Fabian Elsäßer: Videospiele und kultureller Kontext – das ist schon lange kein Gegensatz mehr, das funktioniert sogar in den Höhen der Weltliteratur: Ein gutes Beispiel ist "Being Faust - Enter Mephisto", ein Spiel für das Smartphone auf der Basis von Goethes Faust, entwickelt vom Goethe-Institut in Seoul und einer Videospielfirma. Elemente des Spiels in andere Bezüge zu setzen, das nennt man Gamification - die etwas unglückliche deutsche Übersetzung lautet alles Ernstes Spielifikation oder Spielifizierung. Das ist auch ein Thema auf der gerade eröffneten Gamescom in Köln.
Einer der Sprecher auf dem begleitenden Gamescom Kongress ist Christoph Deeg, Experte und Berater für Social Media und digital-analoge Strategien, sagen wir es einfacher: Er entwickelt unter anderem für Kulturinstitutionen Spiele, bei denen man etwas lernen kann. Und er sagt: "Wir sind längst alle Spieler." Inwiefern, Herr Deeg?
Christoph Deeg: Ja, inwiefern. Also zum einen kann ich jetzt sagen, Spielen ist eine uralte Kulturtechnik, die wir alle kennen. Wir kennen es, als Kinder spielen wir, wenn wir uns die Gesellschaft angucken, die Geschichte ist voll, die Menschheit ist voll von Spielen. Was halt glaube ich neu ist und was für viele so ein bisschen abschreckend ist, ist der Punkt einfach, dass plötzlich Computer mit hineinkommen. Computer haben unsere Welt radikal verändert, Maschinen sind plötzlich überall um uns herum. Und der Computer hat auch das Spielen verändert. Das ist ja das Faszinierende, dass der Begriff Gamification eigentlich aus dieser Welt der Computerspiele kommt und nicht aus dem Spiel, das ist wie so ein kleiner Umweg.
Elsäßer: Und, wenn Sie gerade sagen, massive Veränderungen - gut das ist jetzt nichts neues, dass Computerspiele existieren. Aber, ich weiß nicht, dieser Begriff der Gamification hat uns so vor fünf, sechs Jahren glaube ich ungefähr erreicht in den Feuilletons. Und man könnte sich ja dann aber auch fragen, wenn man all diese dauerspielenden Kinder - vielleicht auch im eigenen Umfeld - vor der Playstation sieht und sich um sie sorgt, ist nicht mal gut mit spielen?
Deeg: Das ist eine sehr spannende Frage, weil: "Ist nicht mal gut mit spielen", jetzt müssen wir uns mal erst überlegen, meinen Sie damit Spielen an sich oder meinen Sie das Spielen mit dem Digitalen?
"Keine Trennung zwischen Analogem und Digitalem"
Elsäßer: Wahrscheinlich das Spiel mit dem Digitalen wahrscheinlich. Und ich glaube das ist auch das, wo wir gerade in Zusammenhang mit der Gamescom drüber als Erstes dran denken.
Deeg: Also ich glaube, was wichtig ist zu verstehen ist, dass dieses, was wir sehen ist ja erstmal, dass Kids beispielsweise vor der Playstation sitzen und da spielen. Und da haben wir auch unsere - teilweise auch berechtigten - Kritiken und so weiter und so fort. Aber viel relevanter ist ja, dass dies ja ein Teil der Lebensrealität dieser Kinder ist und der ist in der Regel analog und digital. Also zum Beispiel, wir wissen aus Studien, dass diejenigen, die sehr viele Computerspiele spielen, auch Menschen sind, die sich sehr stark in Vereinen beispielsweise engagieren, die sehr viel in der analogen Welt unterwegs sind. Gamer lieben Bücher, auch ein ganz faszinierendes Thema, deswegen sind gerade in Deutschland sowas wie öffentliche Bibliotheken wunderbare Gaming-Orte oder entwickeln sich gerade dahin. Weil es nämlich diese Trennung zwischen Digitalem und Analogem in der Form nicht gibt. Also das ist eher sowas, was wir machen, also wir sind diejenigen, die sagen: "Jetzt hast du drei Stunden an der Playstation gespielt, jetzt lies doch mal ein gutes Buch!" Während ein Gamer nie auf die Idee kommen würde zu sagen, jetzt hast du drei Stunden ein Buch gelesen, jetzt spiel' mal ein gutes Spiel. Weil dieser Konflikt der da ist, den sehen die einfach nicht und den nehmen die so in der Form auch nicht wahr. Und natürlich, das andere ist, wenn wir uns die Spielkultur ansehen, dann erleben wir unglaublich viele Elemente um dieses klassische Spielen herum, da kommen wir in Bereiche wie Cosplay rein, so also Costume Play, das sieht man vielleicht jetzt gerade wieder in Köln: Menschen die so aussehen, als würden sie Computerspielfiguren sein, was aber eigentlich eine Form des Theaters, des Impro-Theaters ist.
