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Fünf Jahre Fukushima
"Weit verbreitete Ängste und Sorgen"

Die Menschen in Japan seien nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima vor fünf Jahren nach wie vor stark betroffen, sagte Wolfgang Schwentker, Kulturwissenschaftler an der Universität Osaka, im DLF. Dass es keine starke Bürgerrechtsbewegung gegen Atomkraft gebe, liege an der wirtschaftlichen Not und an Ängsten in der Gesellschaft.

Wolfgang Schwentker im Gespräch mit Doris Simon |
    Menschen im Nordosten Japans gedenken der Opfer der Fukushima-Katastrophe.
    Menschen im Nordosten Japans gedenken der Opfer der Fukushima-Katastrophe. (MAXPPP/dpa)
    Schwentker sagte im DLF, die Menschen im Nordosten Japans seien weiterhin traumatisiert. Rund 60.000 Menschen lebten noch immer in Behelfsunterkünften, auch wenn die japanische Regierung viel getan habe, um die Infrastruktur wiederherzustellen.
    Im Rest Japans sei die Katastrophe von Fukushima mit Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall auch weiterhin ein Thema, allerdings auf andere Art und Weise. Die Menschen seien sensibilisiert hinsichtlich der Neustarts von Atomkraftwerken, wegen derer es erhebliche Widerstände vor Ort gebe.
    Ängste verhindern Widerstand
    Allerdings sei keine keine breite Bürgerrechtsbewegung oder grüne Bewegung entstanden, die gegen den allgemeinen Konsens Erfolg haben werde. Gründe dafür sieht Schwentker vor allem in der wirtschaftlichen Not und in den Ängsten in der japanischen Gesellschaft, was die Zukunft des Landes betrifft.
    Seit mehr als zehn Jahren sei die Selbstmordrate mit etwa 30.000 Suiziden pro Jahr hoch. Diese Zahl spreche für weit verbreitete Ängste und Sorgen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der japanischen Gesellschaft und Wirtschaft. Diese Angst bremse den Wunsch nach Veränderung, die Menschen suchten in der Unsicherheit eher den sicheren Hafen des Bekannten.

