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Gambia
Auf dem Fluss der Sklavenhändler

Der Gambia gibt einem ganzen Land einen Namen. Der Fluss in dem kleinen westafrikanischen Staat hat eine ebenso bedeutende wie grausame Geschichte: Er war zentraler Transportweg für den Sklavenhandel. Der am Ufer gelegene Ort Jaffareh war der wichtigste Umschlagplatz - und gehört heute zum Weltkulturerbe.

Von Manfred E. Schuchmann |
    Empfangskomitee in Juffureh: kein Dorfbesuch ohne militärische Begleitung.
    Empfangskomitee in Juffureh: kein Dorfbesuch ohne militärische Begleitung. (Deutschlandradio / Manfred Schuchmann)
    Käpt'n Abdou gibt die Positionsmeldung an die Hafenkommandantur von Banjul, Westafrika, durch: die "Lady Jacarene" auf Fahrt flussaufwärts, Ziel Juffureh am Nordufer des Gambia, Entfernung 7o Kilometer, 43 Mann an Bord. Ich bin einer davon.
    Der Gambia ist an seiner Mündung breit wie das Meer. Hier, wo die "Lady Jacarene" gerade gegen die träge Strömung tuckert, mögen es von Ufer zu Ufer noch fünf oder sechs Kilometer sein, grün-braunes Wasser unter wolkenlos blauem Himmel, das Mangrovendickicht links und rechts ist nur als dünner, grauer Strich im Dunst zu ahnen. Der Fluss gibt dem ganzen Land den Namen, "The Gambia".
    "Schwimmwesten befinden sich unter der langen Sitzbank für die Erwachsenen, für die Kinder unter der kurzen Bank. Achtern gibt es draußen zwei Rettungsflöße..."
    ...sagt Rachel Joyce. Die "Lady Jacarene" ist ein sicheres Schiff, auch wenn sie schon ein wenig betagt ist. Vor 18 Jahren hat Rachel Joyce die "Lady Jacarene" vom englischen Hafen Ramsgate an den Gambia überführt, seither schippert sie Touristen von Banjul nach Juffureh und zurück, ein Leben auf dem Fluss.
    Wer nach Gambia fliegt, will Urlaub machen in einem der zahlreichen Hotels entlang des kurzen Küstenstreifens am Atlantik - Gambia ist der kleinste Staat in Afrika, gerade halb so groß wie das Bundesland Hessen. Einige wollen ein wenig mehr vom kleinen Ländchen sehen, Juffureh ist seine Hauptattraktion.
    "In dem Dorf Juffure, vier Tagesreisen stromaufwärts an der Küste von Gambia in Westafrika, wurde im Frühjahr 175o dem Omoro Kinte und seiner Frau Binta ein Knabe geboren. [...] Als die runzligen Hebammen [...] erkannten, dass das Neugeborene ein Knabe war, lachten sie vor Freude, denn die Überlieferung erkennt einen besonderen Gunstbeweis Allahs [...] darin, dass das Erstgeborene männlichen Geschlechtes ist."
    Die Geschichte von Kunta Kinte
    Dies sind die Anfangszeilen des Romans "Wurzeln/Roots" von Alex Haley, in den vergangenen 1970er-Jahren ein Welterfolg. Ein Sklaven-Epos, das den Leser von den Ufern des Gambia nach Maryland in Nordamerika führt und von der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Wirren der Geschichte bis zur Gegenwart - der Blick eines schwarzen Schriftstellers auf die Geschichte des Menschheits-Verbrechens Sklaverei und auf die Schicksale seiner eigenen, Alex Haleys, Vorfahren. Die Fernsehserie zum Bestseller schaffte es damals sogar ins Abendprogramm der ARD und wurde vor wenigen Jahren von ARTE erneut auf den Bildschirm gebracht. Für mich kam zuerst diese Serie, danach die Buch-Lektüre. Und dann der Wunsch, selbst einmal den Gambia hinauf zu fahren und Juffureh zu sehen.
    Der Knabe, mit dem Alex Haley seine Ahnenreihe beginnen lässt, sollte den Namen Kunta Kinte tragen. Diesen Namen, Kunta Kinte, kennt jedes Schulkind in Gambia und in ganz Westafrika. Den von Juffureh ebenso .....
    "Ja, ja, ja, das ist sehr populär. Seit zehn Tagen fahren wir jeden Tag mit einem vollen Boot nach Juffureh."
    Und von woher kommen die Passagiere?
    "Belgien, Holland, viele verschiedene Länder!"
    Auch Afroamerikaner?
    "Oh ja, die Amerikaner. Letztes Jahr kamen sie jeden Tag, ganz viele Amerikaner."
