Georgien liegt am östlichsten Rand Europas. Nur etwa vier Millionen Einwohner leben hier, ein Viertel davon in der georgischen Hauptstadt Tiflis – eine Metropole zwischen Umbruch und Aufbruch: EU-Demokratie im Westen, das übermächtige Russland im Osten. Dazwischen der sich breitmachende post-sowjetische Kapitalismus. Diese Zerrissenheit zeigt sich in der Kunst, im Alltag und im Stadtbild: Moderne Wohnblöcke stechen hervor, während die wunderschönen historischen Altbauten verfallen. Gerade im Klangbild der Stadt macht sich dieser Wandel bemerkbar. ´Corso Spezial' begibt sich auf eine akustische Spurensuche nach dem Tifliser Zeitgeist in Musik, Film, Literatur – und den beliebten Eiscreme-Buden.
Geräusche und Klänge des Aufbruchs. Der Sound von Tiflis – eine akustische Spurensuche in einer Metropole im Umbruch. Ein Feature von Andi Hörmann.
Tiflis erwacht langsam aus der schlafenden Nacht. Vier Uhr morgens, Flughafen. Das übliche Prozedere: Passkontrolle, Stempel, Drehkreuz – warten am rotierenden Gepäckband. Müde Augen, schweifende Blicke, erste Eindrücke. Der kalte Marmor in vergilbten Beige-Tönen wirkt auf mich wie ein klischeehaftes Bild: billiger Ostblock-Charme, spröde Patina der Sowjetzeit. Die schläfrig verhallten Stimmen in der Empfangshalle sind so undefinierbar wie die Nationalitäten der gelandeten Passagiere: blasse Männer in dunklen Lederjacken, Frauen mit seidenen Kopftüchern in gedeckten Farben. Eine automatische Schiebetür: Morgengrauen verdrängt das Nachtdunkel. Sternklarer Himmel, kühle, frische Luft, der Flughafen: betongrau.
Eine rasante Taxifahrt durch das Ende der Nacht. Entlang der Schnellstraße ins Stadtzentrum zeigt Tiflis sein faltiges Gesicht – schroff und schäbig: alte Hausfassaden konterkarieren mit hypermoderner Architektur. Eine Polizeistation in der Optik eines Ufos. Stahl und Glas. Und immer wieder diese vor sich hin bröckelnden Wohnblöcke der Tifliser Vorstadt-Siedlungen. Ein wildes Architektur-Puzzle mit wundersamem Charme: das Aufeinanderkrachen von kaukasischer Kultur, Zerwürfnissen der jüngsten Geschichte und Lebenswelten mit steilem sozialen Gefälle.
Als Westeuropäer habe ich erst mal nur eine vage Vorstellung von Georgien, diesem kleinen, fast schon unscheinbaren Land zwischen Schwarzem Meer und Großem Kaukasus – von Deutschland mehr als 2000 Kilometer Luftlinie entfernt. Ich tauche hier in den nächsten Tagen in eine mir noch fremde Welt ein und treffe unter anderem eine junge, heimgekehrte Georgierin, die in München Deutsch studiert hat.
"Georgien ist ein sehr spezifisches Land. Georgien wird durch ganz viele Sachen ausgemacht, besonders durch die Lage: es befindest sich irgendwo in der Mitte - nicht Europa, nicht Asien."
Ich esse Eis mit einem Deutschen, der Kinofilme macht und mit selbst produzierter fruchtig-sahniger Eiscreme in Tiflis eine echte Marktlücke entdeckt hat.
"Das Temperament der Georgier, die andere Art mit Dingen umzugehen - natürlich auch die Offenheit, die Gastfreundschaft, das Land als solches. Ich denke da ist vieles ganz anders als in Deutschland."
Und ich besuche einen jungen Hip-Hop-Musiker, der mit seiner Kunst in diesem georgisch-orthodox geprägten Land eine ganz eigene Spiritualität lebt.
"Du kannst dem Regen die ganze Nacht zuhören - wie er in einem chaotischen Rhythmus prasselt. Das ist nicht nervig. Du gewöhnst dich an diesen monotonen, unregelmäßigen Rhythmus - und meditierst dazu."
Das undefinierbare Prasseln des Regens, ein merkwürdiger Rhythmus, geklopft auf den vor sich hin rostenden Blechbedachungen in der Innenstadt von Tiflis. Der 1986 geborene Hip-Hop-Musiker und bildende Künstler Max Machaidze gibt mir dieses akustische Bild mit auf meinen Erkundungsweg durch seine Heimatstadt. Der Gedanke wird für mich zum Schlüsselerlebnis, denn auch ich laufe hier viel durch Regen, und frage mich: In welchen Geräuschen steckt der Umbruch, in welchen Klängen hören wir den Aufbruch der Hauptstadt Georgiens? Was ist der Sound von Tiflis?
Auf der zentralen Rustaveli Avenue hupt und heult der Verkehr. Die Sirenen von Polizei und Ambulanz machen mit schrillen Signaltönen auf sich aufmerksam. In meinen Ohren klingen sie nach einem verzerrten, viel zu lauten Spielzeug-Synthesizer. Oder doch mehr nach einem unwirklichen Computerspiel?
Jeder kämpft ums Überleben, jeder ist für sich
An meinen ersten Tagen in Tiflis lerne ich eine junge Georgierin kennen. Wir treffen uns in der Altstadt. Vor einer wunderschönen Kulisse aus Gebäudefassaden mit floralen Ornamenten. Auch hier: Jugendstil. Hinterhöfe mit den für Georgien typischen Laubengängen - notdürftig mit Brettern beschlagen. Bäume mit reifem Obst: Kiwis und Kakis, umweht vom unerträglichen Gestank der Autoabgase.
