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Gaza-Krieg
"Die Besatzung muss enden"

Die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser fordert eine sofortige Waffenruhe im Gaza-Konflikt sowie die Aufnahme von Verhandlungen über ein Ende der israelischen Besatzung des Gazastreifens. "Wir brauchen eine politische Lösung," sagte sie im Deutschlandfunk.

Sumaya Farhat-Naser im Gespräch mit Christine Heuer |
    Sumaya Farhat-Naser, palästinensische Friedensaktivistin, Menschenrechtlerin und Schriftstellerin. Portrait, in die Kamera blickend
    Die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Sumaya Farhat-Naser: Guten Morgen, Frau Heuer!
    Heuer: Was hören Sie aus Gaza?
    Farhat-Naser: Ich höre nur Schreckliches, ich sehe nur Schreckliches und habe große Ängste, dass das weitergeht. Leider ist es unvorstellbar, was geschieht. So was haben wir nie erlebt. Anscheinend sind die Toten noch zu wenig, um eine Intervention von außen zuzulassen. Und das tut so weh. Es ist nicht nur eine Intifada, es ist ein Krieg, ein Krieg, was sich seit sechs Jahren alle zwei Jahre sich wiederholt, und von Mal zu Mal ist es brutaler, ist schmerzlicher, und diesmal anscheinend es geht um Leben und Tod für viele Menschen.
    Heuer: Es gibt neue Anläufe, auch ganz aktuell, einen Frieden zu vermitteln. Ägypten macht offenbar einen neuen Versuch. Was müsste Kairo vorschlagen, damit die Palästinenser ernsthaft verhandeln können und wollen?
    Farhat-Naser: Kairo und die ganze Welt muss wissen: Die Besatzung muss enden. Die Palästinenser haben gesehen: Jedes Mal gibt es einen Waffenstillstand, eine Beruhigung - und dann bleibt das Alte beim Alten. Warum gibt es einen Kampf zwischen Palästina und Israel? Weil die Israelis Besatzer sind, die Menschen unterdrücken, die Lebensräume eingrenzen - und wir brauchen Freiheit, wir brauchen Souveränität und Unabhängigkeit. Also so lange die Besatzung da ist, wird es niemals Sicherheit geben, weder für Israel, noch für Palästina. Kairo leider, mit dem politischen System von heute, ist in Feindseligkeit mit Hamas als politische Partei, und deshalb haben sie bis jetzt gezögert. Man muss all diese Feindseligkeiten beiseite tun. Es geht um die Menschen. Im Gaza leben 1,8 Millionen Menschen. Über die Hälfte sind unter 16 Jahren. Man kann nicht Gaza bombardieren, Menschen töten und sagen: Jetzt wollen wir die Rücken der Hamas und der anderen Kämpfer brechen. Mit Brechen, mit Töten schaffen wir keine politische Lösung. Wir brauchen eine politische Lösung.
    Heuer: Aber, Frau ...
    Farhat-Naser: Es muss sofort Waffenstillstand sein. Es müssen alle die Waffen niederlegen. Es muss Garantien geben, dass die Belagerung von Gaza aufhört, dass Flughafen aufgemacht wird, dass Verhandlungen wirklich in Richtung Freiheit und Ende der Besatzung müssen stattfinden.
    "Die Sache glitscht aus den Händen"
    Heuer: Frau Farhat-Naser, diesen Frieden und diese sofortige Waffenruhe, das werden sicher die allermeisten Menschen auf der Welt unterschreiben, dass sie das auch wollen. Die Frage ist aber doch auch, ob die Hamas wirklich Frieden mit Israel will. Ich spreche jetzt nicht über die Zivilisten in Gaza, die Opfer dieser Angriffe werden - und das sind schreckliche Bilder, die wir jeden Tag sehen -, aber was ist mit der Hamas? Sie schießt weiter Raketen auf Israel.
