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Geübte Anfänger

Schnee produzierende Eskimos, fliegende Bücher und Eierspanisch sprechende Inselbewohner - im Kinderbuch ist alles möglich, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Das beweisen einige Bücher von Schriftstellern, die bislang vor allem bei Erwachsenen erfolgreich waren. Jetzt entdecken sie die jungen Leser für sich - auch mit so schweren Themen wie Altersdemenz.

Von Florian Felix Weyh |
    Manche Schriftsteller müssen schreiben. Andere tun's, ohne groß zu überlegen, und dritte – ja die zieren sich, bevor sie zur Feder greifen:

    Lehr: "Ich wollt's nicht machen!"

    Koneffke: "Ich hab sehr lange an diesen Stoff gedacht und hatte auch schon seit fünf Jahren, glaub ich, einzelne Kapitel davon geschrieben."

    Schwerdtfeger: "Der tiefere Anlass ist natürlich, dass ich das gerne ausprobieren wollte."

    Lehr: "Ich dachte immer nein, das ist ja das, was man machen muss, also man muss dann irgendwann mal als Schriftsteller."

    Koneffke: "Tatsächlich war das dann jetzt so, dass ein Lektor gesagt hat, jetzt müssen wir endlich mal diese Kapitel, die er kannte, jetzt musst du dieses Buch endlich mal schreiben! Und da ich dann Zeit hatte und auch das Kleingeld, um mich zurückzuziehen, hatte ich dann endlich die Zeit dazu."

    Schwerdtfeger: "Eigentlich wollte ich zuerst mal ein Märchen schreiben, weil ich sowieso gerne Märchen schreibe, oder auch meine Geschichten - ich hab ja auch einen Erzählband für Erwachsene eigentlich, der aber auch von Jugendlichen ganz oft gelesen wird, geschrieben -, da war meine Inspiration auch Märchen."

    Lehr: "Ich fing aber doch aus dem Erzählen heraus an, dann fing ich an, ein kleines Bilderbuch zu schreiben, Text für ein Bilderbuch. Dann hab ich unsinnige Gedichte geschrieben für meine Tochter. Und irgendwann dachte ich: Eigentlich bist du Romancier! Und wenn du was schreibst, dann schreib halt verdammt noch mal auch einen Roman für Kinder, und meine Tochter war dann so dahinterher, nachdem ich zwei Seiten geschrieben hatte, hat sie mich dann reingezogen. Hat gesagt: Und weiter, und weiter, und weiter! Und dann dachte ich: Okay, und so stolperte ich Kapitel für Kapitel durch den Roman."

    Sie sind Debütanten und alte Hasen zugleich, die Schriftsteller Thomas Lehr, Jan Koneffke und Malin Schwerdtfeger. Nicht nur aus einem Buch besteht ihr Oeuvre, seit Jahren legen sie regelmäßig Romane und Erzählungen für Erwachsene vor. Kinder und Jugendliche standen bislang nicht im Fokus ihres Schaffens, doch das hat sich seit diesem Jahr geändert - auffallenderweise nicht als punktuelles Phänomen, sondern beinahe in Gruppenstärke. Denn auch Juli Zeh und Ingo Schulze debütierten diesen Herbst mit Werken für junge Leser.

    Tun sie das nur, weil sie – wie die drei eben Gehörten – selbst Kinder zu Hause haben, die energisch Teilhabe am mütterlichen oder väterlichen Beruf einfordern? Die Vermutung liegt nahe; und richtig: Bei Thomas Lehr kann dessen heute achtjährige Tochter Lilli fast schon die Ko-Autorenschaft beanspruchen, zumindest eine Ideenprämie für sich reklamieren:

    "Meine Tochter hat die Angewohnheit, von mir Geschichten einzufordern, während wir spazieren gehen. Und dann hab ich so eine Geschichte erzählt mit einer Piratentochter, weil sie wollte einen weiblichen Helden, die auf einen Fels steigt. Und ja, das war der Kristallisationspunkt des Romans."

    Der Fels ist einer jener berühmten Steinköpfe auf der Osterinsel. Doch über den Inhalt des prallvoll mit Überraschungen gespickten Kinderromans "Tixi Tigerhai", dessen Deckblatt ein töchterliches Motto ziert – "Eine unheimliche Geschichte braucht ein erfahrungsreiches Ende." Lilli - wollen wir später reden.