"Ich bin Natia Tavadze, ich bin 37 Jahre alt, ich habe Germanistik studiert und arbeite momentan unter anderem als Übersetzerin und Deutschlehrerin. Ich habe auch in München studiert."
Autor: "Wenn Du acht Jahre in Deutschland warst, gab es so etwas wie einen Kulturschock, nach Deutschland zu gehen oder dann auch wieder zurückzukommen?"
"Ich hatte beide Male einen ganz großen Kulturschock. Ich bin ja 2000 nach Deutschland gegangen, und die 90er Jahre waren bei uns dunkel und schrecklich, obwohl es menschlich die besten Jahre waren. Weil die menschlichen Beziehungen sehr warm waren, die wärmsten Jahre in Georgien. Es gab Hungersnot, keinen Strom - überhaupt gar nichts hat es gegeben. Dann kommst du nach Deutschland, und da gibt es alles. Am Anfang, als der Kühlschrank angefangen hat zu arbeiten, habe ich immer gedacht: Ah, jetzt ist der Strom wieder da. Dann habe ich gemerkt, du bist in Deutschland, da gibt es keine Stromausfälle. Und dann bin ich wieder zurückgekommen: Sechs Jahre hatte ich einen Schock, weil Georgien sich so verändert hat."
Es ist die Zeit von Eduard Schewardnadse, der vor seiner Präsidentschaft unter Gorbatschow Außenminister in der Sowjetunion war. Georgien erklärt sich 1991 nach kriegerischen Auseinandersetzungen als Republik unabhängig von Russland – mit verheerenden Folgen: Die Wirtschaft stagniert, das Land versumpft in Korruption und Kriminalität. Der westlich orientierte Präsident Michail Saakaschwili räumt in den Nullerjahren mit Korruption und Verbrechen auf - mit fragwürdigen bis menschenverachtenden Methoden. 2012 dann die politische Kehrtwende: Mit der Regierungskoalition ´Georgischer Traum' um den Multimilliardär Bizina Ivanishvili kommen Russland zugewandte Traditionalisten an die Macht.
"Ich hatte ein ganz anderes Land verlassen, dann war ich ganz woanders, dann komme ich zurück und das Land hat sich so verändert. Und die Menschen, die menschlichen Beziehungen sind jetzt ganz anders wie es mal war. Jeder kämpft irgendwie ums Überleben, oder jeder ist für sich. Früher waren wir irgendwie zusammen. Ich kann mich erinnern: In Studentenwohnheim hatte ich mal eine Seife, die habe ich aufgeteilt und meinen Nachbarn gegeben. Wenn ich mal eine Seife hatte, das war so was von toll und wir konnten uns damit alle waschen. Oder jemand hat zum Beispiel eine Flasche Öl gehabt: ´Kommt, ich habe eine Flasche Öl, ich gebe dir eine kleine Tasse.' Alle waren so."
Autor: "Meinst Du, dass die Aufbruchstimmung, die hier ja herrscht, die Leute auch ein bisschen egoistischer macht?"
"Jedes Jahr gibt es Veränderungen, jedes Jahr gibt es neue Reformen. Da denke ich schon, dass jeder meint: Jetzt muss ich mein eigener Herr werden und auf mich selbst aufpassen. Das macht einen Menschen verschlossener."
Ökonomische und soziale Unsicherheiten machen die Menschen verschlossener, aber für Künstler und Kreative sind solche Umbrüche oftmals auch ein Aufbruch. So klingt etwa die experimentelle, elektronische Pop-Musik aus Tiflis in meinen Ohren nach Melancholie und Schmerz, aber auch nach Sehnsucht und Schönheit - komponiert aus dem Schrecken der Vergangenheit.
"In den georgischen Medien gibt es keine Kultur"
In einem stillgelegten Elektrizitätswerk treffe ich die 1979 geborene Natalie Beridze, eine der Protagonistinnen der elektronischen Musikszene. Sie experimentiert mit Ambient-Sounds, Störgeräuschen und gehauchtem Gesang. In einem mit Weinreben berankten Innenhof veranstaltet sie ihr Video-Musikformat "live@twilight".
"Heute ist die Premiere von "Season 2 live@twilight". Und Vincent Volt, ein georgischer Musiker, wird heute live spielen. Und Georgi Maskai ist Videokünstler, der macht Visuals."
Auf der Leinwand hinter seinem Pult mit Sampler und Synthesizer sind animierte Industrielandschaften zu sehen: gezeichnete Apokalypse vor einem Konzert-Publikum, das offensichtlich im Kleidungsstil vom westlichen Hipster-Boom beeinflusst ist. Aber dieser Lifestyle vermischt sich hier mit georgischer Tradition: schwarze Lederjacken bei den Männern, Sticktücher bei den Frauen, dazu Hightech-Sneaker.
"Ich will, dass das sehr sehr experimentell ist. Heute wird es nicht so experimentell sein, weil er schon seit vielen Jahren Musik macht, und viele Leute kennen ihn. Aber eigentlich will ich ganz unbekannte Leute hier einladen. Sodass wir uns kennenlernen können."
"Von der Musik her, Dir kann es dir glaube ich nicht experimentell genug sein. Wenn man deine Aufnahmen hört, das ist schon sehr... Es ist nicht Popmusik, was du machst."
