Marcel Anders: Frau Manson, Hand aufs Herz: Vermissen Sie die 90er – also die Dekade, in der Sie Ihre größten Erfolge hatten?
Shirley Manson: Nicht in Bezug auf die Musikindustrie. Da bin ich sogar froh, dass sie in der Form nicht mehr existiert. Aber die damalige Musik war großartig. Also sehr anspruchsvoll, offen und frei. Es war wahrscheinlich die einzige Zeit, in der alternative Töne Erfolg im Mainstream hatten, was ich sehr vermisse, genau wie Hip-Hop neben Pop-Songs neben Rocknummern neben Singer/Songwritern oder was auch immer zu hören. Es ist irre, wie weitgefächert das war, was damals im Fernsehen wie im Radio lief.
Während wir jetzt wieder da sind, wo wir schon in den 70ern waren: Es ist alles sehr engstirnig und fein säuberlich getrennt. Außerdem wird im Grunde immer dasselbe gespielt, was keinen Raum für etwas anderes lässt und wirklich traurig ist. Ich meine, ich liebe Rihanna, Beyoncé und Lady Gaga. Aber ich höre auch gerne andere Sachen.
Anders: Wobei es heute - überspitzt formuliert - kaum noch neue, spannende Rockmusik gibt. Haben Sie eine Erklärung dafür?
"Die besten Platten stammen von zerbrechlichen Musikern"
Manson: Ich denke, es hat mit dieser Selfie-Kultur zu tun, also damit, dass sich jeder so perfekt wie eben möglich darstellen möchte. Und das kollidiert geradezu mit der Idee der Rockmusik, die ja eben nicht perfekt ist und es auch gar nicht sein will. Insofern ist es auch kein Zufall, dass der größte Popstar der Gegenwart Taylor Swift ist. Eine Frau wie ein Roboter: Sie sieht aus wie ein Supermodel, sie ist unglaublich talentiert und sehr wortgewandt. Sie ist perfekt.
Das Problem ist nur: Die besten Platten der letzten 30 bis 40 Jahre stammen von zerbrechlichen, nicht gerade starken Musikern. Wobei es ja nicht Taylors Schuld ist, dass die Leute ihr zuhören und sie bewundern. Nur ich bevorzuge Künstler, die nicht perfekt sind, die mit 21 noch nicht alles erreicht haben und die nicht wunderschön sind. Ich will mehr von den Abgefuckten hören. Von den Nicht-Perfekten.
Anders: Aber waren Garbage nicht auch ein Gegenpol oder eine Reaktion auf den Grunge der frühen 90er?
Manson: Das waren wir. Bevor wir auftauchten, war alles von langhaarigen Typen in Karohemden dominiert. Und als wir dann unser erstes Album vorlegten, das immer noch stark von Gitarren geprägt war, aber zugleich diesen Hybrid aus Rock und elektronischer Musik aufwies, war das einfach seltsam. Ich glaube nicht, dass es etwas Vergleichbares gab.
Anders: Ihr Debüt hat sich vier Millionen Mal verkauft und drei Grammy-Nominierungen erhalten. Was war das für ein Gefühl?
Manson: Es war fucking mad! Sorry, ich meine: Es war komplett verrückt. Und das Unglaublichste war, zum allerersten Mal eines seiner eigenen Stücke im Radio zu hören. Das ist der größte Moment, den es gibt – eben pure Magie. Der andere unglaubliche Moment ist, bei deiner ersten ausverkauften Show auf die Bühne zu gehen. Das ist nicht zu übertreffen. Und ich darf gar nicht darüber nachdenken, wie viel Mühe es gekostet hat, um diesen Punkt zu erreichen. Ich meine, ich habe zehn Jahre in miesen Bed&Breakfasts übernachtet, bin in klapprigen Kleinbussen gereist und habe mir den Arsch abgespielt.
"Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort"
Anders: Das war mit Ihrer ersten Band Goodbye Mr. MacKenzie. Was haben Garbage richtig oder besser gemacht?
Manson: Wir waren einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort – also es hatte mit dem Zeitgeist zu tun. Es war genau das, was die Leute hören wollten. Und es kam aus dem sprichwörtlichen Nichts. Aus heiterem Himmel. Wir haben etwas ganz anders gemacht als alle anderen. Und deswegen mochten die Leute das Album so beziehungsweise erinnern sich gerne daran.
Anders: Angeblich waren Sie mit dem Bandnamen Garbage aber alles andere als glücklich. Stimmt das?
Manson: Ich habe ihn gehasst. Im Ernst: Ich fand ihn fürchterlich. Nur: Goodbye Mr. Mackenzie, der Name meiner Vorgängerband, war auch nicht besser. Das war wirklich der mieseste, den man hätte wählen können. Insofern konnte ich es nicht fassen, dass ich in einer Band endete, die das sogar noch übertroffen hat.
Anders: Haben Sie den Jungs das mal gesagt?
Manson: Natürlich! Aber sie haben mich einfach ignoriert. Ich habe ein paar sehr frostige Blicke als Antwort bekommen und das war es. Danach habe ich das Thema nie wieder angeschnitten.
Anders: Umso offener haben Sie mit Ihrer Sexualität kokettiert. Etwa in Songs wie "Vow" oder "Milk", aber auch in Interviews, in denen Sie die Farbe Ihrer Gitarre mit Ihren Schamhaaren verglichen oder "10 Gebote für Sex" ausgegeben haben.
