Attila Hildmann läuft einen Berg hinauf. Das heißt – er läuft nicht nur, er quält zu heroischer Musik seinen gestählten Körper zum Gipfel. Zwischendurch werden Bilder von Umweltzerstörung, Massentierhaltung und hungernden Kindern eingeblendet, dazu sagt eine Weihnachtsmann-Sprecherstimme Sätze wie: "Freiheit ist ein Recht, dass jedem zusteht und nur die wenigsten haben. Freiheit heißt Gesundheit, Beweglichkeit, Mitgefühl, Verantwortung und Zukunft."
Würde da vielleicht auch ein anderer Text passen?
"Wir Vegetarianer wollen, dass alle Menschen Luxus treiben, aber es gibt zweierlei Luxus: einen, der ins Verderben führt, und einen, der die reine, schöne Lebensgestaltung edlern Zielen zuwendet."
Mit Pathos gegen den Massenkonsum
Attila Hildmann ist Veganer, kein Vegetarier, aber abgesehen davon erscheint dieses Zitat von Eduard Baltzer, einem Vorreiter der vegetarischen Ernährung in Deutschland aus dem 19. Jahrhundert, erstaunlich passend zur Aussage des Videos: Edlere Ziele. Verantwortung für den Planeten. Guter Genuss statt schädlichem Massenkonsum.
Schließlich ist Hildmann, der vielleicht bekannteste Veganer Deutschlands, oben angekommen, breitet neben dem Gipfelkreuz stehend die Arme aus wie der segnende Jesus. Die Stimme sagt: "Freiheit ist eine Macht. Die Macht, Dich zu verändern und die ganze Welt zu bewegen."
Auch hier hätte Baltzer Pate stehen können:
"Sich selbst muss der Mensch und leiblich und geistig zugleich erlösen, und dazu untereinander sich freundlich die Hand reichen."
Das Gipfelstürmervideo ist das erste, was auf Attila Hildmanns YouTube-Kanal erscheint. Knapp 30.000 Follower hat er, der sein Geld mit Kochbüchern und veganen Fitnessvideos verdient. Zugegeben: dieses Pathos legt er nicht immer an den Tag. In der Küche ist er einfach der junge, nette Typ. Hat er wirklich soviel mit den hehren Zielen der Gründungsväter des Vegetarismus zu tun, wie hier suggeriert?
Stetige Entwicklung statt Ideologie
Hamburg St. Pauli, ein Café gegenüber der Rindermarkthalle, natürlich mit Soja-Milchkaffeeoption. Thomas Schönberger, Vorsitzender des Vegetarierbundes in Deutschland, nippt an seinem Minztee:
"Ich hatte auch mal so eine Phase vielleicht sogar wir als Verband, doch, ganz sicher, dass man mit einer politischen Aussage oder Ausrichtung so eine abschließende Weltbeglückungsideologie gefunden hat und wenn das alle nur freundlicher Weise umsetzen, dann haben wir's geschafft so ungefähr, das gibt es ja gesellschaftlich nicht, so abschließende Aussagen sind ja eher heute gefährlich, weil es ist immer eine Entwicklung, so die Zeit der großen Ideologien, die abschließend Beglückung versprechen ist ja hoffentlich auch zumindest bei uns vorbei und da sind wir als Verband von weg, aber es gehört zu unserer Geschichte."
Ursprünge in der Aufklärung und im Buddhismus
Tatsächlich war das, was Eduard Baltzer, den Pfarrersohn aus Mitteldeutschland zur fleischlosen Ernährung brachte, weniger die Umweltzerstörung oder die gesunde Ernährung. Seine Motivation kam aus der europäischen Aufklärung, von Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau; die Quellen, auf die sich wenig später auch die verwandte Lebensreformbewegung speiste. Kant hatte die These vertreten, Tiere zu töten verrohe den Menschen; Rousseau behauptete, Fleischesser seien grausamer als Vegetarier.