"Manchmal mache ich auch Pop, aber es geht auch um das Label auf dem du veröffentlichst. Für mich ist es das Beste, weil ich nicht möchte, dass alle meine Musik kennen und mögen. It's not my goal. Ich will alles machen, was ich mag."
2003 veröffentlicht Natalie Beridze zum ersten Mal Musik in Deutschland. Zwei Jahre später findet sie auf dem Label "Max Ernst" von Thomas Brinkmann ein Zuhause für ihre Kompositionen und zieht für ein Jahr in die deutsche Hauptstadt. Doch sie kehrt wieder zurück zu ihren Wurzeln, nach Georgien - in Tiflis lebt sie heute mit dem Musiker und Filmemacher Nikakoi zusammen.
Party im stillgelegten Elektrizitätswerk
An diesem Abend hat Natalie Beridze den 1985 in Georgien geborenen Musiker Irakli Shonia alias Vincent Volt eingeladen. Auch seine Musik ist durchzogen von düsteren Soundscapes.
"Seit einigen Jahren schon gibt es in Georgien schon anspruchsvolle elektronische Musik. Die Voraussetzungen dafür sind da: Wir haben Erfahrungen gesammelt, wir haben das Equipment und wir haben das Internet. Das macht es einfach. Musik ist eine Mischung aus deinen Erfahrungen im Alltag und allem, was dich umgibt. Alles wird zur Inspiration. Und natürlich auch Literatur, nur die Politik nicht. Ich bin nicht politisch, mich interessiert das nicht."
Nach dem Auftritt von Vincent Volt feiern die Besucher eine Party in dem stillgelegten Elektrizitätswerks, das seit 2015 als kulturelle Zwischennutzung unter dem Namen ArtArea eine Heimat für die Tifliser Subkultur ist - nicht nur Konzert-Location, sondern auch Kunstgalerie, Buch-Verlag und Internet-Fernsehsender. Vom Innenhof führt eine Treppe in die Redaktionsräume.
"Ich bin Taso Chkheidze, ich bin die künstlerische Leiterin der ArtArea. Das ist das erste multimediale Projekt in Georgien. Es wurde 2012 von der TBC Bank ins Leben gerufen. Diese Bank ist einer der größten Sponsoren für kulturelle Projekte. Die Idee von ArtArea war anfangs nur, ein Internet-Fernsehen zu etablieren. Ein Jahr später dann wurden wir immer mehr zu einer eigenständigen Organisation. Jetzt sind wir nicht nur ein Internet-Fernsehsender, der auch über das Netz regulärer georgischer Kabel-Kanäle sendet, sondern wir haben auch noch eine eigene Kunstgalerie und ein Café, wo es verschiedene Ausstellungen, Konzerte und Präsentationen von neuen Büchern und Filmen gibt. Was die Inhalte unseres Web-Fernsehens anbelangt, da gibt es die verschiedensten Sendungen, die sich mit ganz diversen Kunstrichtungen auseinandersetzen: Spielfilme, Literatur, bildende Kunst, Fotografie, Architektur. Denn jedes Problem, sei es sozialer oder politischer Natur, hängt irgendwie auch mit der Kunst zusammen. So versuchen wir manchmal gesellschaftliche Spannungen, die sich in der Kunst widerspiegeln, in Beiträgen zu analysieren und zu diskutieren.
In den georgischen Medien gibt es einfach keine Kultur. Die Programme sind sehr politisch orientiert. Deswegen ist ArtArea auch entstanden, um innovative Sendungen ins Leben zu rufen, mit dem Ziel, etwas dazu beizutragen, unsere Gesellschaft zu bilden.
Weil wir ja ein relativ kleines Unternehmen sind und keine große Finanzierung haben, muss jeder viele Aufgaben übernehmen. Wir sind ein Fernsehsender, haben aber keine Studios. Alles, was du hier siehst ist unser Studio. Hier ist der Produktionsraum. Wir haben nur drei Schnittplätze. Die ganze Bildbearbeitung wird hier erledigt. Von hier aus senden wir. Ziemlich klein. Ein normaler Sender sieht anders aus, aber wenn du unser Programm im Fernsehen siehst, würdest du nicht glauben, dass wir mit so wenig Leuten und in so kleinen Räumen arbeiten.
Weil wir ja ein relativ kleines Unternehmen sind und keine große Finanzierung haben, muss jeder viele Aufgaben übernehmen. Wir sind ein Fernsehsender, haben aber keine Studios. Alles, was du hier siehst ist unser Studio. Hier ist der Produktionsraum. Wir haben nur drei Schnittplätze. Die ganze Bildbearbeitung wird hier erledigt. Von hier aus senden wir. Ziemlich klein. Ein normaler Sender sieht anders aus, aber wenn du unser Programm im Fernsehen siehst, würdest du nicht glauben, dass wir mit so wenig Leuten und in so kleinen Räumen arbeiten.
Darauf sehen wir, was gerade im ArtArea-Fernsehen läuft. Gerade ist es eine Sendung über Tiflis. Darin spricht ein Experte, über Architektur. Einigen Leuten erzählt er gerade von seinem Insider-Wissen über die Gebäude in Tiflis."
