Shajaiyah in Gaza. Das Viertel liegt im Osten des Gazastreifens, nicht weit weg von der israelischen Grenze. Eigentlich liegt in Gaza alles nahe an der Grenze zu Israel. Denn der sandige Küstenstreifen, in dem 1,8 Millionen Menschen leben, ist an seiner breitesten Stelle an der ägyptischen Grenze nur 12 Kilometer breit. Hier oben im Norden aber ist er viel schmaler, vielleicht 6 Kilometer breit.
Der Verkehrsplaner von Google Earth berechnet für die Strecke vom Mittelmeer bis zur israelischen Grenze 18 Minuten mit dem Auto. Aber das ist natürlich nur eine Fiktion. Man kann diese Strecke nicht mit dem Auto zurücklegen, denn überall türmen sich riesige Trümmerberge auf und versperren den Weg.
Die Häuser zusammengebombt von der israelischen Luftwaffe, mit Artillerie in Stücke geschossen, mit Bulldozern und Panzern umgelegt. Die Zerstörung ist von geradezu apokalyptischem Ausmaß.
Die Häuser zusammengebombt von der israelischen Luftwaffe, mit Artillerie in Stücke geschossen, mit Bulldozern und Panzern umgelegt. Die Zerstörung ist von geradezu apokalyptischem Ausmaß.
Leichen und Tierkadaver unter den Trümmern
Menschen steigen über die Ruinen. Vorsichtig bahnen sie sich einen Weg durch Schutt und Betonreste, über Glasscherben und verbogene Eisenstangen. Sie suchen nach Verwertbarem, nach Erinnerungen, nach irgendetwas, was sie aus ihrem früheren Leben retten können. Alles ist voller Staub. Dicker grauer Betonstaub, der in jede Falte der Kleidung eindringt und die Schuhe grau einfärbt. Es riecht nach Verwesung, denn unter den Trümmern liegen noch Leichen und Tierkadaver. Sie können wahrscheinlich nicht mehr geborgen werden.
Gaza nach fünf Wochen Krieg. Das schmale, überbevölkerte und ressourcenarme Küstengebiet war auch zuvor schon ein Armenhaus, ein Elendsstreifen, in dem die Menschen eingesperrt und isoliert leben und ihrer Rechte beraubt. Jetzt sieht es in manchen Gegenden so aus, als hätte ein Erdbeben hier alles verwüstet oder ein Tsunami oder ein Orkan. Doch dies ist keine Naturkatastrophe. Die Zerstörung ist menschengemacht und planmäßig ins Werk gesetzt, davon ist Raji Sourani überzeugt:
"Zivilisten im Auge des Sturms"
"Das ist unsere Beobachtung vom ersten Tag an. Wir haben festgestellt und geschlossen, dass dies gezielte und absichtliche Angriffe waren. Die Zivilisten waren das Ziel. Sie waren im Auge des Sturms."
Sourani ist Anwalt und Menschenrechtsaktivist. Er ist Gründer des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte und Träger des Alternativen Nobelpreises. An diesem heißen Sommerabend sitzt er in seinem kleinen Garten in Gazastadt, über ihm brummen ohne Unterlass die israelischen Überwachungsdrohnen. Zanzana, werden sie in Gaza lautmalerisch genannt. Sourani ist überzeugt, dass Israel im Gazastreifen Kriegsverbrechen begangen hat:
"Dieser Krieg ist einzigartig und ohne Vorbild. Er ist beispiellos, hässlich. Ich bin 60 Jahre alt. Ich habe niemals zuvor so etwas erlebt oder bezeugt. 2008/2009 hat Israel Kriegsverbrechen verübt, aber nicht in diesem Ausmaß. Es gab Kriegsverbrechen, aber in geringerem Ausmaß und die Qualität dieser Verbrechen war geringer."
Anders als während der dreiwöchigen Operation "Gegossenes Blei" im Jahr 2008/2009, habe Israel diesmal gezielt Wohnhäuser, Schulen und Kliniken angegriffen. Auch eine Molkerei, eine Keksfabrik und andere Unternehmen wurden zerstört:
"Die Zerstörung ist massiv, sie haben ganze Gebiete dem Erdboden gleichgemacht. Als Resultat dieser Angriffe haben wir nun eine halbe Million Flüchtlinge und es gibt keinen sicheren Hafen, wo sie hinkönnen. Sie haben alles zurückgelassen, sie haben sogar Teile ihrer Familien unter den Trümmern zurückgelassen, sie sind geflohen ohne irgendetwas anderes mitzunehmen als die Kinder in ihren Armen. Und das heißt nicht, dass sie irgendwo in Gaza Schutz gefunden hätten. Das zeigt, Israel hat das systematisch und absichtlich getan, um in die Herzen der Zivilisten Schmerz und Schrecken einzupflanzen."
