In der Gesellschaft würden die Autonomen oft als kritische Jugendliche betrachtet, die mal über die Stränge schlagen würden, sagte Pfahl-Traughber. Damit würde aber das Gefahrenpotenzial, das von der autonomen Szene ausgehe, nicht adäquat erfasst.
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Auf den Bildern und Fotos aus Hamburg sieht man sie als vermummten Block inmitten von Kundgebungen, oder später, wie sie Schaufenster einwerfen, Barrikaden anzünden und Brandsätze auf Polizisten werfen. Sich selbst bezeichnen sie als "politisch radikal", als "Antifaschisten", "Antikapitalisten" oder auch "Anarchisten". Oft ist schlicht vom schwarzen Block die Rede, oder von den sogenannten Autonomen. Der Soziologe und Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber hat sich mit dieser Strömung des Linksextremismus intensiv beschäftigt. Zeichnen sich die Autonomen vor allem dadurch aus, dass sie Gewalt für ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung halten? Das habe ich Armin Pfahl-Traughber vor dieser Sendung gefragt.
Armin Pfahl-Traughber: Das kennzeichnet sie nicht allein, aber das ist ein konstitutives Merkmal schon, dass man das staatliche Gewaltmonopol nicht anerkennt und sich selbst ermächtigt, Gewalt auszuüben. Dabei geht man in der Regel davon aus, dass der Staat oder die kapitalistische Gesellschaft strukturelle Gewalt ausübt und man sich dagegen nur wehrt, dass es eine Abwehrhandlung oder ein legitimer Widerstand sei. Das ist wirklich ein tragendes Merkmal, aber es gibt natürlich noch andere Merkmale im Bereich der Ideologie oder der Organisationsform.
"Uneins darüber, inwieweit man eine Ideologie hat"
Barenberg: Wenn wir bei der Ideologie sind, bei diesem gefühlten Widerstand gegen einen Polizeistaat, wie man es ja auch häufig hört, was sind denn dann weitere wichtige ideologische Elemente?
Pfahl-Traughber: Na ja. Ideologie ist jetzt bei den Autonomen nicht so misszuverstehen, dass es sich um eine geschlossene Weltanschauung handelt wie der Marxismus-Leninismus beispielsweise. Das gibt es in der Szene nicht. Man ist sich auch ein bisschen uneins darüber, inwieweit man eine Ideologie hat oder wie die genau aussieht. Wenn man sich so ein paar Papiere anschaut, die einen Kultstatus haben in der Szene, um jetzt nicht zu sagen programmatischen Charakter, das wäre zu viel, dann taucht da der Begriff des diffusen Anarchismus auf und es taucht der Begriff der Politik der ersten Person auf. Bei diffuser Anarchismus ist das Diffus wichtig, weil es gab im 19. Jahrhundert eine Denkströmung um Namen wie Bakunin, Kropotkin oder Proudhon in der Arbeiterbewegung, die eine Theorie des Anarchismus entwickelt haben. Das gibt es in der autonomen Szene nicht. Man kennt mitunter vielleicht gar nicht mal die Namen dieser Klassiker, sondern hat ein sehr subjektiv-individualistisches Anarchismusverständnis entwickelt. Und die Politik der ersten Person meint einfach nur, dass der Maßstab für das eigene politische Handeln die individuelle Blickrichtung ist, dass man auch nicht sagt, ich engagiere mich für das Volk oder für eine soziale Klasse, die Arbeiterschaft, sondern ich engagiere mich für mich selbst und für meine Aktivistenkollegen in dieser Szene, und das mache ich sehr, sehr stark von einer hedonistischen, subjektiven voluntaristischen Perspektive abhängig.
"Je nach Akteur ein unterentwickeltes politisches Bewusstsein"
Barenberg: Wenn Sie sagen, dass viele Angehörige dieser Gruppe oder dieses Milieus, sagen wir mal, nur sehr vage Vorstellungen von den theoretischen Grundlagen haben, wenn Sie sagen, dass es vor allem um den Individualismus geht, etwas für mich selbst zu tun und das, was ich mir vorstelle, was ist eigentlich links an der politischen Überzeugung, wenn man es insgesamt in den Blick nehmen will, diese Autonomen?