Ein Hahn kräht mitten in der Stadt
Die Kriegsgräuel und der postkommunistische Bauboom haben das Stadtbild von Tiflis in einen architektonischen Flickenteppich verwandelt: Findige Investoren ziehen moderne Wohnblöcke in die Höhe, monumentale Regierungsgebäude mit strengen Säulenhallen treffen auf märchenhafte Jugendstil-Paläste mit verzierten Türmen, treffen auf Schwefelbäder mit orientalischen Kuppelbauten. Und mitten drin georgisch-orthodoxe Kirchen und muslimische Moscheen mit kaleidoskopartigen Ornamenten. Turbo-Urbanismus neben bröckelnder Sowjet-Architektur. In den entbehrungsreichen 1990er Jahren nach der Unabhängigkeit von Russland entstanden in der georgischen Hauptstadt improvisierte Wohnräume: geschlossene, balkonartige Zubauten an der maroden Bausubstanz – mit Metallstäben vergittert. Architektur-Tetris an Wohnblock-Fassaden. Immer wieder stürzen solche Konstruktionen ein.
"Ich bin Stephan Wackwitz, der Direktor des Goethe-Instituts in Tbilisi. Also hier haben wir zwar das Gebäude, aber wir sind auch zuständig für Armenien und Aserbaidschan."
Seit 2011 leitet Stephan Wackwitz das Goethe-Institut in Tiflis. Sein Ankommen, seine ersten Eindrücke von dieser Stadt, hat er unter dem Titel "Die vergessene Mitte der Welt" in einem philosophischen Erfahrungsbericht als Buch veröffentlicht.
"Ich habe vor allem miterlebt, wie sich diese Stadt selbst zerstört durch den massenhaften Abriss der kleinen Parzellen mit Backsteinhäuschen und Gärten und Weinlauben und Zypressen, die eigentlich den Charme dieser Stadt ausgemacht haben."
"Der Sound der Stadt ist zunächst einmal ein großes Hupkonzert"
In Tiflis gibt es keine funktionierende Denkmalpflege, keine Stadtplanung. Mit der Sowjetunion hat Georgien Anfang der 1990er Jahre eben auch den Kommunismus hinter sich gelassen und sich den uneingeschränkten Freiheiten des Kapitalismus geöffnet.
"Die Stadt wird durch diese Bautätigkeit von Investoren sehr beeinträchtigt und verliert sehr viel von Schönheit und Charme. Was auch dazu beiträgt, ist der vollkommen ungesteuerte Autoverkehr, der inzwischen katastrophale Formen annimmt. Das ist eine Entwicklung, wo man doch sehen kann, dass die ganz ungehemmte Entfaltung des Kapitalismus auch nicht das Wahre ist. Ansonsten ist es natürlich immer noch das Land im Südkaukasus, das die größte demokratische Entfaltungsmöglichkeit von kulturellen Initiativen bietet - wenn man es vergleicht mit Armenien und Aserbaidschan. Insofern: Politisch bin ich gedämpft optimistisch. Nur: Man hat schon den Eindruck, dass die Fortschritte des Menschengeschlechts auch die Rückschritte der Poesie sind, wenn man durch die Straßen von Tbilisi geht. Je moderner die Welt wird, desto unpoetischer wird sie. Es war mir klar, dass das so sein würde. Es ist nur viel viel schneller gegangen als ich mir das vorstellen konnte, dass so das alte Tbilisi abgeräumt wird."
Autor: "Gibt es für sie so etwas wie den Sound von Tiflis, den Sound dieser Stadt?"
"Also der Sound dieser Stadt ist zunächst mal ein großes Hupkonzert, aber andererseits auch viel Wind. Es gibt immer sehr interessante Wetterlagen, die sich auch sehr schnell verändern. Für mich persönlich gehört zum Sound von Tiflis auch, dass jeden Morgen im Morgengrauen ein Hahn vor meinem Fenster kräht."
Autor: "Tatsächlich, ein Hahn, mitten in der Stadt?"
"Irgendwo in einem Hinterhof ist da ein Hühnerstall. Das finde ich sehr schön. Das ist eben das Orientalische an Tiflis."
Junge Literaten rechnen mit der Geschichte ab
Die traditionelle georgische Musik klingt in meinen Ohren orientalisch. Der alte, polyfone Gesang mit seinen komplexen Harmonien ist seit 2001 auch UNESCO-Weltkulturerbe. Und da ist noch der exotische Klang der Sprache. In ihm erklingt das ganze kulturelle Erbe des Landes - wie in diesem Gedicht, das der junge Schriftsteller Paata Shamugia rezitiert...
Ich treffe Paata Shamugia in dem kleinen Literatur-Café "Book Corner" in Tiflis. Der 1983 geborene Autor verdient seinen Lebensunterhalt als Programmierer.
"In beiden Fällen beschäftigt man sich mich Codes: In der Literatur ist es der Sprach-Code, beim Programmieren ist es der Computer-Code. Wobei es beim Schreiben die Zeichen des alltäglichen Lebens sind, die wir entschlüsseln müssen, um hinter die Wahrheit zu kommen."
Die literarische Wahrheitsfindung beginnt für Paata Shamugia 2006 mit einer regelrechten Attacke. Ausgerechnet das Nationalepos "Der Recke im Tigerfell" von Schota Rustaweli nahm er sich vor – eine Heldengeschichte über Ritterlichkeit und Edelmut aus dem 12. Jahrhundert, die jeder Georgier in die Wiege gelegt bekommt, und die heute auch zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Shamugia interpretiert das literarische Heiligtum ins Blasphemische:
Schneeweiße Brüste von Prostituierten und alternde Götter in einem Gedicht. Erotische Frivolität trifft auf irritierende Gotteslästerung. Ein Aufbegehren gegen Traditionalisten, ein Tabubruch mit Poesie. Die Künstler-Szene in Tiflis feiert Shamugia als literarischen Popstar. Auf mich wirkt er wie die georgische Version eines Michel Houellebecq. Denn für die religiösen und politischen Köpfe in Georgien war sein erster lyrischer Aufschrei zu viel des Guten, in dem Land, das seit dem Ende des Kommunismus eine Art Renaissance der georgisch-orthodoxen Religion erlebt.