"Dieser Krieg ist einzigartig und ohne Vorbild"
Ob absichtlich oder nicht, die israelischen Angriffe verbreiteten tatsächlich Angst und Schrecken. In Panik flohen die Menschen aus den umkämpften Gebieten. Sie trugen ihre Kinder in den Armen und ihre alten Eltern auf dem Rücken, sie flüchteten zu Fuß oder mit Eselskarren, mit Autos oder auf Motorrädern.
Mehr als 280.000 Menschen fanden in den Schulen des UN-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge UNRWA Schutz. Etwa noch einmal so viele kamen bei Verwandten und Bekannten unter oder lebten schlicht auf der Straße. Doch Sicherheit fanden sie nicht. Mehrere Familien wurden an ihrem Zufluchtsort Opfer der israelischen Angriffe wie die des Deutsch-Palästinensers Ibrahim Kilani, die in den Ruinen eines zerbombten und zusammengestürzten Wohnturms in Gazastadt ums Leben kam. Zweimal war die Familie geflüchtet, von Beit Lahia im Norden nach Shajaiya im Osten und schließlich in die Stadt. Nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft dort wurde sie getötet.
Auch bei mehreren Angriffen auf UN-Schulen kamen Dutzende Menschen ums Leben, darunter viele Kinder. Die Toten und die Überlebenden wurden in die Krankenhäuser gebracht, in denen während des Krieges ein ständiges Kommen und Gehen herrschte. Schnell waren die Kühlhäuser für die Leichen überfüllt. Selbst auf den Friedhöfen gab es bald keinen Platz mehr und so mussten mehrere Tote in einem Grab bestattet werden.
Verletzte werden auf dem Fußboden operiert
Auch in den Krankenhäusern wurde der Platz knapp. Im Shifa-Krankenhaus wurden die Verletzten auf dem Fußboden operiert und die Frischoperierten in den Gängen auf Matratzen gebettet. Oft mussten sich mehrere Patienten ein Bett teilen. Doch ins Shifa-Krankenhaus kamen nicht nur Kranke und Verletzte, sondern auch Flüchtlinge, die im Hof des Gebäudekomplexes Schutz suchten. Dr. Ghassan Abu Sitta beschreibt die Situation:
"Stellen Sie sich Ihr lokales Krankenhaus vor, das Platz hat für 250 Patienten und stellen Sie sich vor, dass 5.000 bis 10.000 Leute innerhalb dieses Krankenhauses als Flüchtlinge in Zelten leben. Und stellen Sie sich dann vor, dass Sie versuchen müssen, 600 Patienten in diesem 250-Betten-Krankenhaus unterzubringen. Stellen Sie sich vor, dass das medizinische Gerät, das Sie nutzen, so heruntergekommen ist, dass während der Operation Rost und Metallstückchen in die Wunde fallen und Sie sie herausnehmen müssen, um weiter operieren zu können. Die Geräte sind einfach total abgenutzt. Wir müssen die Maschinen dauernd sterilisieren und nach einem Monat sind sie einfach völlig verbraucht und fallen auseinander."
Ghassan Abu Sitta ist Brite mit palästinensischen Wurzeln. Derzeit lebt er im Libanon. Er kam als Teil eines medizinischen Unterstützer-Teams in den Gazastreifen, um auszuhelfen. Sein Fachgebiet ist plastische Chirurgie und seine Expertise sind Kriegsverletzungen. Er hat schon in vielen Konflikt- und Kriegsgebieten praktiziert. In Gaza war er zuletzt während der israelischen Operation "Gegossenes Blei" im Winter 2008/2009. Damals hatte die Armee Phosphor eingesetzt und Abu Sitta behandelte viele Verwundete mit schweren Brandwunden. Diesmal hat er andere Verletzungen vorgefunden:
Druckwellen der Explosionen töten Babys und Kleinkinder
"Meistens haben wir Explosionsverletzungen, Schrapnell und Verbrennungen. Besonders schockierend ist der hohe Prozentsatz an Kindern, die verletzt werden. Sie machen einen großen Teil der Verletzten aus und viele haben den Rest ihrer Familie verloren."
Insgesamt starben 448 Kinder während der Offensive. Vor allem viele Babys und Kleinkinder waren unter den Opfern. Auf den Fotos sehen sie oft äußerlich unverletzt aus, als ob sie schliefen. Aber sie wurden von den Druckwellen getötet, die durch die gewaltigen Explosionen ausgelöst wurden, erklärt Abu Sitta:
"Da der Körper von Kindern über einen höheren Prozentsatz von Wasser verfügt und ihre Köpfe prozentual zu ihrem Körper größer sind, werden sie eher verletzt, auch wenn sie nicht von Splittern getroffen werden. Die Schallwelle der Bombe wird sie daher entweder töten oder schwer verletzen. Die Schallwelle wandert durch die wassergefüllten Regionen ihres Körpers und drückt das Gehirn gegen den Schädel und das tötet das Kind. Da kann man nichts machen."
