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Gefährdung der Freiheit
"Es geht um den Aufstand der Anständigen"

Die Ideologie der politischen Korrektheit habe dazu geführt, dass wir scheu geworden sind, sagte Carlo Strenger, Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv, im DLF. Es dürfe nicht so weit kommen, dass Organisationen wie Pegida behaupten, sie seien die Verteidiger der westlichen Werte.

Carlo Strenger im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Gegner der Anti-Islam-Bewegung "Dügida" demonstrieren am 12.01.2015 in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) mit einer Leuchtschrift "Stop PEGIDA"
    Die Freiheit verteidigen, fordert Carlo Strenger. (picture alliance / dpa / Federico Gambarini)
    Normalbürger oder der Bürgermeister in Tröglitz in Sachsen-Anhalt dürften nicht im Stich gelassen werden, unterstrich Carlo Strenger, der heute auf der Leipziger Buchmesse sein neues Buch vorstellt. In "Zivilisierte Verachtung - Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit" geht es um die Gefährdung der Freiheit durch islamistische Anschläge wie in Paris, den anti-westlichen Kurs von Russlands Präsident Wladimir Putin sowie um Erscheinungen wie Pegida und wie diesen begegnet werden können.
    Strenger kritisiert, dass die Linke und die politische Mitte nicht bereit seien, die Verteidigung der Freiheit auf sich zu nehmen und dies den Rechten überlassen. Diese würden sich dann als einzige Verteidigerin der Grundrechte darstellen und sie so letztlich kaputtmachen. "Wir haben Angst bekommen, andere Kulturen, vor allem Kulturen, die uns Grundrechte und Freiheit angreifen, scharf zu kritisieren, weil wir verpflichtet sein müssen, alle anderen Kulturen zu respektieren, sagte Carlo Strenger im DLF.
    Zur anstehenden Wahl in Israel sagte der Professor, der an der Universität Tel Aviv lehrt, er wünsche sich, dass der derzeitige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht auch die nächste Regierung bilde. Das sei für Israel und den Nahen Osten notwendig. Zudem fordert er deutlicherer Worte aus Berlin zur israelischen Siedlungspolitik. Aus historischen Gründen sei dies für deutsche Politiker aber schwierig, so Strenger.

    Das Interview in voller Länge
    Dirk-Oliver Heckmann: In diesem Jahr werden sie 50 Jahre alt, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel - ein Ereignis, das uns noch öfter in diesem Jahr begegnen wird. Auch die Leipziger Buchmesse hat in diesem Jahr diesen Schwerpunkt gewählt. Namhafte israelische Autoren werden dazu in der Messestadt erwartet, darunter auch Carlo Strenger. Er ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen, ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv, Autor zahlreicher Bücher und Beiträge, für den britischen "Guardian" beispielsweise, und Kolumnist der liberalen israelischen Tageszeitung "Haaretz". Ich hatte vor der Sendung die Gelegenheit, mit Carlo Strenger zu sprechen. - Guten Morgen, Herr Professor Strenger.
    Carlo Strenger: Guten Morgen!
    Heckmann: In Leipzig stellen Sie Ihr neues Buch vor mit dem Titel "Zivilisierte Verachtung: Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit". Da geht es um die Gefährdung der Freiheit durch islamistische Anschläge wie die in Paris, um den antiwestlichen Kurs eines Wladimir Putin und um Erscheinungen wie Pegida, und wie diesen Gefahren begegnet werden kann. Da wollen wir natürlich wissen: wie kann diesen Gefahren begegnet werden?
    Strenger: Wir müssen zuerst verstehen, dass die ganz große Gefahr dadurch entsteht, dass die Linke und die politische Mitte die Verteidigung der Freiheit während Jahren der Rechten sozusagen outgesourct hat. Und die große Gefahr besteht darin, dass wenn Angriffe auf den Westen, sei es nun durch Islamisten oder durch Putin oder andere Gefahren entstehen, wenn die politische Mitte und die politische Linke nicht bereit ist, die Verteidigung unserer Grundwerte auf sich zu nehmen, dann kommt die Rechte und stellt sich als die einzige Verteidigerin dieser Werte dar und macht dann natürlich auch mit dieser sogenannten Verteidigung gerade die Grundwerte der Freiheit letztlich kaputt.
    "Die Ideologie der politischen Korrektheit hat dazu geführt, dass wir scheu geworden sind"
    Heckmann: Aus Ihrer Sicht also hält sich da die Linke und auch die politische Mitte wahrscheinlich nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern zu sehr zurück. Weshalb ist das aus Ihrer Sicht so?