"Es war ein regelrechter Aufruhr: Sogar die Abgeordneten im Parlament haben die Veröffentlichung meines Textes angeprangert, dass ich so einen Unsinn geschrieben hätte. Zwei Dutzend Priester haben dagegen protestiert, ein radikaler Verein orthodoxer Eltern hat sogar meine Bücher aufgekauft und verbrannt."
Und doch hat Paata Shamugia mit seinem nächsten Lyrikband "Acatiste" den renommiertesten georgischen Literaturpreis SABA gewonnen – so viel Kunstfreiheit gibt es in Georgien dann doch.. Er schreibt aber nicht nur provokante Lyrik, sondern setzt sich gerade in seinem ersten Roman mit dem Kaukasuskrieg im Jahr 2008 auseinander.
"Mein nächstes Buch wird ein psychologischer Roman. Er spielt 2008, in der Zeit als Georgien und Russland sich bekriegten. Aber es ist eine fiktive Geschichte. Der Krieg geht auch ganz anders aus. Die Figuren und auch die Politiker werden aber real sein. Und Protagonist ist eine Frau."
Starke Frauenstimmen in der Literatur
Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Kampf um die Unabhängigkeit vom übermächtigen Nachbarn Russland und die durch Boykott und Armut geprägten Nachkriegsjahre in den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien werden heute in der georgischen Literatur aufgearbeitet – erst zehn bis 20 Jahren später, durch eine neue Generation junger Autoren. Es entsteht eine Art Trümmerliteratur – mit georgischen Utopien im Spannungsfeld von Sowjet-Nostalgie und Europa-Demokratie.
Bislang sind es zwar vor allem die starken Frauenstimmen der immer noch jungen Nachkriegsgeneration um Tamta Melaschwili, die in Deutschland bekannt sind. Mit "Abzählen" gelang ihr 2012 ein viel beachtetes Debüt über eine Mädchenfreundschaft im Bürgerkrieg. In Vorbereitung auf den Gastlandauftritt 2018 auf der Frankfurter Buchmesse sollen aber demnächst auch andere stimmkräftige Autoren übersetzt werden, zum Beispiel Paata Shamugia. Bisher war Georgien ja vor allem wegen seiner Sowjet-Vergangenheit, der Bürgerkriege und der ständigen politischen Konflikte mit dem großen Nachbarn Russland ein Thema in den deutschen Medien. Doch seit die aus Georgien stammende und auf Deutsch schreibende Autorin Nino Haratischwili 2011 für ihren Roman "Mein sanfter Zwilling" den Preis der Hotlist für den besten Roman unabhängiger Verlage in Deutschland erhielt, taucht Georgien auch bei uns verstärkt in den Feuilletons auf. Das Problem ist: Derzeit lassen sich die guten Übersetzter an einer Hand abzählen. Eine von ihnen ist Natia Mikeladse-Bachsoliani. Sie ist in Georgien zur Schule gegangen, hat in Deutschland Germanistik studiert und ist zweisprachig aufgewachsen – der Vater Georgier, die Mutter Deutsche. Ihre Übersetzung von Tamta Melaschwilis Roman "Abzählen" hat 2013 sogar den deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen.
"Das Problem bei georgischen Übersetzern ist, dass man sehr viele... Kartwelismen sagt man dazu, in die Übersetzung reinbringt - unbewusst - und die Übersetzungen dadurch unnatürlich klingen, weil die georgische Sprache eine ganz andere Struktur hat."
Kartwelismen, von "kartuli", was soviel bedeutet wie georgisch. So schleichen sich in manche deutsche Übersetzungen georgische Satzstrukturen und Wendungen ein.
"Georgisch ist sehr emotional: Man könnte wahrscheinlich die georgische Literatur viel einfacher ins Persische oder ins Türkische übersetzen - oder umgekehrt. Es gibt zum Beispiel Übersetzungen von Pamuk ins Georgische, die sehr gut sind, weil einfach die Mentalität oder - wie soll ich sagen? - die Stimmung sehr ähnlich ist, als wenn das jetzt ins Englische, Deutsche oder Französische übersetzt wird."
In Georgien treffen die Weltreligionen Judentum, Islam und Christentum auf engstem Raum aufeinander. Doch der jahrzehntelange ideologische Einfluss der Sowjetunion hat eine ganze Generation der Kirche entzogen. Der in Schulen und Parteiprogrammen gepredigte Atheismus war ein Widerspruch zur traditionellen Verbundenheit der Menschen mit der christlichen Religion. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gehört heute der georgisch-orthodoxen Kirche an. Sie ist seit der Unabhängigkeit 1991 die dominierende Konfession im Land – mehr als 80 Prozent der georgischen Bevölkerung bekennen sich zu ihr. 10 Prozent im Land sind Muslime und mit nur knapp 1 Prozent bilden die Katholiken eine religiöse Minderheit.
"Ich lebe für den Funk – das ist meine Religion"
Unter den jungen Georgiern ist in den letzten Jahren der georgisch-orthodoxe Glaube fast Lifestyle geworden. Sie praktizieren religiöse Bräuche ganz offensichtlich: Wenn sie an einer Kirche vorbeigehen, halten sie kurz inne und bekreuzigen sich. Auch in der Kunst- und Kulturszene spiegelt sich die allgegenwärtige Präsenz der Religion – wenn auch nicht immer auf traditionelle Weise. Ich besuche den 1985 geborenen Hip-Hop-Musiker Max Machaidze in seinem winzigen Hinterhof-Apartment.
