein anthroposophisch interpretiertes Christentum."
Das sieht Pfarrer Joachim Knispel anders. So würden sonntags in der Christengemeinschaft ähnliche Bibelstellen behandelt wie in evangelischen Gottesdiensten. Und in der Tauffrage könne es eine Einigung geben, wenn die evangelischen Kirchen dies nur wollten.
"Die entscheidende Frage ist eigentlich, ob die so genannte Taufformel in unserer Taufe Verwendung findet", sagt Knispel. "Darüber ist viel nicht nur diskutiert worden, darüber ist auch viel gearbeitet worden sogar in gemeinsamen Ausschüssen von evangelischen und Theologen von unserer Seite. Aber es wurde immer wieder ausgesprochen, diese Taufe kann nicht anerkannt werden. Und insofern sind Menschen, die von uns in die evangelische Kirche hinüber wechseln, noch mal notwendig zu taufen von der evangelischen Kirche."
Joachim Knispel hat es nicht bereut, sein Priesteramt vor mehr als 30 Jahren in der Christengemeinschaft angetreten zu haben. Bis heute ist Friedrich Rittelmeyer, der erste Erzoberlenker, für ihn maßgeblich. Einer seiner Sätze ist ihm zu einem Leitspruch geworden.
"Wenn es einen Wunsch gibt, den ich an das Schicksal frei hätte, wann wäre es dieser, dass ich an dem Höchsten, was in meiner Zeit geistig geschieht, nicht vorbeigehe."