    Strenger: Sehen Sie, die Grundthese des Buches, das Sie erwähnt haben, ist, dass die Ideologie der politischen Korrektheit dazu geführt hat, dass wir scheu geworden sind. Wir haben Angst bekommen, andere Kulturen, vor allem auch noch Kulturen, die unsere Grundwerte, vor allem unsere Freiheit angreifen, scharf zu kritisieren, weil wir sozusagen verpflichtet sein müssen, alle anderen Kulturen zu respektieren. Die einzige Kultur, die wir kritisieren dürfen, ist unsere eigene. Und dann haben wir das natürlich - und das geschieht heute in ganz Europa -, dass dann die Rechte diese Position einnimmt. Das geht von Marine Le Pen in Frankreich über Pegida in Deutschland bis Geert Wilders in den Niederlanden, die dann sagen: "Wir sind diejenigen, die den Westen verteidigen."
    Heckmann: Aber um mal beispielsweise auf den islamistischen Terrorismus zu sprechen zu kommen. Ich kann mich jetzt nicht daran erinnern, dass irgendjemand in Deutschland aus der politischen Mitte oder des linken Spektrums dort solche Taten goutieren würde oder rechtfertigen würde.
    Strenger: Das ist doch ganz klar, dass niemand diese rechtfertigt. Der Kampf beginnt viel früher. Es geht darum, viel früher die ganze Rhetorik, die den Westen als dekadent, als wertlos, als nihilistisch betrachtet und deswegen auch nicht als verteidigungswürdig, dass dieser Rhetorik nicht geantwortet wird. Wenn wir schon zum Punkt kommen, an dem Terrorakte durchgeführt werden, dann ist es schon viel zu spät.
    Heckmann: In Tröglitz in Sachsen-Anhalt - darauf würde ich gerne zu sprechen kommen -, da ist ein Bürgermeister zurückgetreten, der für die Aufnahme von Flüchtlingen sich ausgesprochen hat und sich von Anhängern der NPD bedroht fühlte und sich auch weder von den Behörden, noch von der Politik geschützt fühlte. Das Ganze hat hier in Deutschland eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Wenn Sie von so einer Geschichte hören, was geht Ihnen dann durch den Kopf?
    Strenger: Was mir durch den Kopf geht, ist genau das, dass wenn ein Bürgermeister, der sich anscheinend mit doch einem gewissen Mut dagegen sträubt, dass die NPD wieder einen Platz in der Öffentlichkeit bekommt, wenn der dann fühlt, dass er von einer starken Regierungskoalition, die in Deutschland eigentlich die Möglichkeit hätte, wirklich ihm Schutz zu geben, letztlich im Stich gelassen wird.
    Organisationen wie Pegida "untergraben die westlichen Werte"
    Heckmann: Es gab eine ganze Reihe von Sympathiebekundungen auf Bundesebene, aber faktisch ist jetzt nicht viel gefolgt. Der entsprechende Ortsbürgermeister, der hofft noch auf einen Aufstand der Anständigen. Davon ist allerdings im Moment nicht viel zu sehen. Wie bewerten Sie das?
    Strenger: Es geht mir genau um den Aufstand der Anständigen. Wir dürfen es einfach nicht dazu kommen lassen - von der NPD will ich ja gar nicht sprechen -, dass dann Organisationen wie Pegida behaupten: Wir sind die Verteidiger der Freiheit und der westlichen Werte. Das sind nicht die Verteidiger der westlichen Werte. Die untergraben die westlichen Werte. Deswegen dürfen wir es keinesfalls dazu kommen lassen, dass Normalbürger und Menschen wie dieser Bürgermeister sich letztlich einfach im Stich gelassen fühlen.
    Heckmann: Wobei man dazu sagen muss, dass ja gegen Pegida beispielsweise und ihre verschiedenen Ableger Zehntausende auf die Straßen gegangen sind in vielen Städten. Ist das diese Art der zivilisierten Verachtung, die Sie sich wünschen?
    Strenger: Absolut! Das, sowie auch der Moment, in dem in Frankreich Millionen auf die Straßen gegangen sind und gesagt haben: Wir stehen hinter unseren Grundprinzipien, der Meinungsfreiheit, wir werden es nicht zulassen, dass jemand uns diese Freiheit weglässt. Und was am allerwichtigsten ist: Wenn im Moment da wirklich Menschen, die politisch moderat sind, diese Position übernehmen, dann überlassen sie das Schlachtfeld nicht Menschen wie Marine Le Pen.