Ja, es wirkt ein wenig wie bei Harry Potter: Verwinkelte Gänge führen zu der Einzimmer-Wohnung, in der sich unzählige kleine Relikte aus dem urbanen Alltag befinden. Teile von Strommasten und Betonsockel, geschweißte Metalldreiecke. An den Wänden hängen Skateboards ohne Rollen, dafür kunstvoll verziert mit mystischen Runen aus der Fantasie von Max Machaidze.
"Man kann das als Kunst betrachten, wie manche Menschen das tun, aber ich setzte mich mit alten Religionen, ritueller Musik und Magie auseinander. Ich versuche diese Dinge mit der heutigen urbanen Realität zu verknüpfen. Deswegen male ich Runen, magische Runen, und ich bin fasziniert von Hip-Hop und Skatebording. Diese Sachen versuche ich in meiner Arbeit zu verbinden: die spirituelle Welt vergangener Jahrhunderte mit der heutigen Realität in Metropolen, voller Beton und Müll.
Wenn jemand Skateboard fährt, wird er Teil der Architektur. Für mich ist das eine der interessantesten Sachen, es ist nicht wirklich ein Sport, für mich ist es Architektur und Fashion und auch etwas Spirituelles - ein Körper auf einem Brett. Deswegen gestalte ich die Form der Skateboards wie einen Altar im Tempel. So trägst du deinen Tempel immer mit dir herum."
Wie eine Mischung aus Kriegsschildern und ikonografischen Holzbildern sehen sie aus, die Decks der Skateboards, die in der Wohnung von Max Machaidze an der Wand hängen. In Tiflis ist Skaten dann doch mehr ein westliches Lifestyle-Symbol. In den Straßen habe ich nur wenige Skater gesehen. Kein Wunder bei der unebenen bis löchrigen Teerdecke.
"Dangerous", gefährlich ist es in den Straßen von Tiflis seit dem Rundumschlag von Michail Saakaschwili im Drogen-, Verbrecher-, und Korruptionsmilieu nicht mehr. Und doch ist das Leben für Individualisten wie Max Machaidze alles andere als einfach. Wer mit seinen Denk- und Lebensweisen von der Norm abweicht, wird von Traditionalisten angefeindet.
"Die sind einfach Neophobiker, sie haben Angst vor dem Neuen. Dann kommt noch die georgische Tradition dazu. Die Leute wissen gar nicht, dass Könige und Priester Ohrringe getragen haben vor langer Zeit. Heute glauben sie, dass es nicht zur Tradition gehört. Du musst normale, alltägliche Kleidung tragen. Dann sind sie hier auch noch ziemlich homophob: Wenn du nicht in die Gesellschaft passt, glauben sie, dass du homosexuell bist. Und Homosexuelle werden ziemlich unterdrückt in diesem Land. Ich habe einige schwule Freunde und die haben auch wegen ihrer Art sich zu kleiden große Probleme."
Autor: "Du hast eine Halskette aus Holzperlen. Alles klimpert ein bisschen bei dir. Die Ohrringe..."
"Ja, das sind Gebetsperlen. Wobei ich mich nicht einer Religion zugehörig fühle. Ich interessiere mich für das Weltall, Cyberpunk, Comic und alles Mögliche. Eines Tages habe ich mir gedacht, dass die einzige Religion für mich der Funk ist - Hip-Hop, Funk und Jazz. Das sind nicht nur Musikgenres: Jazz, Blues, Funk. Da ist dieser Track, in dem es heißt: ´Ich lebe für den Funk, ich sterbe mit dem Funk, ich esse mit dem Funk, ich schlafe mit dem Funk.' Für mich ist das in gewisser Weise wie eine Religion. Du kannst alles Funk nennen. Es ist ein subjektiver Begriff. Mein Vater hat mir Wu-Tang-Clan vorgespielt als ich sieben Jahre alt war. Damit habe ich angefangen, und so hat sich langsam mein Musikgeschmack entwickelt. Mit neun Jahren habe ich angefangen, selber Musik zu machen und Texte zu schreiben. Die letzten zehn Jahre habe ich also Musik produziert - hauptsächlich Hip-Hop. Doch heute ist es vielleicht nicht mehr Hip-Hop, es ist irgendwie abstrakter. Seit zehn Jahren arbeite ich mit einer Software, die Fruity Loops heißt. Mit der bin ich sehr vertraut. Die ist ein Teil meines Organismus. Ich hatte nie Musikunterricht. Ich habe mir alles selbst beigebracht. Ich kann dir das mal zeigen...Die georgische Sprache, die Wörter, sind so kompliziert. Ein Wort klingt schon wie Poesie. Ich versuche, solche schönen Wörter zu finden, auch im Englischen. Aber Georgisch gefällt mir besser."
Im Rhythmus des Regens
Alles im Leben von Max Machaidze ist von einer eigenartigen Spiritualität geprägt. Mit seiner Kunst und Musik schafft er sich irgendwie eine eigene Religion - jenseits der allgegenwärtigen georgisch-orthodoxen Kirche. Mit dem Kopf in einem Universum aus Trips und Beats und Funk und Junk, mit beiden Beinen im urbanen Dschungel.