Pfahl-Traughber: Das was man sozusagen als politische Position der Gesellschaftskritik auch artikuliert, das deckt sich mit dem, was eine politisch linke Auffassung ist. Das gilt zum Beispiel für die Ablehnung des Kapitalismus oder der Globalisierung oder des Neoliberalismus oder des Rechtsextremismus oder der staatlichen Repression. Das sind ja alles Themen, die sowohl von linken Demokraten wie von linken Extremisten besetzt sind und mit denen man an die Öffentlichkeit geht, und das sind auch inhaltliche Bezugspunkte für die autonome Szene. Das macht die auch politisch. Sie haben kein alternatives Programm für eine andere Gesellschaft und sie haben je nach Akteur auch ein sehr unterentwickeltes politisches Bewusstsein. Es gibt Leute in der Szene, vor allem Alt-Autonome, die schon ein stärker entwickeltes politisches Bewusstsein haben, aber gerade die Jüngeren sind mehr in die Richtung von Gefühlsautonomen oder Gefühlsanarchisten einzusortieren. Aber auch da bedienen sie sich politischer Themen, politischer Positionen, die man in der Rechts-Links-Skala eher links verorten würde.
"Sie suchen sich ideologiekompatible Gewaltobjekte aus"
Barenberg: Nun sagen ja viele Beobachter, dass die politische Programmatik oder, sagen wir, Parolen oder Schlagworte, dass all das nur ein Vorwand ist, salopp gesagt, dass es den Autonomen oder Anarchisten oder wie immer sie sich nennen am Ende um Krawall geht und nicht um Kapitalismuskritik. Wie zutreffend ist dieses Argument aus Ihrer Sicht?
Pfahl-Traughber: Das eine schließt aus meiner Sicht das andere nicht notwendigerweise aus. Es gibt sehr wohl diese Begeisterung oder dieses Ausleben wollen von Gewalt, und zwar von Gewalt an sich. Das ist Ausdruck eines subjektiven Freiheitsgefühls. In der Szene kursierte seit den 80er-Jahren ein Spruch: "Du bist frei in dem Moment, wenn der Stein Deine Hand verlässt, bis er auftrifft", dass man den Gewaltakt des Steinwurfs als einen Akt individueller Befreiung ansieht, und dann auch natürlich der Fun-Faktor für Gewalt insgesamt auch da eine Rolle spielt. Wenn Sie sich Erinnerungsbände von Autonomen durchlesen, da wird dann begeistert davon gesprochen, wie man durch die Straßen zog, Steine auf Bullenwannen warf, sich vor Bullen versteckte oder ihnen eins auf die Fresse gab. Das ist der Wortgebrauch in diesen Statements. Das sei sozusagen eine Atmosphäre von Freiheit und Abenteuer. Die letzte Formulierung ist übrigens ein O-Ton, aus dem Kopf jetzt zitiert, erinnert ein bisschen an die Malboro-Werbung vor zehn Jahren in den Kinos. Da kommt diese Abenteuer-Dimension von Gewalt rüber. Aber es hat auch eine politische Komponente, denn ansonsten würden die Autonomen sich ja irgendwelche anderen Objekte aussuchen als Ziele für ihre Gewalttaten. Sie suchen sich ja ideologiekompatible oder politikpassende Gewaltobjekte aus, gegen die sie sich dann wenden, und das macht diese Kombination von einer diffus-linken Auffassung kompatibel mit dieser Lust der Gewaltanwendung.
Barenberg: In Hamburg haben sie sich allerdings ja auch Fahrradläden oder Supermärkte oder die Filiale einer Drogeriekette ausgesucht.
Pfahl-Traughber: Ja.
"Man wird noch differenziert über die Polizeitaktik reden müssen"
Barenberg: Die Polizei in Hamburg gibt sich jedenfalls einigermaßen entsetzt über das Ausmaß der Gewalt und der Gewaltbereitschaft. Würden Sie sagen, das ist richtig, das ist eine neue Entwicklung?
Pfahl-Traughber: Na ja. Das was wir in Hamburg gesehen haben, das war eigentlich erwartbar von der Grundstruktur. Das hat man auch bei der EZB-Eröffnung gesehen in Frankfurt vorvoriges Jahr und das ist eigentlich bei jedem Großereignis so erwartbar. Da mobilisiert die Szene auch monatelang drauf. Das kann man auch feststellen, wenn man sich da im Internet mal auf diversen Seiten tummelt, dass da mobilisiert wird. Es gab jetzt auch zum Beispiel ein Werbevideo "Welcome to Hell" im Internet, wo ganz deutlich mit Gewaltmetaphern, mit entsprechenden Anspielungen gearbeitet wird, und das legt ja nahe, dass die Szene auf Krawall aus ist.