    Interessant ist zunächst, wie es Vater Lehr gelang, aus den kindlichen Alltagserzählforderungen, wie sie wohl alle Eltern kennen, ein Schreibprojekt zu machen. Denn selbst einen Formulierungs- und Phantasievorsprung unterstellt, produzieren auch Profischriftsteller nicht mit jedem dahingesprochenen Satz druckbare Literatur.

    Lehr: "Also ich musste das dann richtig anfassen, so etwa nachdem ich drei, vier Kapitel aus Jux und Tollerei geschrieben hatte und einfach so zum Vorlesen, merkte ich, das braucht jetzt eine Struktur. Und ich muss da eigentlich über die Dramaturgie, auch über die Figuren jetzt nachdenken. Ähnlich wie ich das bei einem Roman für Erwachsene mache. Und das hab ich dann auch nicht minder ernst genommen! Anders kann man auch so ein 300-seitiges Kinderbuch nicht schreiben, wenn es spannend sein soll. Es ist einfacher von der Sprache her natürlich, und insofern kann ich's nebenbei machen. Aber was die Dramaturgie angeht und die Führung der Leitmotive und die Figuren, muss man doch eigentlich ähnlich viel nachdenken wie bei einem Erwachsenenbuch."

    "Normalerweise fangen Autoren, Autorinnen ja gerne an, Kinderbücher zu schreiben, wenn sie ein Kind gekriegt haben - ist aber auch in Ordnung."

    Sagt Malin Schwerdtfeger und lacht, denn ihr Sohn ist noch nicht mal ein Jahr alt. "Die Kürbiskönigin", das kinderliterarische Debüt der Autorin, wird also noch ein bisschen auf den familieninternen Leser warten müssen. Dann aber wird er gleich in eine sehr ferne Welt abtauchen:

    "Das kommt daher, dass das eine Geschichte oder Legende ist, die aus Japan kommt, über diesen Zauberer, Abe no Seimei heißt der. Und den gab es tatsächlich, der hat tatsächlich gelebt, und es gibt aber auch jede Menge Sagen und Legenden in Japan um den. Es gibt sogar eine Manga-Serie im Fernsehen mit 100 Millionen Folgen ungefähr. Also in Japan ist der ganz bekannt. Und ich hab mir einfach erlaubt, auch eine frei erfundene Geschichte über diesen real existierenden Zauberer zu erzählen."

    Der Garten des Zauberers sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Garten. Doch das Haus des Zauberers hatte keine Türen und keine Wände! Genau genommen war es nichts als ein Dach, das von Hunderten geschnitzter Holzsäulen getragen wurde. Hiro trat unter das Dach und lief eine Weile zwischen den Säulen umher. Er lief und lief, und plötzlich streifte etwas seine Wange. Einen Augenblick später war Hiro umgeben von Rascheln und Flattern, von etwas, das ein Schwärm weißer Vögel mit papierenen Flügeln zu sein schien. Hiro schlug verzweifelt mit den Armen und schrie wie am Spieß, bis endlich jemand dreimal in die Hände klatschte und das Rascheln und Flattern erstarb. Vor Hiro stand der Zauberer. Und nun erkannte Hiro, dass es keine Vögel waren, die ihn umschwirrt hatten, sondern Bücher, Hunderte von Büchern, die aufgeregt mit den Seiten schlugen und jetzt in respektvoller Entfernung in der Luft schwebten.
    "Was macht Ihr da?", fragte Hiro den Zauberer.
    "Ich lese", sagte der Zauberer. "Es ist wirklich angenehm, wenn man seine Hände dabei nicht benutzen muss."


    "Ich hab als Kind auch nicht gerne realitätsbezogene Geschichten gelesen. Ich hab gerne Phantasiegeschichten gelesen. Ich lese immer noch gerne Fantasy. Also ich les gerne von anderen Welten und Ländern, die es gar nicht gibt. Deswegen lag das für mich nahe. Aber ich weiß, es gibt natürlich im Kinderbuchbereich eine große Fantasymode. Manchmal, so in älteren Altersstufen findet man kaum noch Bücher, die nicht Fantasy sind. Aber für die Kleinen sieht das wieder anders aus, da hat man ja mehr so Alltagsgeschichten. Und das ist im Grunde eine Fantasygeschichte, die ein bisschen so geschrieben ist, dass man sie mit vier, fünf, sechs bis acht auch gut verstehen kann."