"Das ist der Punkt. Ich liebe die Stadt: Ich liebe die Junkies, ich liebe das ganze Durcheinander der Stadt, ich liebe das Geräusch der Autos und Straßen. Und ich liebe Elektrizität, die Glühbirnen. Ich liebe einfach alles an der Stadt, was die Menschen damit erschaffen haben. Doch irgendwie ist das auch paradox: Ich hasse, was die Menschen der Erde antun, den ganzen Müll und so. Aber wenn du in der Stadt geboren bist, verliebst du dich in sie. Ich könnte nicht ohne den Blick auf große Gebäude leben. Und die Strommasten, die mag ich am liebsten. Komm, ich zeig dir was. Das ist... Ich nenne das ´The Church of Electricity', die Kirche der Elektrizität. Das war ein Teil eines Strommastes."
Max Machaidze lädt Dinge des Tifliser Alltags mit seinen spirituellen Gedanken auf und macht sie zur Kunst. Alle Gegenstände in seiner Wohnung sind fein säuberlich geordnet, das Chaos bleibt draußen auf den Straßen und wird aus sicherer Distanz beobachtet, nein belauscht – sogar der Regen in den Straßen von Tiflis!
"Du kannst Regen die ganze Nacht zuhören, wie er in einem chaotischen Rhythmus prasselt. Das ist nicht nervig. Du gewöhnst dich an diesen monotonen, unregelmäßigen Rhythmus und meditierst dazu."
Der Regen, der den Rhythmus klopft, das ist für Max Machaidze der Sound von Tiflis. In seinem abstrakten Hip-Hop läuft dabei alles zusammen: Natur und Naturwissenschaften, georgische Tradition und westliche Moderne, Mystik und Spiritualität. Ich bin schwer beeindruckt von diesem allumfassenden Kunstentwurf eines gerade mal 20-jährigen Georgiers. Auf dem Weg durch die regennassen Gassen der Altstadt von Tiflis klingt er noch nach, der warme, berauschend abstrakte Hip-Hop von Max Machaidze.
Neue Geschichten von jungen Filmemachern
Meine nächste Verabredung habe ich mit Simon Groß, einem deutschen Filmemacher, der in Berlin seine georgische Frau, die Drehbuchautorin Nana Ekvtimishvili, kennenlernte. Seit 2008 leben sie hier in Tiflis, arbeiten an Kinofilmen und haben mit selbst gemachtem Speiseeis eine echte Marktlücke entdeckt. In einer seiner Eisdielen treffe ich den Filme- und Eismacher - natürlich auf eine Kugel Eis.
"Nana und ich haben es früher immer geliebt, als wir noch in Berlin waren, spazieren zu gehen im Sommer, und Eis zu essen. Einfach so. Das war für uns immer ein Ritual im Sommer. Und wir haben uns dann immer unterhalten über Geschichten, über Film und so. Und dann waren wir hier und es ging nicht mehr, weil: Es gab das Eis nicht. Das hat uns einfach gefehlt. Wir sind immer noch spazieren gegangen und haben festgestellt: Es fehlt irgendwas. Und daraus ist dann die Idee entstanden, mit der Familie zusammen das anzufangen."
"Luca Polare" nennen die beiden Filmemacher ihre Eisdielen in Tiflis – vier Filialen haben sie seit 2008 eröffnet. Qualität, die man schmeckt: Früchte, Milch und Sahne aus dem georgischen Umland. Doch eigentlich arbeitet der 1976 in Berlin geborene Simon Groß ja an Spielfilmen. 2013 hat er mit seiner Frau Nana Ekvtimishvili "Die langen hellen Tage" ins Kino gebracht – das Drama wurde gefeiert auf internationalen Filmfestivals.
"Der Film spielt in den 90er Jahren und hat natürlich viel mit meiner Frau, mit Nanas Geschichte, zu tun und mit ihren Erlebnissen als Jugendliche. Es geht um zwei Mädchen, 13 und 14 Jahre alt, die Anfang der 90er Jahre in Tiflis aufwachsen. Und es war ja eben nach der Sowjetunion eine Umbruch-Zeit, wo wirkliches Chaos auf der Straße war, wo auch viel Gewalt da war, also wo eigentlich Anarchie geherrscht hat und in dieser schwierigen Zeit diese beiden Mädchen heran wachsen und es eben darum geht wie die sich durchschlagen und erwachsen werden. Zum anderen eben auch die eine Freundin, die mit 14 heiratet oder verheiratet wird - je nachdem wie man das formuliert. Also damals ist es oft passiert, dass Mädchen auch zur Hochzeit entführt wurden. Obwohl dieses Entführt-Werden eher in einem anderen Sinne: Bei Entführung denkt man vielleicht gleich an Männer in schwarzen Masken. Es wurde auch romantisiert, aber es war letztlich ja trotzdem eine Entführung. Dann geht es natürlich auch darum, wie die Freundin darauf reagiert und die beiden Mädchen dieser Zeit und den gesellschaftlichen Problemen, die auf sie einprasseln.
Der georgische Film hatte ja eine große Bedeutung, auch in der Sowjetunion. Das ist ja dann völlig zusammengebrochen. Jetzt in den letzten Jahren, ist einfach wieder mehr entstanden, dass auch eine neue Generation, dass junge Leute wieder anfangen, Filme zu machen, Geschichten zu erzählen. Eben auch Geschichten von damals."
Ähnlich wie in der Literatur werden auch im Film erst zwei, drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion, nach der Unabhängigkeit von Russland, die Traumata aus den 1990er Jahren aufgearbeitet. Nun hat Simon Groß aber als Deutscher auch die Perspektive von außen, und sieht mittlerweile ganz klare Unterschiede zwischen seinem Heimatland und Georgien.
