Frankreich hat seinen WM-Titel 1998 als Triumph von Kulturen und Religionen gefeiert. Doch das Auseinanderdriften von Bevölkerungsgruppen blieb nicht verborgen. Das Länderspiel gegen Algerien musste 2001 abgebrochen werden. Vier Wochen nach dem 11. September ließen viele arabischstämmige Zuschauer ihrer Abneigung gegen den Westen freien Lauf. Der Soziologe Albrecht Sonntag erforscht seit zwei Jahrzehnten auch die gesellschaftlichen Hintergründe des Sports:
"Also ich habe mich 1998 sehr bestätigt gefühlt in meiner Meinung, dass der Fußball nicht ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, sondern dass der Fußball die Gesellschaft so widerspiegelt, wie sie sich eigentlich gern sehen würde. Dass er also immer ein Raum für Projektionen ist von Idealbildern, von Wunschbildern auch. Auch damals gab es ja schon offensichtliche Schwierigkeiten bei der Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt von Leuten mit Migrationshintergrund. Es gab Misstöne von Seiten der Front National, die immer stärker wurde. FN, also Front National. Und die Hysterie war eigentlich weniger bei der Bevölkerung, die sich einfach nur gefreut hat, sondern das war bei den Intellektuellen, die den Fußball eigentlich immer unterschätzt hatten, und plötzlich Dinge hinein interpretierten, die völlig über das Ziel hinausschossen."
Seit fast 150 Jahren verdeutlicht der Fußball die Migrationsbewegungen in Frankreich. In den fünfziger Jahren vertraten einige Spieler mit polnischen und italienischen Wurzeln das Nationalteam, in den Siebzigern und Achtzigern tauchten spanisch und portugiesisch geprägte Biografien auf. Der erste schwarze Spieler war 1975 Gérard Janvion aus Martinique. Seit den Neunzigern kamen viele muslimische Spieler aus Nordafrika dazu, zunehmend wurde über Religion gesprochen. Aber bis heute nicht so intensiv wie in Deutschland. Albrecht Sonntag ist Professor für Europa-Studien in Angers und Kolumnist der Tageszeitung "Le Monde":
Es ist schön, dass der Fußball so vielen Leuten ermöglicht, sich bis ganz nach oben zu kicken. Aber das sagt nichts darüber aus, wie sehr eine Integrationspolitik gelungen ist oder nicht."
Wenn die Mannschaft gewinnt, ist sie französisch...
Die französische Gesellschaft blickt heute auf ein Jahrzehnt der Polarisierung zurück. Jugendarbeitslosigkeit, Rassismus, Straßenkämpfe in den Vorstädten. In diesem Klima erhielten Fußballnachrichten die Wirkung von Skandalen: Der ehemalige Nationalspieler Frank Ribéry konvertierte 2006 zum Islam. Bei der WM 2010 lehnten sich einige Spieler gegen den Trainer auf. In Medien galten sie als "Islamfraktion". Die ungeschriebene Regel gilt wohl noch immer: Wenn die Mannschaft gewinnt, ist sie französisch. Wenn sie verliert, ist sie zu schwarz oder zu muslimisch. Vor kurzem wurde der Posten einer Staatssekretärin geschaffen, die sich beim Premierminister mit Migrationsfragen beschäftigt. Stefan Dehnert analysiert die Politik als Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Paris.
"Aber es ist nicht so, wie das eben die Staatsministerin für Integration beispielsweise in Deutschland als Rolle hat. Und auch nicht das Verständnis, wie man in Deutschland Integration betreiben möchte: Gerade auch durch die Anerkennung der kulturellen Diversität, und dass man Zuwanderern auch zugesteht, dass sie diese Diversität leben und ausleben können und darin zum Teil sogar gefördert werden. Man spricht nicht von Integration, weil das Integrationsmodell in Frankreich ein anderes ist, nämlich über die Gleichheit aller in der Republik. Es gibt also keine Idee einer positiven Diskriminierung, Es gibt nicht eine Idee der Multikulturalität."
Auch der französische Fußballverband betreibt kaum Programme gegen die Ausgrenzung von muslimischen oder schwarzen Mitgliedern. Zuletzt wurde das Thema von Karim Benzema überschattet. Wegen einer Erpressungsaffäre wurde der Stürmer von Real Madrid nicht für das französische Team berücksichtigt. Doch Benzema warf Nationaltrainer Didier Deschamps Rassismus und Islamophobie vor. Diese Reaktion verdeutliche eine weit verbreitet Haltung, sagt Mounir Zitouni. Der Redakteur des Fachmagazins Kicker hatte für das Nationalteam Tunesiens gespielt.
Abgrenzung zu den Wurzeln
"Ich kann mich erinnern, dass 1998 auch viele Jugendliche in den Banlieues, die einen Migrationshintergrund hatten, die haben brasilianische Trikots angehabt, um sich da klar abzugrenzen. Die Beziehungen zu diesen Ländern, den ehemaligen Kolonien, sind natürlich noch einmal ganz speziell: Sich dem Land Frankreich schon auch nahe fühlen. Aber trotzdem gibt es da, ja, es ist jetzt vielleicht ein großes Wort, aber es gibt so eine gewisse Minderwertigkeit, auch einen Komplex, den ich auf jeden Fall auch in Tunesien beobachtet habe gegenüber Frankreich. Und daraus resultiert dann auch viel Ablehnung und Hass."
In Deutschland ist die Lage anders, aber nicht frei von Spannungen. Der deutsch-türkische Spieler Mesut Özil veröffentlichte vor der EM ein Foto von seiner Reise nach Mekka. Die AfD warf ihm ein "antipatriotisches Signal" vor. Der Deutsche Fußball-Bund antwortete mit einem Spot auf die Hetze in sozialen Medien, der Titel: "Wir sind Vielfalt". Schon seit 2006 hat der DFB eine Integrationsbeauftragte. Der Verband schult Trainer und vergibt jährlich einen der am höchsten dotierten Sozialpreise zum Thema. Für Flüchtlinge wurde ein Ratgeber entworfen. In enger Abstimmung mit der Beauftragten der Bundesregierung für Integration, erzählt Reinhard Grindel, seit April Präsident des DFB:
"Integration ist Kerngeschäft"
"Wenn wir jedes zweite Kind haben in Deutschland, das geboren wird und einen Migrationshintergrund hat, dann ist, sich für eine Integration in den Verein einzusetzen, keine Frage einer sozialen Verantwortung. Das ist Kerngeschäft, das ist Zukunftsfrage für den Verein. Wenn wir nicht Menschen mit Migrationshintergrund, Kinder und Familien, dort mit einbeziehen, dann werden wir als Vereine keine Zukunft haben."
Das französische Sportministerium hat eine Kampagne gegen Rassismus gestartet. Ist das Symbolpolitik oder substanzielles Umdenken? Der Migrationsanteil unter Spielern in alten Altersklassen ist hoch, aber unter Funktionären, Trainern und Schiedsrichtern sind Einwandererbiografien unterrepräsentiert. In Frankreich und in Deutschland.