    Wie Sie sich vielleicht erinnern können, hat Marine Le Pen Stunden nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo vorgeschlagen, man müsse doch die Todesstrafe für Terroristen wieder einführen. Das ist ein absolut zynischer Schachzug, weil wer die scharistische Ideologie kennt weiß ja, dass diese Menschen ja Selbstmordattentate ausführen wollen. Das heißt, ihnen mit der Todesstrafe zu drohen, ist ein schlechter Witz, wenn Sie mir den Ausdruck erlauben, denn sie fürchten den Tod ja nicht. Und genau da müssen wir aufpassen. Wir dürfen uns nicht durch absolut reale Gefahren wie den islamistischen Terror dazu führen lassen, dass rechtspopulistische Rhetorik am Ende zu viel Raum bekommt und sich sozusagen als die Verteidigung unserer Freiheit hinstellen kann.
    Heckmann: Und dazu gehört es zur Not auch, andere Religionen zu verhöhnen, dadurch, dass man sich die Freiheit nimmt, Karikaturen des Propheten beispielsweise zu veröffentlichen?
    Strenger: Wissen Sie, seit dem 18. Jahrhundert ist das Recht zur Satire ein Grundrecht, das die Aufklärung immer verteidigt hat. Jeder von uns mag sich vielleicht in gewisser Hinsicht beleidigt fühlen, wenn die christliche Religion oder die jüdische Religion satirisch dargestellt wird. Ein zivilisierter Mensch zu sein, heißt, dass man diese Kränkung ertragen kann, ohne zur Gewalt zu greifen.
    Ich kann Ihnen nicht sagen, dass ich eine besondere Sympathie für "Charlie Hebdo" habe oder diese Art Karikaturen besonders witzig finde, aber wie Voltaire so schön gesagt hat: Ich werde jeden Tropfen meines Blutes hergeben für das Recht, dass die auch etwas machen können, was ich nicht unbedingt für geschmackvoll halte. Das Problem beginnt dann, wenn wir sagen, ja, aber es gibt nun irgendeine Gruppe, sei es nun der Islam oder eine andere, die wir einfach nicht satirisch angreifen oder darstellen dürfen.
    Strenger hofft auf Abwahl Netanjahus
    Heckmann: Herr Strenger, in der nächsten Woche - und auf das Thema müssen wir zu sprechen kommen - wird in Israel gewählt. In Umfragen liegen der Likud und das Mitte-Links-Parteienbündnis fast gleichauf. Ist das Ganze möglicherweise eine Chance für einen Neustart im Friedensprozess mit den Palästinensern?
    Strenger: Wollen Sie wissen, was ich hoffe, oder was ich denke?
    Heckmann: Beides!
    Strenger: Schauen Sie, ich hoffe natürlich, dass vielleicht die Dynamik im Moment doch ein bisschen darauf hinweist, dass dieses Mal Netanjahu nicht die nächste Regierung bildet. Ich glaube, es ist für Israel lebensnotwendig, es ist für den Nahen Osten lebensnotwendig, und ich hoffe enorm, dass das wirklich der Fall sein wird. Im Moment bin ich, was die Zahlen anbelangt, noch ein bisschen skeptisch, weil eine Mitte-Links-Koalition im Moment mathematisch gesprochen noch sehr, sehr knapp dran ist.
    Heckmann: Der amerikanische Präsident Barack Obama, der lässt ja keinen Zweifel daran, was er von der Siedlungspolitik von Benjamin Netanjahu hält, gar nichts nämlich. Im Gegenteil: Er hält es für eine gefährliche Politik. Er wurde ja nicht eingeladen ins Weiße Haus, als Netanjahu in Washington war. Würden Sie sich manchmal auch eine deutlichere Sprache auch aus Berlin wünschen oder ist die ausgeschlossen wegen der historischen Verantwortung für den Holocaust?
    Strenger: Ich würde so sagen: Ich würde mir eine sehr viel deutlichere Sprache sehr wünschen. Wie Sie sehr genau gesagt haben: Ich glaube, aus geschichtlichen Gründen ist es für deutsche Spitzenpolitiker sehr schwierig, sich der israelischen Siedlungspolitik gegenüber sehr viel härter auszudrücken. Ich möchte ganz klar sagen, dass ich sehr unterscheide zwischen antiisraelischer Kritik und Kritik der Siedlungspolitik. Ich glaube, es ist absolut gerechtfertigt und möglich, die Siedlungspolitik anzugreifen, ohne antiisraelisch zu sein. Es gibt sehr viele Israelis, ich würde sagen um die 40, 45 Prozent, die genauso wie ich denken, dass diese Siedlungspolitik für Israel selber eine Katastrophe ist.
    Heckmann: Der Psychoanalytiker und Philosoph Carlo Strenger war das hier im Deutschlandfunk. Er stellt in Leipzig sein neues Buch vor mit dem Titel "Zivilisierte Verachtung: Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit", erschienen im Suhrkamp Verlag. Herr Strenger, ich danke Ihnen für das interessante Interview!
    Strenger: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.