    Farhat-Naser: Ja, Hamas schickt Raketen auf Israel. Hamas hat mehrere Male gesagt: Wir sind bereit, Israel anzuerkennen und in Gespräche zu kommen, wenn Israel auch uns anerkennt und die Besatzung wird zu Ende gehen. Also ich bin nicht verteidigen auf Hamas, auf keinen Fall. Aber es ist nicht ein Konflikt, weil Hamas Raketen schickt und Israel tötet zurück. Das ist nicht so.
    Heuer: Aber, Frau Farhat-Naser, die Hamas bleibt bei ihrer Gründungscharta zum Beispiel, in der die Zerstörung Israels und die Ermordung von Juden als Ziel genannt wird. Wie kann man da von Israel erwarten, dass es mit der Hamas Frieden schließt und der Hamas auch glaubt?
    Farhat-Naser: Also zunächst einmal: Es stand auch so in der PLO-Charta. Das haben wir geschafft, dass es weg ist, weil ein Entgegenkommen da war und man hat sich geeinigt: Nur durch Verhandlungen wollen wir das erreichen. Über 20 Jahre hat man verhandelt - es kam nichts raus. Und das ist die Reaktion beziehungsweise die Folge, dass die Hamas-Leute sagen: Erst sagen wir ja zu Verhandlungen der Anerkennung Israels, wenn Israel auch sagt: Wir wollen mit Hamas - Hamas ist nur eine politische Partei -, mit Hamas kämpfen in Gaza für andere Bewegungen. Und selbst, wenn Israel es schafft, Hamas und die anderen, die jetzt in Gaza leben und kämpfen, ich meine kämpfen, die Kämpfer zu zerstören - in zehn Jahren haben wir andere, ganz fanatische Gruppierungen, die Israel mit Sicherheit töten wollen, und das ist zum Beispiel (unverständlich) wie wir es sehen in Irak und Syrien und so weiter. Die Sache glitscht aus den Händen. Israel darf nicht weiter eine Politik machen, die denken, mit Gewalt können sie ihre Politik durchsetzen. Nur mit Frieden kann man eine Sicherheit schließen. Und wenn Israel sagt jetzt, Schluss, wir schauen, wir werden über Ende der Besatzung, über Freiheit und so weiter ... Guck mal, in der Westbank haben wir es geschafft, dass hier keine Kampfhandlungen stattfinden.
    Heuer: So, aber Frau Farhat-Naser, in der Westbank hat es die Fatah geschafft. Wäre es denn eine Lösung, ...
    Farhat-Naser: Ich weiß, aber...
    "Hamas akzeptieren als Teil dieser Regierung"
    Heuer: Aber jetzt im Moment ist das Problem ja erst mal Gaza, übers Westjordanland möchte ich gleich noch kurz mit Ihnen sprechen. Aber wäre es nicht eine Lösung für Gaza, wenn die Fatah die Kontrolle über Gaza übernimmt? Würde das nicht einen Frieden erleichtern mit Israel? Die Fatah und die Hamas sind ja in einer Einheitsregierung. Insofern könnte die Fatah ja auch die wichtigere Rolle spielen vielleicht.
    Farhat-Naser: Ja, das wäre ... Aber man kann es nicht, auch nicht mit Gewalt machen. Man muss auf die Forderung der Hamas auch eingehen. Und natürlich - diese Linie wäre gut. Aber jetzt ist es fast zu spät. Und deshalb müssen wir etwas anderes machen. Man muss Hamas akzeptieren als Teil dieser Regierung, als mitbestimmend, und Wege finden, wie man auf sie wirken kann.
    Heuer: Aber kann nicht vor allen Dingen die Fatah auf die Hamas einwirken? Ist das nicht vor allen Dingen eine Sache der Fatah?
    Farhat-Naser: Ja, aber Fatah hat gescheitert, was Verhandlungen angeht, und deshalb sind sie zu schwach. Sie sind gut, sie wollen, aber sie sind zu schwach. Und deshalb wir wissen ganz genau, dass dieser Krieg auch so regional verwickelt ist. Und leider müssen dann andere Gruppierungen, andere Länder mitwirken, die Einfluss auf Hamas haben. Und das sehen wir auch in den Verhandlungen, die jetzt stattfinden, hoffend, es wird eine Lösung kommen. Iran ist ganz tief drin in der Sache, Katar auch tief drin, Saudi-Arabien ist tief drin.