Manson: Die Presse hat sich regelrecht darauf gestürzt. Im Sinne: Sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Und damals haben die Leute auch noch nicht so offen über Sex geredet, wie sie es heute tun. Sie waren regelrecht geschockt als ich davon anfing, während ich nicht verstand, was denn falsch daran sei und warum das so eine große Sache sein soll. Nämlich einfach nur Sex. Aber die Medien sind komplett durchgedreht.
"Wir lachen nur im Dunkeln"
Anders: Was ist mit Stücken wie "Only Happy When It Rains"? Waren das Parodien oder Seitenhiebe auf den Nihilismus der 90er?
Manson: Ich denke, wir haben uns damit eher über uns selbst lustig gemacht. Denn alle Mitglieder der Band sind sehr anfällig für das Düstere und Traurige. Davon fühlen wir uns angezogen. Und deshalb haben wir versucht, uns selbst aufs Korn zu nehmen. Nach dem Motto: Wir lachen nur im Dunkeln.
Anders: Fühlten Sie sich geschmeichelt, als der Song von Metallica gecovert wurde oder war das eher ein Affront?
Manson: Wir waren völlig aus dem Häuschen. Ich meine, wir lieben Metallica. Wir sind riesige Fans. Und ich bin total verknallt in James Hetfield, meinen kommenden dritten Ehemann – auch, wenn er das noch nicht weiß. Ich himmle ihn einfach nur an – als Mann wie als Musiker. Außerdem ist er unglaublich witzig. Ein Traum von einem Kerl.
Anders: Angeblich gibt es von "Queer" eine unveröffentlichte Version mit Klarinetten. Warum wurde die nie veröffentlicht?
Manson: Na ja, ich habe Klarinette in der Schule gelernt und könnte das rein theoretisch spielen. Allerdings hört sich das damals ein bisschen seltsam an. Und deshalb haben wir darauf verzichtet.
Wobei ich sagen muss, dass ich wahnsinnig stolz auf "Queer" bin. Einfach, weil es einer der ersten Popsongs war, der die Schwulen- und Lesbenbewegung unterstützt hat, und zur regelrechten Hymne geworden ist. Damals war es eine ziemlich mutige Sache, das auf einem Pop-Album zu platzieren.
Und ich habe das Gefühl, dass sich die Welt in den letzten 20 Jahren sehr verändert hat. Wer weiß, vielleicht hat "Queer" ja seinen klitzekleinen Beitrag dazu geleistet, Leute mit anderen sexuellen Ausrichtungen zu akzeptieren.
Anders: Die deutsche Regierung um Kanzlerin Merkel lehnt die Homoehe allerdings weiterhin strikt ab. Wie denken Sie darüber?
Manson: Das ist ziemlich unglaublich. Aber deswegen ist es umso wichtiger, da am Ball zu bleiben und eine Politik der kleinen Schritte zu verfolgen. Eben, indem man bei einzelnen Individuen anfängt und dann auf eine Kettenreaktion hofft. Das ist das einzige, was man tun kann, damit irgendwann die gesamte Welt umdenkt und Menschen endlich als das akzeptiert werden, was sie sind und was sie sein wollen.
Anders: Und warum jetzt eine Neuauflage des Garbage-Debüts?
"Das Gestern mit beiden Händen umarmen"
Manson: Im heutigen Klima ist es für Bands nicht wirklich einfach, zu überleben. Da muss man tun, was man kann, um über die Runden zu kommen. Nicht zuletzt, weil Rockmusik keine Unterstützung mehr durchs Radio oder Fernsehen erfährt und man überall hört, dass Gitarrenmusik tot wäre. Wir möchten aber trotzdem tun, was uns Spaß macht.
Deshalb schließen wir uns notgedrungen dem an, was viele Bands tun, die irgendeine Art von Jubiläum feiern – nämlich das Gestern, das ja gar nicht so schlecht war, mit beiden Händen zu umarmen. Zumal es etliche Leute gibt, die verzweifelt nach Authentizität suchen. Gerade in einer Zeit, in der Bands, die von Plattenfirmen ins Rampenlicht gezerrt werden, maximal sechs Monate halten, weil sie gar nicht die Substanz für mehr haben. Deshalb herrscht so ein Interesse an Künstlern, die eine richtige Karriere vorweisen können, und zwar mit Höhen und Tiefen, mit Pleiten und Pannen.
Natürlich ist uns bewusst, dass das kein neuer Ansatz ist, den wir da verfolgen, und dass schon viele Leute diesen Weg gegangen sind. Aber gleichzeitig ist es eine wunderbare Sache, sich noch einmal mit dem zu befassen, was das Fundament deiner Karriere ist und war. Zumal es nur wenige Bands gibt, die ein derart erfolgreiches erstes Album hatten wie wir. Von daher sehen wir darin schon eine Rechtfertigung.
Anders: Was ist das für ein Gefühl, noch einmal mit diesem Repertoire zu touren?
Manson: Ich bin wahnsinnig aufgeregt, denn es ist das erste Mal seit 20 Jahren, dass wir wieder diese Songs spielen. Und einige davon haben wir noch nie live gebracht beziehungsweise werden das wohl auch nie wieder tun. Insofern wird es die erste und einzige Gelegenheit dazu sein. Allein das fühlt sich spannend an.
Anders: Also konzentrieren Sie Sich ausschließlich auf das Jahr 1995 – ohne späteres Material?
Manson: Es ist wirklich nur das allererste Album plus die B-Seiten. Und es sind ja nur eine Handvoll Shows, also gerade Mal acht in Europa. Insofern denke ich, dass es aufregend wird – für uns wie fürs Publikum.
Anders: Vielen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.