Es ging Eduard Baltzer und seinen Weggefährten also darum, die Menschen friedlicher zu machen, um Mäßigung auch der fleischlichen Lust, um Verzicht zur Überwindung der niederen Triebe. Damit lehnten sich die Vegetarianer, wie sie damals noch genannt wurden, sogar an noch viel ältere Traditionen an. Zum Beispiel am Buddhismus: Sein Bestreben, Leid zu vermeiden, lässt viele Gläubige bis heute zu fleischloser Ernährung greifen.
Oder die Auserwählten bei den Manichäern im antiken Europa und Vorderasien: die sogenannten Electen ernährten sich ausschließlich pflanzlich, weil es die Theorie gab, dass ihre Verdauung dazu in der Lage war, die in pflanzlicher Nahrung gefangenen Lichtpartikel göttlichen Ursprungs zu befreien. Fleisch galt hingegen als schmutzig und dunkel.
Und auch andere christliche Traditionen glaubten fest daran, dass Essen an sich, aber vor allem Fleisch die niederen Triebe befördere, die den Geist von Gott entfernten. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts war von diesen stark religiösen Bezügen nicht viel übrig. Beziehungsweise hatten sie sich säkularisiert, liefen gleich einem Rauschen im Hintergrund mit, wenn Eduard Baltzer etwa vom Weltfrieden träumte:
"So wird der Vegetarismus, wenn er herrschend würde, nicht nur die Todesstrafe, nein die Waffen des Kriegsgottes beseitigen in einer glücklicheren Welt!"
So Baltzer in einem Vortrag, 1911 vom Vegetarierbund gedruckt herausgegeben. An Versittlichung durch Fleischverzicht glaubt heute kaum noch jemand, sagt Thomas Schönberger:
"Dass eine vegetarisch-vegane Ernährung jetzt zu edleren, reineren, emphatischeren, bewussteren Menschen führt, das halt ich für - ich sag's mal deutlich - Unsinn. Es gibt auch Menschen, die sich vernünftig ernähren und vom politischen und ideologischen her Dinge vertreten, die hochproblematisch sind, also da gibt's für mich keinen Zusammenhang."
Verantwortung gegenüber Tier und Umwelt
Also keine Erlösung vom Bösen. Tendenziell gesünder ist die vegetarisch-vegane Ernährung seiner Ansicht nach aber schon. Und dann wäre da ja noch die Tierethik. Die spielte für Eduard Baltzer und viele seiner Weggefährten damals zwar auch eine Rolle, aber eine untergeordnete. Das ist heute anders, sagt Konstantinos Tsilimekis von der Albert-Schweitzer-Stiftung für unsere Mitwelt:
"Es ist heute längst nicht mehr so in der Tierethik oder im Tierrecht, dass es darum geht, ich ernähre mich jetzt anders, damit ich ein besserer Mensch werde. Das war im 19 Jahrhundert noch so. Da ging es sehr wohl darum, ein neues Menschenbild zu kreieren. Man argumentiert nicht nur in diesem Sinne, dass man die Tiere schonen soll, sondern einfach für die Tiere selbst. Also Tiere haben einen Eigenwert und deswegen soll man Tiere auch anders behandeln und nicht einfach nur weil man dann selber ein besserer Mensch wird. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied."
Und nicht nur die Tiere; Vegetarier und Veganer ziehen heute persönliche Konsequenzen aus Klimawandel und Umweltzerstörung. Die Zunahme am Fleischkonsum weltweit hat erwiesenermaßen Folgen: Treibhausgase durch Viehherden, abgeholzte Wälder für Weideland und Verschwendung von wertvoller Anbaufläche für Tierfutter, Wasserverschmutzung durch Gülle und Antibiotika, Überfischung. Für Thomas Schönberger folgt daraus klar:
"Umso weniger tierische Produkte, umso weniger Inanspruchnahme der Ressourcen, die für uns wichtig sind, also Land, Wasser, Energie, Klimabeeinträchtigung durch bestimmte Klimagase, das ist schon ein starkes Argument das wir auch heute weiter vertreten, zu sagen, möglichst wenig tierische Produkte, das tut dem Klima gut und das tut der Umwelt gut."