    Unter den heutigen Fahrgästen höre ich hauptsächlich Holländisch heraus, ein junges Paar kommt aus Polen, auch einige Engländer sind an Bord. Nach fast vier Stunden Fahrt halten sie Ausschau nach dem Dorf Juffureh, das Ufer rückt näher, riesige Kapok- und Baobab-Bäume überragen die Mangrovengalerie. Dann sind erste Hütten und Häuser in Sicht, ein betonierter Landungssteg ragt weit in den Fluss. Dunkle Holzboote und bunte Pirogen liegen im Uferschlick, es herrscht Ebbe - die Gezeiten des Atlantiks sind 200 Kilometer weit flussaufwärts zu spüren. Silberweiße Eisvögel schwirren tief über dem Wasser, schwarze Reiher harren bewegungslos auf Beute. Im Schatten eines Baumriesen das ehemalige Handelskontor von Albreda, ein alter, zweistöckiger Steinbau mit Ziegeldach. Die Kontore der europäischen Händler reihten sich entlang des Gambia bis tief ins Hinterland - sie kauften Gold aus Mali, Elfenbein für Britanniens Pianotasten und für Frankreichs Billardkugeln, Sklaven für die Plantagen von Neuengland bis Brasilien. Handelsware.
    Auf dem Landungssteg werden wir von einem Trupp Soldaten in grüner Tarnuniform und mit blauem Barett in Empfang genommen. Wieso Soldaten? Wir werden es gleich wissen.
    Historischer Ort der Gräuel der Sklaverei
    Getrommel und Gesinge begleiten uns von jetzt an auf Schritt und Tritt, sobald wir in Nähe der ersten Häuser sind. Kinder trommeln mit Stöcken auf leeren Plastikkanistern, klatschen in die Hände, rufen "Hello, hello" - vor jeder zweiten Wellblechhütte eine andere Gruppe. Buhlen um die Aufmerksamkeit der "toubabs", der Weißen, der Fremden aus der Ersten Welt, die immer Geld in der Tasche haben und Fotos machen wollen. Die Soldaten scheuchen die Kinder zurück, wenn sie den Besuchern zu nahe rücken. Die Regierung hat die Brigade eigens dafür stationiert.
    Der Schulchor von Juffureh singt für die "Toubabs", die weißen Besucher.
    Der Schulchor von Juffureh singt für die "Toubabs", die weißen Besucher. (Deutschlandradio / Manfred Schuchmann)
    Häuser und Hütten sind mit dem roten Lateritstaub Afrikas bedeckt, die Palmwedel, die Mangobäume, die Gärten mit ihren Kassavapflanzen, selbst die Esel - alles ist staubbedeckt. Roter Staub weht auf, wenn ein Minibus oder ein Taxi über die bucklige Piste heranrauscht und neue Besucher bringt. Inzwischen hat auch ein zweites Schiff am Landungssteg festgemacht. Juffureh gehört sicher zu den wohlhabendsten Dörfern am Gambia, der Strom der Besucher reißt nie ab, Juffureh ist ein afrikanisches Geschäftsmodell. Frauen präsentieren den Weißen ihre Kinder auf dem Arm und erwarten eine Gabe für jedes Foto; sie stampfen in leeren Mörsern, sobald die ersten Fremden um die Ecke biegen; sie legen Batikdrucke und Muschelketten aus - Juffureh ist eine Art Folklore-Disneyland. Vor allem dank Alex Haley und seinem Roman "Roots". Aber auch dank der Tatsache, dass Juffureh heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, denn es ist nicht nur ein Ort der Literatur, sondern auch ein historischer Ort der ganz realen Gräuel der Sklaverei. Vor einem kleinen Museum steht eine Skulptur, Mann, Frau, Kind - in Ketten.
    "Die Portugiesen" - sagt Ibrahim, unser Guide im Dorf - "hatten James Island besetzt, die Flussinsel, die ihr später sehen werdet. Jeden Morgen kamen sie über den Fluss und gingen auf Menschenjagd. Sie griffen die Menschen an, wenn sie ihre Felder bestellten. Und wenn sie sich im Dorf versteckten, kamen sie nachts, setzten die Hütten in Brand und kidnappten ganze Familien, die sich vor den Flammen in Sicherheit bringen wollten."
    Europa bereicherte sich an der Ware Mensch
    James Island ist eine Insel, mitten im Strom, in Sichtweite von Juffureh. Wer James Island besaß, dessen Kanonen kontrollierten den gesamten Schiffs- und Bootsverkehr auf dem Gambia, das erfahre ich im Museum der Sklaverei in Juffureh. Und auch, dass James Island wechselnde Herren hatte - Portugiesen, Engländer, Franzosen, selbst der deutsche Herzog von Kurland machte für einige Jahre mit dem Gambiahandel gute Geschäfte. Auf einer großen Karte sind Europas Häfen verzeichnet, die reich wurden mit der Ware Mensch, sie liest sich wie ein Who-is-who der schönsten Städte des Alten Kontinents - Lissabon und Sevilla, Bordeaux und La Rochelle, Antwerpen, London, Bristol, Kopenhagen, ja selbst das ehedem ostpreußische Tilsit ist hier verzeichnet, und in den südlichen Niederlanden die beschauliche Backstein-Idylle Middelburg. Der Mörtel für all ihre prachtvollen Kaufmannspaläste, ihre Reederresidenzen und die gottesfrommen Kirchen wurde mit dem Blut und den Tränen Afrikas angerührt.