    "Die Kürbiskönigin" ist ein Buch voller "Gemüsologie", einem fanatisch jedem Grünzeug zugetanen König, seinem unglücklich verliebten Beamten Hiro und seltsamen Geräuschen im größten Kürbis aller Zeiten. Wie der Zauberer Abu no Seimei ins Spiel kommt und welches Geheimnis der Kürbis birgt, sei nicht verraten – wohl aber, dass zur Entrückung des Stoffes in phantastische Gefilde auch die ostasiatisch inspirierten Bilder von Isabel Pin beitragen.

    Von der Länge her steht "Die Kürbiskönigin" zwischen Bilderbuch und Erzählung, nicht mehr so ganz das eine, noch nicht so ganz das andere. Malin Schwerdtfeger, auch sonst im Buchgeschäft tätig, weiß um die Schwierigkeiten, dafür Interessenten zu finden:

    "Es gibt ja auch viele Bilderbücher, die ganz eindeutig für Erwachsene geschrieben sind, also, wo die Illustrationskunst so abstrakt ist, dass ein Kind einfach darüber wegsieht oder das auch gar nicht versteht, weil die Geschichte so philosophisch ist. Ich bin ja auch Buchhändlerin, da merke ich das auch. Ich kenne eben viele Bilderbücher und dann merkt man: Klar, die kannst du gar nicht in die Kinderbuchecke stellen, das muss man gleich der 50plus-Generation verkaufen."

    Wo die Kategorien schwanken, ist das Verkaufen schwer – aber Autoren schreiben nun mal nicht in vorgegebene Kategorien hinein. Auch die Erzählung "Im Land der Menschen" von Juli Zeh fällt mit 75 Seiten schmal aus, und die Illustrationen von Wolfgang Nocke sprechen am ehesten die 40plus-Generation an, denn sie sind im psychedelischen 70er-Jahre-Popartstil gehalten, grellbunt und mit verlaufenden Formen.

    Zwar phantastisch, aber ganz im Gegensatz dazu auf Weiß fixiert, kommt der Inhalt daher. Es geht um den Jungen Robs, der nichts mehr liebt als Winter und Schnee und darum zu den Eskimos aufbricht. Selbstredend gelangt er nie in den hohen Norden, doch trifft er vor den Toren seiner Heimatstadt das mythische Eskimomädchen Nitta, die ihm das Geheimnis der Winterwerdung enthüllt:

    "Bei euch kennt sich niemand mehr mit der Kälte aus. Deshalb braucht ihr uns."
    Robs blieb stehen.
    "Soll das heißen, ihr macht den Winter?", fragte er ungläubig.
    Nitta fasste ihn am Ärmel und zog ihn weiter den Weg entlang.
    "Um genau zu sein", sagte sie, "hier in dieser Stadt mache ich ihn."
    Fast wäre Robs vor Staunen der Mund aufgeklappt.
    "Und warum du?", fragte er.
    "Die Erwachsenen haben andere Pflichten. Sie müssen die Familien ernähren und das Eis bewahren. Deshalb schicken sie jedes Jahr die Kinder in den Süden. Jedes in eine andere Region." (...)
    "Und wie wird der Winter gemacht?", fragte er. ( ... )
    Robs wollte wieder stehen bleiben, aber sie zog ihn am Arm.
    "Komm weiter. Ich werde es dir erklären." Während sie wieder nebeneinander gingen, überlegte Nitta eine Weile.
    "Also", sagte sie schließlich. "Ich habe dir ja erzählt, dass mein Volk das Eis auf seiner Flucht mit sich genommen hat. Wir tragen es in uns. Das Wintermachen funktioniert so: Ich komme hierher, und alles, was ich tun muss, ist schlafen ..." Ihre Stimme wurde leiser. "... Und dabei von zu Hause träumen."


    Wie Malin Schwerdtfeger nutzt auch Juli Zeh ihr erstes Kinderbuch zur Flucht aus der realistischen Romanwelt der Erwachsenenbelletristik. Beide Debüts ähneln sich in ihrer fabulösen Stimmung, als hätten sich die Autorinnen abgesprochen:

    "Die Eskimogeschichte könnte auch von mir sein. Das ist auch ein Volk, wo ich am liebsten mein nächstes Buch dann drüber schreiben würde. Und ich glaube, es gibt Themen und Faszinationen, die man vielleicht gemeinsam hat, ohne da jemals drüber sprechen zu müssen, wo man so kleine Verwandtschaften fühlen kann."