Man wird sicherlich in ein, zwei Monaten ein bisschen differenziert noch über die Polizeitaktik in Hamburg reden müssen. Aber ob die jetzt was falsch gemacht haben oder alles richtig gemacht haben, sei mal dahingestellt. Aber wenn Autonome mit Zwillen oder Hämmern zu einer Demonstration kommen, dann wollen sie nicht friedlich demonstrieren.
Das ist sozusagen die Grundsituation, die es da immer wieder gibt, und die Besonderheit in Hamburg war in der Tat die Gewaltintensität. Das hat dann auch sicherlich etwas mit regionalen und zeitlichen Besonderheiten dort zu tun. Wir haben aber auch ein Überspringen in nicht passende Bereiche von Gewalt, wozu ja auch nicht die Bonzenkarre, sondern der Micra um die Ecke gehört, der da angezündet wird, dass dann das auch irgendwann eskaliert und diese eigentlichen Feindbilder gar nicht mehr im Zentrum stehen, sondern alles irgendwie angegriffen wird. Hier haben wir natürlich auch das Problem, dass wir noch nicht genau in Hamburg wissen, wer die Täter sind. Bei solchen Geschichten gibt es immer Trittbrettfahrer, die dann aufspringen und diese Situation ausnutzen, um des materiellen Vorteils willen, die sich auch persönlich bereichern, wenn sie in irgendeinen geplünderten Supermarkt gehen. Die können der autonomen Szene angehören, können aber auch Personen außerhalb der Szene sein.
"Nicht nur eine Frage der Sicherheitsbehörden"
Barenberg: Aber wenn Sie sagen, dass vieles von dem, was wir in Hamburg erlebt haben, tatsächlich erwartbar war, und dass es auch viele Hinweise im Vorfeld gab – darüber wurde ja auch viel diskutiert -, muss man dann nicht auch tatsächlich sagen, an die politisch Verantwortlichen adressiert, dass die Gefahr im Vorfeld tatsächlich verharmlost worden ist, bagatellisiert?
Pfahl-Traughber: Ja das Problem für die Politik ist sicherlich da auf der einen Seite, dass man um das weiß. Die Sicherheitsbehörden, ob die Polizei oder die Verfassungsschutzbehörde in Hamburg, haben ja darauf aufmerksam gemacht und haben auch mehrfach Zahlen genannt von erwarteten gewaltbereiten Autonomen, die da kommen. Auf der anderen Seite möchte die Politik natürlich auch nicht, wenn die ganze Welt mit ihren Kameras auf Hamburg schaut, Hamburg als eine Polizeistadt erscheinen lassen und möchte auch die Offenheit und die Toleranz der Welt dokumentieren. Zwischen diesen beiden Denkungsarten oder beiden Situationsannahmen schwankt die Politik immer hin und her und man sieht ja jetzt schon, dass sowohl die Polizei kritisiert wird, weil sie angeblich zu stark vorgegangen ist, auf der anderen Seite sie wiederum kritisiert wird, weil sie nicht im frühen Stadium diese Gewaltexzesse oder die Gewaltakteure eingedämmt hat.
Barenberg: Im Verfassungsschutzbericht von 2016 wird die Zahl gewaltbereiter Linksextremer auf zirka 8500 geschätzt. Jetzt gibt es schon eine anlaufende Debatte darüber, ob da zu wenig hingeschaut wird. Halten Sie es für notwendig, diese Gruppe noch stärker unter Beobachtung zu stellen, beispielsweise vom Verfassungsschutz, aber auch möglicherweise von der Polizei?
Pfahl-Traughber: Ja, das auf jeden Fall. Aber das ist nicht nur eine Frage der Sicherheitsbehörden, sondern auch der Zivilgesellschaft. Es gibt in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Autonomen eine gewisse Naivität aus meiner Sicht, die die Autonomen als kritische Jugendliche, die mal über die Stränge schlagen, deuten, und damit wird das Gefahrenpotenzial, was von der autonomen Szene ausgeht, natürlich überhaupt nicht adäquat erfasst. Und es fehlt an einer Sensibilität für linksextremistisch motivierte Gewalt. Das müsste stärker in den Fokus gestellt werden und die Akteure der Zivilgesellschaft oder der Protestbewegung sollten sich meines Erachtens auch kritischer mit diesem Phänomen beschäftigen und sich in einem sehr frühen Stadium in aller Deutlichkeit davon distanzieren.
Barenberg: … sagt der Soziologe und Politikwissenschaftlers Armin Pfahl-Traughber. Vielen Dank für Ihre Zeit!
Pfahl-Traughber: Ja, bitte. Auf Wiederhören.
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