    1795, kaum ein halbes Menschenalter, nachdem Kunta Kinte verschleppt und nach Amerika verkauft wurde, kam ein junger Schotte nach Juffureh, sein Name: Mungo Park.
    "Am 22. Mai 1795 segelten wir von Portsmouth ab. Am 4. Juni erblickten wir die Gebirge von Afrika und gingen am 21. des gleichen Monats nach einer angenehmen Reise von dreißig Tagen bei Dschillifrih vor Anker. Dies ist eine Stadt am nördlichen Ufer des Gambias gegenüber der Jamesinsel, wo die Engländer vormals eine kleine Festung hatten."
    Dschillifrih ist eine der vielen Schreibweisen für Juffureh. Mungo Park war ein schottischer Arzt und Abenteurer, der vom Gambia aus den Lauf des sagenumwobenen Flusses Niger erkunden wollte. Seine Reiseberichte sind eine wunderbar spannende Lektüre. Auf seiner Rückkehr vom Niger an den Gambia begleitete er von Etappe zu Etappe Sklavenkarawanen. Mit Mungo Park bekommt die Geschichte der Sklaverei noch einen anderen Akzent: Es waren nämlich ausnahmslos afrikanische Händler, die die Sklaven erworben hatten, um sie am Gambia mit Gewinn weiter zu verkaufen - die meisten waren Kriegsgefangene der unendlich zahlreichen Konflikte des territorial und ethnisch zersplitterten Weltteils. Dieser Aspekt der Geschichte wird in Juffureh heute nicht erzählt.
    Ruinen schlafen den Schlaf der Geschichte
    Alex Haley glaubte nach langen Recherchen, dass sein Vorfahr Kunta Kinte hieß und vom Kamby Bolong, dem Gambiafluss, stammte. Nicht wenige Forscher bezweifeln inzwischen die Stichhaltigkeit von Haleys Recherche. Aber die Geschichte von Kunta Kinte hat sich längst verselbstständigt, sie ist identitätsstiftend geworden, profitabel und zu einer Art von neuzeitlichem Mythos. Wie jeder Mythos hat auch der von Kunta Kinte seinen Sänger.
    "Today we have her daughter Aya Mariama Fopona, that is the eighth generation of the family of Kunta Kinte. We also have Fatouh Kinte, she also represents the eighth generation of the family of Kunta Kinte..."
    Zwei ältere Damen in bunten Gewändern und eleganten Kopftüchern sitzen auf wackligen Plastiksesseln in einer kleinen Versammlungshalle - Aya Mariama und Fatouh sind Nachfahren der Kunta-Kinte-Familie in achter Generation. Für einen kleinen Obolus darf man sich mit ihnen fotografieren lassen. Die Damen sind von stoischer Gelassenheit: Vorstellung und Fototermin mit "toubabs" in kurzen Hosen und Baseballmützen wiederholen sich zigfach am Tag.
    Kunta Kinte Island
    Kunta Kinte Island, ehemals James Island, Umschlagplatz des Sklavenhandels (Deutschlandradio / Manfred Schuchmann)
    Für das letzte Stück Fahrt nach James Island sind wir in Pirogen umgestiegen, etwas beengt, etwas wackelig. James Island liegt mitten im Gambia wie die Pfalz bei Kaub im Rhein. Die Engländer hatten auf der Insel ein schwer bewaffnetes Fort errichtet, die Rohre seiner rostigen Kanonen sind noch immer auf die Ufer gerichtet, es gab viele Gefechte um diesen strategisch so wichtigen Ort für den Sklavenhandel. Heute schlafen die Ruinen des Forts unter den ausladenden Ästen hoher Baobab-Bäume den dunklen Schlaf der Geschichte. Ein Schlaf voller Albträume. Tausenden Unglücklichen wurde auf James Island das Brandzeichen ihrer neuen, weißen Herren in das Fleisch gebrannt wie einem Stück Vieh.
    Idylle ist nicht ohne den Schrecken zu haben
    Heute heißt die Insel Kunta Kinte Island und gehört zum Weltkulturerbe. Wie viele namenlose Leidensgenossen Kunta Kintes werden hier einen letzten, verzweifelten Blick zurückgeworfen haben auf das Dorf Juffureh am fernen Ufer und auf ihre afrikanische Heimat, die sie niemals wieder sehen würden? Wenn ich meinen alten indischen Hippiefreund Surjeet und seine holländische Frau Neli mal wieder besuchen werde im beschaulichen Middelburg, werden sich die Bilder von James Island, Kunta Kinte Island, wohl vor mein inneres Auge drängen angesichts all der wohlhäbigen Bürgerhäuser, des prachtvoll gezierten Stadthauses, der glaubensfesten Gottesburgen. Diese Idylle ist kaum mehr ohne den Schrecken der Geschichte zu haben.