Elsäßer: Oder des guten, alten Rollenspiels.
Deeg: Genau, des guten, alten Rollenspiels. Aber das heißt, das ist eigentlich gar nicht so weit weg. Ich glaube wirklich ein ganz wichtiger Punkt dabei ist: Wir haben es mit digitalen Technologien zu tun. Da haben wir unseren Platz noch nicht drin gefunden, noch keinen richtigen Zugang, noch keinen richtigen Umgang damit gefunden, gesellschaftlich. Und zum anderen ist das natürlich eine unglaubliche Marketingmaschinerie: Die Gamescom ist jetzt kein Kulturevent zum Sich-hinsetzen-und-genießen, sondern das ist einfach 140db, tausende von Leuten und dann Celebrate Your Games.
Berechtigte Kritik
Elsäßer: Ja, und trotzdem machen Sie mit könnte man sagen. Ich habe in einem Artikel gelesen, das Konzept der Gamification bedeutet "Ausverkauf unseres natürlichen Spieltriebs" oder der Philosoph Markus Rautzenberg hat im Deutschlandradio gar von der "ökonomischen Pervertierung des Homo Ludens" gesprochen. Was sagen Sie dazu?
Deeg: Das ist ein sehr interessanter Ansatz. Also die Kritik an der Gamification, dass man sagt: Ihr macht da letztendlich gesehen etwas, wo ihr Spiel als eine Funktion, als eine Fähigkeit nutzt, um Menschen - ich übertreibe jetzt ein bisschen - noch mehr zu unterdrücken in irgendeiner Form.
Elsäßer: Oder effektiver zu machen im Job?
Deeg: Oder effektiver zu machen. Die Kritik ist ja berechtigt. Es ist ja das, warum viele dieser Projekte gemacht werden - ich bin ein sehr großer Kritiker davon. Zum einen erstmal, weil ich glaube, es funktioniert nicht. Jeder Gamedesigner, der ein bisschen was auf sich hält, wird Ihnen bestätigen, Sie können Spielerfahrung, Sie können das, was Spiel ist, nicht planen. Sie können nur Rahmenbedingungen schaffen, in dem etwas passiert. Insofern ist der Ansatz schon falsch, das ist das eine. Das Zweite aber - und da bin ich ein bisschen anderer Meinung: Ich glaube, wir leben in einer Kultur, die voll mit Spiel ist. Auch hier - wir sind jetzt gerade in Köln - der Kölner Karneval ist nichts anderes als ein riesengroßes Local-based Game oder man könnte auch sagen Rollenspiel oder wie auch immer. Also da gibt es ganz viele Gemeinsamkeiten. Und natürlich kann Gamification sehr viel erreichen, aber dann bedeutet das, man muss es wirklich sehen als ein Element, das Teil eines Unternehmens, einer Schule oder sonst was wird, dann funktioniert das sehr gut.
"Kommerzielle Gamification"
Elsäßer: Sie halten ja morgen einen Vortrag auf der Gamescom mit dem Titel "Gamify The Management". Also, wie funktioniert das, und Sie haben ja gerade gesagt, es geht eben nicht darum, einen Output zu erzielen. Aber worum geht es Unternehmen denn dann?
Deeg: Also zum Beispiel, klassischer Ansatz: Sie haben ein Produkt. Sie möchten gerne, dass das in Filialen ganz oft gekauft wird, also bauen Sie irgendein Spiel drum, damit die Leute das kaufen. Das würde ich so nicht machen, gebe ich gern zu, sondern das was ich machen würde wäre: Ich würde eine Spielwelt schaffen, wo das Produkt Teil von ist, wo die Menschen aber ganz verschiedene Facetten ihrer Lebensrealität drin ausleben können. Also wenn Sie beispielsweise einen Fernseher haben, dann würde ich jetzt kein Spiel bauen, wo man alle verschiedenen Funktionen des Fernsehers auswendig lernt, sondern ich würde einen Raum schaffen, in dem diese Menschen die Möglichkeit bekommen, sich mit diesem Thema Fernsehen, mit diesem Thema Medien und so weiter zu befassen. Unter Umständen muss ich auch damit leben, dass dabei was rauskommt, was ich so gar nicht geplant habe.
Elsäßer: Aber ist es dann nicht auch so, am Ende sollen sie immer noch kaufen?