Unschuld versprechen die Smoothies
Dabei müssten eigentlich nicht alle Menschen Vegetarier oder Veganer werden. Eine Ernährung mit wenig Fleisch, also laut dem Word Wildlife Fond WWF etwa 450 Gramm pro Woche, würde ausreichen. Menschen, die aus Umweltgründen auf Fleisch verzichten, überkompensieren also freiwillig die Völlerei der anderen, wenn ihnen nicht ohnehin die Tiere leid tun.
Geht es heute also gar weniger darum, ein besserer Mensch zu werden? Die Vermarktungsstrategien von veganen Idolen wie Attila Hildmann und von Lebensmittelkonzernen sprechen eine andere Sprache.
Man gehe zum Beispiel in einen gut sortierten Supermarkt in einem Hamburger Hipsterviertel: Da gibt es unschuldige Innocent-Smoothies mit Heiligenschein und true fruits, also wahres Obst. In einer kompletten Abteilung mit dem Titel "Superfoods" werden glutenfreie Nudeln als "goodles", also gute Nudeln vertrieben und vegane Fleischersatzprodukte tragen Aufschriften wie 100 Prozent plant goodness.
Das moderne Heilsversprechen von Selbstoptimierung durch Ernährung und Sport hat offensichtlich die pflanzenbasierte Schiene für sich entdeckt und bedient sich dabei begrifflich freimütig aus den Tiefen der europäischen Geistesgeschichte. Konstantinos Tsilimekis sieht das durchaus kritisch, auch wenn er sich natürlich freut, dass vegane Einkäufer zunehmend leichter auf ihre Kosten kommen:
"Wenn Sie mal schauen, der aktuelle Werteindex aus dem Jahr 2016, auf jeden Fall hat da die Gesundheit als höchsten Wert die Freiheit abgelöst. Und das ist etwas was insgesamt in der Gesellschaft passiert. Gesundheit ist ein Riesenthema. Selbstverständliche gibt es dann da eben auch die veganen Abzweigungen, aber eben nicht nur. Irritierend find ich es dennoch, dass über diesen sehr selbstbezogenen, individualistischen Wert Gesundheit, die vegetarische Schiene und die Vegane Schiene meist wieder voran gebracht werden können als würde man nur rein tierethisch argumentieren."
Teil der weltverbessernden Avantgarde
Womit wir wieder bei Attila Hildmann wären, dem veganen Weltverbesserer mit dem Superheldenkörper. Er schreibt auf seiner Webseite, er sei aus gesundheitlichen Gründen Vegetarier und dann Veganer geworden, nachdem sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben war.
Das Rekurrieren auf Umweltzerstörung und Tierleid scheint daher sekundär, hilft aber enorm bei der positiven Selbstinszenierung; unerlässlich für jemanden, der Veganer sein zum Beruf gemacht hat.
Allen Vegetariern und Veganerinnen durch Altruismus maskierten Egozentrismus vorzuwerfen, geht natürlich zu weit. Acht Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung machen sie derzeit aus, das sind sechseinhalb Millionen Menschen, denen kann man keine einheitliche Motivlage unterstellen.
Klar ist aber, dass alle sich trotz ihrer ganz individuellen Gründe in einem geistesgeschichtlichen Kontext bewegen, der als Unterton in allen modernen Ausformungen der vegan-vegetarischen Lebensweise mitschwingt. Nur deswegen kann ein veganes Idol heute auf einen Berg steigen und sich überzeugend als Teil einer weltverbessernden Avantgarde darstellen – und sich vielleicht wirklich als solcher verstehen.