    Wenn man Thomas Lehrs "Tixi Tigerhai" wegen seiner überbordenden phantastischen Einfälle mit dazuzählt –

    "Ein Freund fragte mich mal, was wird denn das für eine Art von Kinderbuch? Und dann sagte ich, naja, so eine Mischung aus Pippi Langstrumpf, Alice im Wunderland und James Bond."

    - dann ist es schon auffallend, wie sehr Belletristik für Kinder die strengen Erwachsenenautoren zum realitätserwehrenden Schreiben verlockt. Eine deutliche Ausnahme davon macht freilich Jan Koneffke. Er schlägt bei seinem Jugendroman "Die Sache mit Zwille" den zweiten, auch nicht ganz fern liegenden Weg ein, sich den jungen Lesern von heute über die Erinnerung an die eigene Vergangenheit vor vierzig Jahren zu empfehlen:

    Vater war ein Hotelier mit Leib und Seele. Von sechs Uhr früh bis Mitternacht hetzte er mit rotem Kopf von Stockwerk zu Stockwerk, scheuchte Kellner und Zimmerfrauen, telefonierte in seinem verqualmten Kabuff mit Elektrikern, Schreinern und Installateuren oder beriet sich mit Kalle, unserem Chefkoch, wie viele Forellen und wie viele Kilogramm Wildfleisch bestellt werden mussten. Freie Stunden hatte er nie. Dauernd musste Vater seinen Gästen mit Ratschlägen dienen. Er trat als Seelsorger, Automechaniker, Fußpilzexperte und Wetterfrosch auf. Und wenn ihm ausnahmsweise niemand das Ohr abschwatzte, war es sein Einnahmen- und Ausgabenbuch, das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Ständig holte er kleine Pakete mit Geldscheinen aus seinem Stahltresor in der Wand und hockte sich vor seine Rechenmaschine. Vaters Lebenszweck war sein Hotel. Bisweilen erfreute er sich an Musik, ging auf die Jagd oder mit unserem Bobby spazieren. Zu anderen Dingen hatte er keine Zeit. Und mit seiner Hotelleidenschaft hatte er vor einer Ewigkeit Mutter vertrieben. Mutter lebte im Ausland, allerdings nicht weit entfernt, auf der anderen Seite des Sees in der Schweiz.

    Dort, am Bodensee, ist Jan Koneffke nicht aufgewachsen, und sein Vater besaß auch kein Hotel. Aber diese Zeit, Ende der 60er-Jahre, hat er im Alter seines Protagonisten Flo miterlebt und schildert sie mit fotografischer Genauigkeit. Vor allem die Abwesenheit bestimmter, vertrauter Utensilien markiert die Distanz zum heutigen Leben. Kein Computer steht im Büro des Vaters, sondern eine mechanische Rechenmaschine, und das größte Statussymbol pubertierender Jugendlicher ist nicht die Spielkonsole, sondern das Moped.

    Eher unfreiwillig wird der zwölfjährige Flo Mitglied einer Bande, deren Streiche sich exakt auf der Grenzlinie zwischen Dummheit und Grausamkeit bewegen. Zu seinem Glück lernt er jedoch auch den Außenseiter Zwille kennen, der den festgefügten Rahmen der süddeutschen Kleinstadt sprengt, gilt er den meisten doch als "Gammler" – ein Wort, das heutige Jugendliche vermutlich nur vom Hörensagen kennen:

    "Den ganzen Hintergrund muss man nicht rezipieren. Es gibt sicher Dinge darin, die für den einen mehr, für den anderen weniger fremd klingen und fremd sind natürlich auch. Aber ich hab die Erfahrung selbst als Kind und Jugendlicher gemacht, wenn ich gelesen habe: Ich musste nicht alles verstehen. Und dann aber trotzdem, es bleibt vielleicht was hängen, und dann fragt man irgendwann mal: Was war denn das? Was bedeutet das? Berlin? Barrikaden? Warum? Warum will der da unbedingt nach Berlin und Barrikaden bauen und frei sein und so weiter? Und selbst wenn das jetzt nicht sofort klar wird, glaube ich, dass das einen Jugendlichen, der das Buch liest, nicht stört, sondern dass er dann vielleicht sich irgendwann mal informiert."