"In Deutschland ist alles geordnet und irgendwie ruhiger. Das ist manchmal einfach so, dass ich dann durchatme, wenn ich in Berlin bin. Hier ist der Stress wirklich die Aktivität und die konkreten Probleme, die zum Stress führen: wie etwa, dass die Leute nicht genug Geld zum Leben haben oder dass sie keine Krankenversicherung haben, oder dass sie Schulden haben und die Schulden nicht bedienen können - das ist hier sehr alltäglich. In Deutschland ist der Stress eher im Kopf: dass die Leute sich Stress machen, dass es darum geht, was du machst, wer du bist, was du verdienst. Das spielt hier nicht so eine Rolle."
Die Hauptstadt hat viele Klänge
Durch die Fensterscheibe der Eisdiele "Luca Polare" schaue ich auf die regennassen Straßen von Tiflis und habe das Gefühl, dass die geflügelten Worte "aus der Not eine Tugend machen" in Georgien eine eigenwilligere, konkretere Bedeutung bekommen. Der Blick aus dem Fenster führt es mir vor Augen: die zusammen gezimmerten Balkon-Anbauten am Wohnhaus gegenüber, die Kunst der Improvisation an einem Loch in der Teerdecke, das mit einem Pappkarton gekennzeichnet ist. Simon Groß möchte mir noch ein altes, baufälliges Haus zeigen, dass er sich gerade mit seiner Frau gekauft hat. Es liegt nur etwa 15 Minuten Autofahrt auf einem Hügel über Tiflis.
Autor: "Ihr wollt da richtig hin ziehen, oder ist das nur eine Ferienwohnung?"
"Ne, wir wollen da hinziehen."
Autor: "Raus aus der Stadt."
"Genau. Wir wohnen hier in einer Mietwohnung. Das ist so unpersönlich. Das haben wir damals gemietet, als wir den Film gemacht haben und wir brauchten einfach was Zentrales. Damals war es auch relativ schwierig, eine gute Wohnung zu finden, wo alles funktioniert. Dann ist hier die Luft einfach auch schlecht, das haben wir auch satt. Das ist gar nicht weit, je nachdem, wo man hin muss. Aber vom Rathaus sind es nur zehn Minuten."
Autor: "Hier wird sehr viel Wert auf hohe Zäune gelegt."
"Ja, hohe Zäune und viel auch noch vergittert. Das ist das Haus. In der Stadt siehst du ja auch noch oft: vergittert bis in den zweiten Stock. Das ist noch aus den 90er Jahren, als es noch notwendig war."
"Das Haus ist aus den 70er-Jahren, von einem Schuster, der hat das selbst gebaut."
Autor: "Ein relativ kleines Haus. Es hat ein bisschen was von einer Finca, mit einer großen Veranda."
"Ja, diese typische georgische Terrasse, die überdacht ist und dann oft mit Wein, der am Geländer hochwächst."
Autor: "Und dann die Hanglage, du siehst halt tatsächlich runter auf die Stadt. Da ist auch noch ein Bach."
"Ja, das ist das Schönste an dem Ganzen, dass hier dieser Bach runter läuft und dann unten in der Stadt rauskommt. Das ist wie so ein Urwald, da gibt es sogar einen kleinen Wasserfall. Das steht hier auf einen Felsen, das geht dann steil runter und dieser Bach läuft über zu einem kleinen Wasserfall."
Das Haus von Simon Groß ist noch eine einzige Baustelle, aber dennoch bekomme ich eine Ahnung davon, was hier entstehen wird: ein Kleinod am Rande des urbanen Treibens. Dieses Grundstück wirkt wie eine Filmkulisse, als ob es sich der Filmemacher Simon Groß ausgedacht hätte. Von seiner Veranda blicken wir in Vogelperspektive über die Altstadt von Tiflis und es ist, als würde die durch den immensen Autoverkehr stark verschmutzte Luft auch die Geräusche dieser Stadt dort unten absorbieren. Hier oben die geordnete Stille, dort unten das laute Chaos. In Georgien empfinde ich das Vertraute so fremd – und das Befremdliche ist so nah. Die Zukunft vermischt sich mit der Vergangenheit, die Geschichte wirkt in die Gegenwart hinein - und jede Zeit hat sein Geräusch.
Der Sound von Tiflis - die georgische Hauptstadt hat viele Klänge. Für mich ist es erst mal das knarzende Metall der vergitterten Fenster und Türen, aber auch das Rascheln der hauchdünnen Plastiktüten, die einem bei jedem Einkauf begegnen: Alles wird doppelt und dreifach in transparente Tüten verpackt - mal farblos, mal mintgrün bis zartrosa. Und da ist dann noch das Miauen der streunenden Katzen, die in den Müllcontainern nach Futter suchen. Und der Klang eines Kofferradios in den Händen einer Marktfrau, die gedankenverloren den Sender sucht:
Es sind subjektive Momentaufnahmen: Klangbilder einer Metropole, Facetten einer urbanen Identität. In meinen Ohren wird der Sound von Tiflis zur melancholischen Klangkulisse, als würde jemand ständig am Rädchen einer mechanischen Uhr an der Zeit drehen - wie in einem Hip-Hop-Track von Max Machaidze. Das Tick-Tick-Tack könnte auch eine Zeitbombe sein - in einem sich ständig veränderndem Land, zwischen Europa-Demokratie und dem übermächtigen Russland als Nachbarn. Die Filmemacher, Literaten und Musiker in Tiflis strotzen jedenfalls nur so vor Tatendrang - sie trotzen der Krisen und Bedrohungen mit Mut und beeindruckender Kreativität.