Deeg: Das ist eine gute Frage. Sollen sie immer noch kaufen? Ja, sie sollen am Ende noch kaufen, das stimmt schon. So wie: Ja, warum machen wir Spiel in der Schule? Damit die Kinder trotzdem irgendetwas lernen. Warum machen wir das in der Kulturvermittlung in Museen? Weil die Menschen trotzdem etwas über das jeweilige Gemälde, die jeweilige Skulptur mitnehmen sollen. Die Frage ist nur - und das haben wir ja in der Kulturvermittlung in Museen auch ganz deutlich gesehen: Solange ich anfange, über Spiele einfach Fakten zu vermitteln, zu sagen "der Künstler ist dann und dann gestorben" oder halt das und das, dann komme ich nicht weit.
Elsäßer: Oder so gehen die Hände von.
Deeg: Genau. Aber wenn ich hingehe und sage, ich versuche dir einen Spielraum zu geben, in dem dieses, was dort an Inhalt ist, an Werk ist, sich mit deiner Lebensrealität vernetzt, mit deiner Lebensrealität verbindet, dann wird das was. Und dann erleben wir plötzlich, dass die Menschen beginnen, mit diesen Werken zu arbeiten, und das ist ja der große Unterschied. Also ist mein Ziel, das ich bei einem Produkt beispielsweise möchte, dass der einfach es kauft oder möchte ich, dass er sich in seiner Komplexität damit beschäftigt. Also würde ich einfach nur jetzt schnell etwas verkaufen oder - was wir ja im modernen Marketing immer haben - möchte ich wirklich eine lange Kundenbeziehung haben?
Themen an sich heranlassen
Elsäßer: In welchem Bereich wird denn Ihres Erachtens die Idee der Gamification oder, ich sage mal, der Verspielisierung des Lebens, des Handelns, am meisten verändern?
Deeg: Ich glaube, dass es zwei große Bereiche gibt. Zum einen Kultur und Bildung, zum anderen den Bereich der Wirtschaft. Aber - und da gibt es das große, große Aber: Es wird nicht darum gehen, über Gamification Fakten zu vermitteln einfach oder es wird auch nicht darum gehen, über Gamification irgendein Produkt zu verkaufen, sondern es wird darum gehen, Menschen in die Lage zu versetzen, über bestimmte Themen nachzudenken, sie sozusagen an sich heranzulassen. Das ist das, was Spiel eigentlich kann. Spiel gibt mir die Möglichkeit, dass ein Thema - sei es wirtschaftlicher Art oder kultureller Art - Teil meiner Lebensrealität wird. Also Sie kennen das vielleicht von der Schule, ich finde das ein wunderschönes Beispiel: Bei mir war es in der Oberstufe Vektorrechnung. Und da habe ich irgendwann gefragt, warum brauche ich Vektorrechnung? Und der Lehrer sagte "fürs Leben". Es war einfach mal erlogen, also ich habe bis heute Vektorrechnung nie wieder gebraucht. Und das wissen viele Schüler auch, und was machen die? Sie kennen das auch, die lernen einfach mal ganz fleißig so, was ins Kurzzeitgedächtnis reingeht, schreiben die Prüfung. Wenn man den Zettel wieder abgibt, in dem Moment beginnt das Gehirn bereits, diese ganzen Daten wieder zu löschen. Ganz anders sieht es aus, wenn dieses Thema der Vektorrechnung Teil eines Problems in meiner Lebensrealität wird. In dem Moment beschäftige ich mich damit und in dem Moment ist das, was ich von Ihnen will, nicht mehr das Ziel, sondern nur ein Werkzeug für ein ganz anderes Thema, in dem Sie sich bewegen.
Elsäßer: Also um Beispiel: Wie fliegt der Ball, wenn ich ihn so oder so kicke?
Deeg: Wunderbares Beispiel, genau. Und das können Sie jetzt rüber rechnen auf alle anderen Bereiche. Und es ist so, was nicht funktioniert in der Gamification, auch wenn das immer groß gelobt wird, ist dieses ganze Thema: "Du kriegst ein paar Badges, du kriegst ein paar Punkte. Wenn Sie also heute das und das kaufen, kriegen Sie noch 30 Punkte mehr. Wenn Sie morgen online Ihre Daten preisgeben, kriegen Sie nochmal 30 Punkte mehr." Das sieht immer ganz lustig aus - es gibt auch viele Firmen, die damit sehr viel Geld verdienen - aber am Schluss ist das nichts, was wirklich nachhaltigen Effekt hat.
Elsäßer: Christoph Deeg, einer der Sprecher beim Kongress der Gamescom - der weltgrößten Messe für Spiele und Unterhaltung in Köln - und ein Experte für Spielevermittlung und Spieleentwicklung. Herzlichen Dank für dieses Corso-Gespräch.
Deeg: Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.