    Doris Simon: 19.000 Tote, 150.000 Vertriebene, eine Million zerstörte Häuser und Schäden von mehr als 200 Milliarden Dollar. Vier dürre Zahlen, die können nur unzureichend die Folgen von Fukushima umreißen. Heute vor fünf Jahren verursachten ein Seebeben der Stärke IX und eine 30 Meter hohe Flutwelle die bisher größte Atomkatastrophe weltweit. In der Ruine des Kraftwerks arbeiten heute immer noch über 8000 Menschen zur Absicherung und der Betreiber TEPCO geht davon aus, dass es noch 30 bis 40 Jahre dauern wird, bis das Kraftwerk endgültig gesichert ist. - Am Telefon ist jetzt Professor Wolfgang Schwentker. Er lehrt an der Universität Osaka vergleichende Kulturwissenschaften. Guten Tag!
    Wolfgang Schwentker: Einen schönen guten Tag.
    Simon: Herr Schwentker, wie schauen Sie heute auf den Tag damals vor fünf Jahren zurück?
    Schwentker: Hier in Japan wird dieser Tag natürlich in ganz besonderer Weise begangen. Die Menschen sind nach wie vor stark betroffen. Aber ich selber denke auch daran, wie ich Fukushima und die Katastrophe in Nordost-Japan erlebt hatte. Ich hatte damals eine Konferenz hier in Osaka und merkte plötzlich, wie meine Kollegen - nachmittags gegen drei Uhr war es wohl - plötzlich auf ihre Mobiltelefone schauten und dann einige direkt nach Tokio zurückkehrten. Heute, fünf Jahre danach, ist die Situation etwas anders. Und wenn Sie mich danach fragen, wie reagiert Japan darauf, müsste ich fast mit einer Gegenfrage antworten und sagen, über welches Japan sprechen wir denn eigentlich.
    "Die Behörden vor Ort haben viel geleistet"
    Simon: Das würde ich dann auch gerne wissen. Welches Japan meinen Sie?
    Schwentker: Natürlich sind die Menschen in den Regionen im Nordosten, die direkt von der Dreifach-Katastrophe betroffen sind, heute weiterhin traumatisiert. Wir haben im Moment noch 59/ 60.000 Menschen, die nach wie vor in Behelfsunterkünften leben. Es sind nach wie vor noch 180.000 Menschen da, die noch nicht in ihre ehemaligen Wohnungen und Häuser zurückkehren konnten, obgleich in den letzten fünf Jahren dort viel passiert ist. Wir müssen uns erinnern, dass kurz nach den Katastrophen 470.000 Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen mussten. Hier hat die japanische Regierung und vor allen Dingen aber die Behörden vor Ort haben viel geleistet, die Menschen zum Teil notdürftig unterzubringen, dann aber auch zu versuchen, die Infrastruktur wiederherzustellen.
    Simon: Herr Schwentker, Entschuldigung, wenn ich Sie mal kurz unterbrechen darf. Sie beschreiben gerade das, was im Nordosten, in der Krisenregion selber, wo die Katastrophe sich ereignet hat, passiert ist. Wie sieht es denn im Rest Japans aus? Ist denn da Fukushima noch ein Thema?
    "Die Katastrophe hat vor allen Dingen die Menschen sensibilisiert"
    Schwentker: Auch hier ist Fukushima natürlich noch ein Thema, aber auf eine ganz andere Weise. Die Katastrophe hat vor allen Dingen die Menschen sensibilisiert hinsichtlich des Neustarts der verschiedenen Atomkraftwerke. Wir haben ja in Japan insgesamt 17 Atomkraftwerke mit etwa 54, 55 Reaktoren.
    Simon: 43!
    Schwentker: Hier gibt es erhebliche Widerstände vor Ort, was den Neustart dieser Reaktoren betrifft. Erst am vergangenen Dienstag hat ein Distriktgericht den Neustart einer Anlage im Westen am japanischen Meer vorerst verhindert. Da sind Sensibilitäten da. Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass in den Regionen, die weit entfernt liegen, etwa im Südwesten, die Menschen auch wieder zum Alltag zurückgekehrt sind und Fukushima und die Dreifach-Katastrophe nicht mehr das beherrschende Thema sind.
    Simon: Herr Schwentker, wenn Sie das so beschreiben, den Widerstand auch dagegen, dass Atomkraft wieder genutzt wird - eine Zeit lang waren ja die Atomreaktoren alle runtergefahren; zwei sind jetzt wieder in Betrieb -, warum macht die Regierung dann trotzdem weiter? Die hat ja ganz konkrete Pläne, wieder sehr viel mehr hochzufahren.
    Schwentker: Die offiziellen Argumente gehen dahin, dass ein Energiewechsel, eine Trendwende, so wie wir sie in Deutschland erlebt haben, für die japanische Wirtschaft zu kostspielig wäre. Aber auch hier muss man sagen, dass die Regierungsparteien zeitweilig zerstritten und gespalten waren. Ich möchte daran erinnern, dass der ehemalige Ministerpräsident Kusomi angeregt hatte, die Dreifach-Katastrophe auch als Chance für die Zukunft zu nutzen und die Energiepolitik in Japan grundlegend zu überdenken. Er ist aber sowohl am Widerstand seiner Partei, wohl aber auch am Widerstand der starken Atomlobby gescheitert.
    "Die Japaner glauben dem Ministerpräsidenten dies in gar keiner Weise"
    Simon: Ministerpräsident Abe hat ja öffentlich verkündet, man habe Fukushima unter Kontrolle. Nur ein Beispiel: Auf dem Gelände allein, dort lagern noch 750.000 Tonnen verseuchtes Wasser, als Beispiel auch für die Fragwürdigkeit dieser Behauptung. Die Versicherung, dass man alles unter Kontrolle hat, glauben das die Japaner eigentlich ihrem Ministerpräsidenten?
    Schwentker: Nein. Die Japaner glauben dem Ministerpräsidenten dies in gar keiner Weise. Aber die japanische Politik und die Reaktionen der Bevölkerung sind hier sehr schwer zu verstehen. Sie folgen dem Ministerpräsidenten nicht in der Politik der Wiederinbetriebnahme der Atomkraftwerke; sie folgen dem Ministerpräsidenten auch nicht in der Frage der Sicherheitsgesetze und in vielen anderen Dingen. Aber sie folgen dem Kabinett Abe nach wie vor in der Wirtschaftspolitik und auch hier in Japan werden die politischen Machtverhältnisse zu allererst im Portemonnaie entschieden.
    Simon: Das heißt, die Wirtschaft, der Bedarf an Energie, das zählt für viele Japaner letztlich dann mehr als ihre Sorgen und Bedenken?
    Schwentker: Ja, das würde ich so zusammenfassen. Die Widerstände hier sind da. Sie sind gewachsen. Japan ist sensibilisierter. Aber ich kann keine breite Bürgerrechtsbewegung oder gar eine grüne Bewegung erkennen, die dauerhaft gegen den allgemeinen Konsens Erfolg haben wird.
    "Wir haben eine extrem hohe Selbstmordrate in Japan"
    Simon: Können Sie das auch mit Tradition in Japan erklären, oder wo sehen Sie die Gründe?
    Schwentker: Ich sehe die Gründe in erster Linie in der wirtschaftlichen Not, in den Ängsten, die innerhalb der japanischen Gesellschaft bestehen, was die Zukunftsaussichten der Wirtschaft betrifft. Wir haben seit über zehn Jahren eine extrem hohe Selbstmordrate in Japan von etwa 30.000 Suiziden pro Jahr. Das ist relativ stabil und das spricht für weit verbreitete Ängste und Sorgen hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der japanischen Gesellschaft und Wirtschaft.
    Simon: Das heißt, das bremst auch den Wunsch nach Veränderung?
    Schwentker: Das bremst den Wunsch nach Veränderung und man sucht in der Unsicherheit eher den sicheren Hafen dessen, was man schon kennt.
    Simon: Das war Professor Wolfgang Schwentker. Er lehrt an der Universität in Osaka vergleichende Kulturwissenschaften. Herr Professor Schwentker, vielen Dank für das Interview.
    Schwentker: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.