Ghassan Abu-Sitta ist selbst Vater von drei Jungen. Darum, sagt er, kann er sich vom Leid der Kinder im Gazastreifen nicht distanzieren. Es berührt ihn zutiefst. Vor allem, wenn die verletzten Kinder keine Angehörigen mehr haben, weil ihre ganze Familie ausgelöscht wurde:
"Wir haben eine ganze Reihe von Kindern im Shifa-Krankenaus, die niemanden haben, der sie abholt, wenn sie sich erholt haben, denn sie sind die Einzigen, die überlebt haben. Wenn Sie ein Kind haben, das acht Jahre alt ist und sein Augenlicht vollkommen verloren hat und durch den Krieg zur Vollwaise wurde, dann weiß ich nicht, wer sich um diese Kinder kümmern wird, ich habe keine Ahnung."
Vollkommen überlastetes Gesundheitssystem
Für den völlig verarmten Gazastreifen, der auch vor dem Krieg schon kaum in der Lage war, soziale Dienstleistungen anzubieten, ist die langfristige Versorgung und Rehabilitation der Verletzten eine ungeheure Herausforderung. Ohne Hilfe von außen wird sie nicht zu bewältigen sein. Der Krieg hat rund 10.000 Verletzte gefordert, von den psychisch Geschädigten und Traumatisierten gar nicht zu reden. Viele von ihnen werden für ihr Leben gezeichnet bleiben. Das betont auch Bassam Naim, der ehemalige Gesundheitsminister im Gazastreifen:
"Vor einigen Tagen gab es ein Massaker auf dem Markt von Shajaiyah. Es wurden Granaten von einem Panzer abgeschossen, 24 Menschen sind getötet worden. Was Sie nicht wissen, ist, dass wir hier im Krankenhaus 74 Amputationen vornehmen mussten, einseitige oder sogar zweiseitige. 74 mit einem Schuss. Sie sind alle junge Männer und Kinder, ein Bein oder beide Beine. Wenn der Krieg zu Ende geht, werden wir noch Jahre lang mit Tausenden von Behinderten zu tun haben, nicht nur psychologisch, sondern auch physisch."
Das ohnehin überlastete Gesundheitssystem des Gazastreifens wurde durch die hohe Zahl an Schwerverletzten an den Rand seiner Leistungsfähigkeit gebracht, sagt Bassam Naim und zählt auf:
"Mangel an Medikamenten, Mangel an medizinischem Gerät und Einwegprodukten, erschöpfte Angestellte und mangelnde Erfahrung. Hinzu kommen die Probleme mit dem Strom, dem Wasser und so weiter. Schon in normalen Zeiten war es sehr schwierig, das Gesundheitswesen zu leiten. Und Sie können sich vorstellen, wie viel schwieriger das ist, wenn man innerhalb von Tagen tausende Verletzte behandeln muss."
"Alle 48 Stunden für 3 Stunden Strom"
Das größte Problem für Ärzte und Patienten ist aber der Stromausfall. Das Shifa und die anderen Krankenhäuser verfügen zwar über Generatoren, aber auch die fallen manchmal aus. Außerdem sind sie teuer und der Treibstoff ist knapp.
Überall im Gazastreifen hört man sie, die mit Diesel betriebenen Generatoren. Die Hotels arbeiten damit, die Geschäfte kühlen damit ihre Waren, die kleinen Handwerksbetriebe betreiben damit ihre Maschinen und manch eine Familie, die sich das leisten kann, erlaubt sich damit ein paar Stunden Fernsehen am Abend.
Die Stromversorgung des Gazastreifens war schon vor der Offensive mangelhaft. Die Menschen hatten meistens nur wenige Stunden Strom am Tag. Inzwischen ist die Lage vollkommen desolat. Es gibt praktisch keinen Strom mehr, erklärt Adel El Habash, Generalmanager bei der palästinensischen Stromgesellschaft:
"Wir bekommen normalerweise Strom aus drei Quellen: aus unserem eigenen Kraftwerk, aus Israel und ein bisschen was aus Ägypten. Unser Kraftwerk wurde von Israel attackiert, der Boiler und die Turbinen wurden zerstört und die Tanks wurden in Brand geschossen. Zweitausend Kubikmeter Diesel sind verbrannt. Wir haben noch keine präzise Einschätzung der Kosten, aber ich denke, es wir ein paar Monate dauern, bis das Kraftwerk wieder einsatzbereit ist. Auch einige unserer Notfallgeneratoren sind beschädigt worden. Alles in allem haben wir fünfzig Megawatt verloren, die vom Kraftwerk geliefert wurden, das nun vollkommen ausfällt."