    Heuer: Ob diese Staaten das besser machen, ist aber sehr fraglich.
    Farhat-Naser: Wie bitte?
    Heuer: Ob gerade diese Staaten die Lage verbessern, ist sehr fraglich.
    Farhat-Naser: Nein, es geht nicht um verbessern, es geht um Macht ausüben, damit dieser Krieg aufhört, damit keine Waffen geliefert werden, damit kein Geld zur Verfügung gestellt wird. Das meine ich. Aber eigentlich - es muss von uns aus, von ... Wir Palästinenser müssen wir zueinander finden. Es war ein sehr guter Schritt, dass wir eine Einheitsregierung haben, dass Hamas-Leute in der Regierung sind. Das sind gute Leute, und darauf müssen wir bauen. Aber dieser Krieg hat nicht die Chance gegeben, dass es sich entwickelt in Richtung Weiterwirkung von der Fatah-Linie auch auf den Gazastreifen.
    Westjordanland: "Die Stimmung ist sehr schwer"
    Heuer: Wir schauen immer auf Gaza. Sie selbst haben das Westjordanland, wo wir Sie ja auch erreichen, gerade angesprochen. Wie ist die Stimmung dort?
    Farhat-Naser: Es ist katastrophal. Wir haben vorgestern zuletzt mit einer Freundin des (unverständlich) gesprochen, die hier studiert hat, und sie sagt, sie rennen von einem Haus zum anderen mit ihren Kindern, und jetzt ist die Lage noch schlimmer, weil das Wasser ... Es gibt kaum Wasser, das Elektrizitätswerk ist bombardiert worden, deshalb können wir auch nicht...
    Heuer: Im Westjordanland?
    Farhat-Naser: Nein, in Gaza.
    Heuer: Ich fragte nach dem Westjordanland. Wie ist die Stimmung dort?
    Farhat-Naser: Die Stimmung ist auch sehr, sehr schwer. Die Leute sind vor allem ... abends, gehen auf die Straße und wollen protestieren, sie gehen überall hin, wo Begegnungsmöglichkeiten mit israelischen Soldaten sind, um dort Steine zu werfen und zu rufen, zu protestieren. Die Menschen sind dabei, zu sammeln - an Kleidung, an Decken, an Bettwäsche. Überall sind (unverständlich) überall sind volontäre Leute, die all das machen. Und vor allem, gestern wurde von überall vom Minarett aufgerufen: Jede Familie soll mindestens zehn Flaschen Wasser spenden, die Leute haben kein Wasser in Gaza und so weiter. Viele Leute gehen zum Krankenhaus, um Blut zu spenden, damit es nach Gaza geht. Und es ist wirklich ... wie ein Kessel, was kocht. Viele Menschen haben ihre Leute, viele Leute sagen, wir sind demnächst dran, die Angst ist sehr groß, dass es ausbreitet bei uns. Und wir sehen leider, dass das Leben der Menschen nicht mehr zählt, und deshalb - die Angst ist sehr groß, dass es auch bei uns ausbricht.
    "Die Angst ist groß"
    Heuer: Frau Farhat-Naser, ganz kurz zum Schluss, wirklich nur noch 20 Sekunden: Wenn Sie sagen, das ist wie ein Kessel, der kocht - wie groß ist die Gefahr einer dritten Intifada?
    Farhat-Naser: Es wird nicht eine Intifada sein, es wird ein Krieg sein. Intifada ist immer verbunden mit gewaltlosen Mitteln, was die erste war, die zweite war schwieriger, aber wenn es jetzt kommt, dann ist es noch brutaler, und die Angst ist groß, die Angst ist groß, dass auch gegen die politische Richtung von Mahmud Abbas angegangen wird und das wäre noch mal eine Katastrophe.
    Heuer: Sumaya Farhat-Naser, palästinensische Friedensaktivistin. Vielen Dank, Frau Farhat-Naser, für das Gespräch, zu dem Sie sich sehr schnell bereit erklärt haben heute früh. Einen guten Tag!
    Farhat-Naser: Ja, danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.