In den ersten Tagen und Wochen nach der Havarie war die Situation für die Bevölkerung am kritischsten, denn die explodierten Reaktorblöcke von Fukushima Daiichi setzten große Mengen an radioaktivem Jod frei. Dass dieses radioaktive Jod vor allem für Kleinkinder gefährlich ist, lehrt die Erfahrung von Tschernobyl: Damals stiegen dort die Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern sprunghaft an. Für Fukushima rechnet man nicht damit: Aufgrund der derzeitigen Einschätzung der radioaktiven Belastung, sehen Strahlenschutzexperten ein erhöhtes Risiko nur für Orte wie das japanische Iitate: Orte also, die erst spät evakuiert worden sind, obwohl der Fall-out sie stark belastete. Wolfgang Weiss von der Internationalen Strahlenschutzorganisation UNSCEAR:
"Was wir sehen in diesen höher beaufschlagten Gebieten, die nicht evakuiert worden sind, ist, dass wir für Erwachsene bis zu zehn Millisievert im ersten Jahr Exposition ausrechnen, für das Kind etwa doppelt so hoch."
Zum Vergleich: Bei einer Unterleibsaufnahme in einem Computertomographen liegt die Belastung bei 15 Millisievert. Kleinkinder reagieren jedoch sehr viel empfindlicher auf Strahlung als Erwachsene. Hinter diesen nüchternen Zahlen verbirgt sich also, dass ihr lebenslanges Krebsrisiko steigt. Allerdings:
"Wenn man das, was die Wissenschaft weiß über Risiken, zugrundelegt, ist der Absolutwert dieses erhöhten Risikos so klein, dass wir das aus dem Grundrauschen des Pegels für Krebserkrankungen nicht herausfiltern werden können."
Das heißt: Weil ohnehin 30 Prozent aller Menschen an Krebs sterben, könnte das durch die Reaktorhavarien von Fukushima ausgelöste Einzelschicksal durchaus in der Statistik untergehen. Auch Keith Baverstock von der der Universität in Ostfinnland in Kuopio vermutet, dass der Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle geringer sein wird als nach Tschernobyl:
"Eine japanische Nichtregierungsorganisation hat zwar für die Region um Iitate eine hohe Kontamination mit radioaktivem Jod gemessen. Aber die Menschen leben dort vollkommen anders als die Bevölkerung von Tschernobyl. Sie essen weniger selbst produzierte Lebensmittel und es gibt auch keinen Jodmangel. Das sind schützende Faktoren, so dass ich erwarte, dass durch Fukushima weniger Fälle von Schilddrüsenkrebs auftreten werden als nach Tschernobyl."
Solchen Prognosen glauben viele Eltern nicht so recht – auch Eltern, die in kaum vom Fall-out belasteten Gebieten leben. Ihre Skepsis wird genährt durch die Ergebnisse eines Messprogramms, mit dem zwei Millionen Menschen aus den betroffenen Regionen überwacht werden. Von diesen zwei Millionen sind 360.000 Kinder. Deren Schilddrüsen werden mit einer neuen, äußerst genauen, aber nicht weltweit erprobten Ultraschalltechnik untersucht. Mit ihrer Hilfe sind inzwischen ein Dutzend Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kleinkindern diagnostiziert worden – und:
"30 bis 40 Prozent der Kinder haben diese kleinen Anomalien, die man bisher mit anderen Techniken überhaupt nicht gesehen hat, von denen man auch nicht weiß, ob sie jeweils im Krebs sozusagen sich ausprägen. Diese Befunde muss man jetzt einordnen in das normale Krebsgeschehen in einem Land.
Das jedoch erweist sich als sehr schwierig, da keine Vergleichsgruppen in einem unbelasteten Gebiet untersucht werden, erklärt Wolfgang Weiss von der Internationalen Strahlenschutzorganisation UNSCEAR:
"Unscear hat dazu eine klare Position, nämlich dass die bisher gefundenen Fälle nicht aus der Größenordnung herausfallen, die aus den Unterlagen, die wir sonst haben aus dem Land, besorgniserregend wären. Aber das ist etwas, was man sehr genau auch in Zukunft weiter verfolgen soll."
Ungewöhnlich sei auch ein anderes Ergebnis, urteilt Keith Baverstock:
"Bei diesem Screening finden sie Schilddrüsenkrebsfälle bei Teenagern. Das könnte ein Screening-Effekt durch diese hochgenaue Untersuchungsmethode sein. Sie könnte Veränderungen oder Tumoren zeigen, die normalerweise erst bei 25- oder 30jährigen gefunden worden wären. Ob das jetzt mit Fukushima zusammenhängt, kann ich nicht sagen."
In den ersten Jahren nach Tschernobyl jedenfalls war diese Altersgruppe nicht betroffen. Was sich hinter diesen Befund verbirgt, wird nun näher untersucht werden müssen.