Auch von Israel wird nur wenig Strom geliefert, denn sechs der zehn Einspeisestellen sind während des Krieges beschädigt worden. Von 120 Megawatt, die von Israel normalerweise geliefert werden, sind nur noch 32 bis 40 Megawatt übrig.
"Im Moment haben wir alle 48 Stunden für drei Stunden Strom. Heute hatten wir Strom von 7 bis 10 und gestern auch. Bis alles repariert ist, werden wir im besten Fall am Tag drei Stunden Strom haben. Aber auch die Leitungen sind beschädigt und das macht es schwierig, den Strom zu den Menschen zu bringen."
Nicht zum Trinken geeignet: Leitungswasser ist salzig und brackig
Dramatisch sind die Auswirkungen des Stromausfalls für die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung. Rebhy El Sheikh ist der stellvertretende Vorsitzende der Palästinensischen Wasser-Behörde und zuständig für den Gazastreifen. Er ist ein ruhiger und besonnener Mann. Aber man sieht ihm die Erschöpfung an. In seinen Augen stehen Tränen, während er von den Schwierigkeiten berichtet, denen er und seine Mitarbeiter seit dem Beginn der israelischen Militäroffensive ausgesetzt sind:
"Bis jetzt sind sieben unserer Techniker getötet worden, während sie gerade dabei waren, Wasserleitungen zu reparieren oder andere Dienstleistungen zu erbringen. Wir haben versucht, durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu koordinieren, dass unsere Reparatur-Teams sich bewegen können. Es war sehr schwierig und die Koordination dauerte manchmal zwei oder drei Tage oder mehr, bis man eine bestimmte Gegend betreten konnte. Die Teams hatten die ganze Zeit Angst, sich zu bewegen."
Direkt zu Beginn des Krieges hatte Israel einen drei Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zur No-Go-Zone erklärt. Dort hatten Palästinenser keinerlei Zutritt mehr.
"Das sind 44 Prozent des gesamten Gazastreifens. Damit haben wir den Zugang zu einem Teil unserer Brunnen und Wasserquellen verloren. Die Menschen, die in diesen Gebieten gelebt haben, sind in das Zentrum der Städte geflohen, aber der Bedarf an Wasser ist natürlich der gleiche geblieben."
Nur fünf bis sechs Stunden täglich kann die Wasserbehörde den Haushalten Wasser zur Verfügung stellen. Doch das Wasser, das aus den Leitungen kommt, ist salzig und brackig. Zum Trinken eignet es sich nicht. Im Westjordanland haben Palästinenser damit begonnen, Mineralwasser in Flaschen zu sammeln, um sie als Nothilfe in den Gazastreifen zu schicken. Nach Einschätzung von Al-Sheikh ist das nur der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein:
"Die Bevölkerung des Gazastreifens macht 1,8 Millionen Menschen aus. Das Minimum an Trinkwasser, das jeder braucht, sind drei Liter pro Tag. Das heißt also, dass wir – nur zum Trinken und Kochen – einen täglichen Bedarf von 5 Millionen Litern haben."
Ab 2020 nicht mehr bewohnbar: Schlechte Prognosen für den Gazastreifen
Schon in normalen Zeiten ist die Trinkwasserversorgung im Gazastreifen äußerst prekär. Die einzige natürliche Ressource, über die das Gebiet verfügt, ist die unterirdische Wasserader, der sogenannte Küstenaquifer. Doch der ist durch Überpumpung inzwischen versalzen und kontaminiert. Wasser-Experte Al Sheikh ist pessimistisch:
"Die Wasserader von Gaza wird ab dem Jahr 2016 nicht mehr nutzbar sein. Wenn es ohne Intervention bis 2020 so weitergeht, dann wird die Wasserader irreparabel beschädigt werden. Sie wird dann total zusammenbrechen und sich nicht mehr erholen. Nach Einschätzung der palästinensischen Wasserbehörde entsprechen 94,5 Prozent des Wassers, was der Ader entnommen wird, nicht den internationalen Standards. Der Aquifer verschlechtert sich viel schneller, als wir erwartet hatten. Ich denke daher, dass wir schon vor dem Jahr 2016 eine nicht mehr nutzbare Grundwasserader haben werden."
Nach einem Bericht der Vereinten Nationen wird der Gazastreifen spätestens ab 2020 nicht mehr bewohnbar sein. Für viele Menschen, die den Krieg der letzten Wochen überlebt haben, ist er schon jetzt nicht mehr bewohnbar.