    Einerseits ist Zwille ein klassischer Provinzrebell dieser Jahre, träumt vom Aufbruch in die Szenehauptstadt Berlin, wo Wohngemeinschaften gegründet werden und sich aller Alltagszwang verflüchtigt. Andererseits widmet er sich aber mit großem Verständnis dem jüngeren Flo und offenbart ihm sogar seine vermeintlich schwache, in Wirklichkeit aber besonders starke Seite. Er lebt mit seiner Mutter zusammen, und der geht es nicht gut.

    "Es ging mir da natürlich darum, diesen Zwille in seiner ganzen Komplexheit darzustellen, der ja so raubeinig wirkt und gleichzeitig aber eben sehr zart ist und vor allem eben eigentlich Einiges zu schultern hat mit seiner kranken Mutter, die er pflegen muss und die er eben auch sehr liebevoll pflegt."

    Zwille erscheint als Vorläufer des späteren Zivildienstleistenden der 70er- und 80er-Jahre, der, langhaarig auf optische Distanz bedacht, seine Umwelt erschreckt, im Inneren aber dem Ideal des verantwortungsvollen Staatsbürgers ziemlich nahe kommt. In dieser Hinsicht löst Jan Koneffkes Jugendroman zwei Forderungen ein: Er ist als klassisches Jungenabenteuerbuch spannend bis zur letzten Zeile – und zugleich als Wegweiser ins Erwachsenenleben tauglich. Für den Autor kein Spagat, sieht er ohnehin nur wenige Unterschiede zu seiner bisherigen Leserschaft:

    "Es gibt den Unterschied, dass es in den Erwachsenenbüchern meistens sehr viele verschiedene Erzählstimmen gibt. Also in "Eine Liebe am Tiber" zum Beispiel, meinem vorletzten Roman, erzählt ein Kind, und dann gleichzeitig erinnert es sich als Erwachsener an seine Kindheit. Und diese gebrochene Perspektive, also diese Spiegelung des kindlichen und des erwachsenen Bewusstseins – in einem Roman davor war das noch komplizierter –, die hätte ich jetzt zum Beispiel einem Jugendbuch nicht zugemutet. Aber ansonsten muss ich gestehen, gibt es für mich keinen großen Unterschied zwischen diesen Büchern."

    Um Erinnerung und ein gleichfalls realistisches Abbild unserer Welt bemüht sich auch Ingo Schulzes kinderliterarisches Debüt, das Bilderbuch "Der Herr Augustin". Dem Herrn Augustin entgleitet die Welt nämlich langsam:

    "Es gibt Dinge, die ich mag, und Dinge, die ich nicht mag. Es gibt Dinge, die ich behalte, und Dinge, die ich wegwerfe. Und dann gibt es Dinge, die mich mögen, und Dinge, die mich nicht mögen. Es gibt Dinge, die sich davonstehlen, und Dinge, die mir treu bleiben. Die Dinge, die ich nicht mag und die sich davongestohlen haben, sollen mir gestohlen bleiben. Auf die Dinge, die ich mag und die sich davongestohlen haben, muss ich so lange geduldig warten, bis sie wieder zu mir zurückkehren. Über alle anderen Dinge denke ich morgen nach."

    Demenz ist ein problematisches Thema fürs Bilderbuch. Scherenschnittartige Illustrationen begleiten das Altern des Herrn Augustin, der immer mehr den inneren und äußeren Kontakt zu den Menschen verliert, dabei aggressiv gegen seine Umwelt wird, schließlich aber erstaunlicherweise Freundschaft mit einem Mädchen und einem Hund schließt.

    Ingo Schulze und Julia Penndorf setzen diesen Verfallsprozess ohne Effekte in Szene. Dennoch ist das Bilderbuch harte Kost für kleine Leser und benötigt die Begleitung durch Erwachsene, die wiederum Schwierigkeiten haben werden, die stellenweise bösartige Charakterentwicklung des Herrn Augustin zu erklären. Vielleicht hat hier der Erwachsenenautor Schulze seine Leserzielgruppe verfehlt. Begleitung empfiehlt sich auch beim mehrfach erwähnten letzten Buch der heutigen Sendung - allerdings aus sprachlichen Gründen:

    "Deises Meikrophein haltein Sei mei deireikt eins Geiseicht. – Dieses Mikrophon halten Sie mir direkt ins Gesicht."

    Thomas Lehr spricht perfektes Eierspanisch, das Grundidiom der Osterinsel - zumindest jener Osterinsel, wie sie im Kinderroman "Tixi Tigerhai" literarisch Gestalt annimmt.

    "Eigentlich sprechen sie dort spanisch und polynesisch. Jetzt ist das Ganze aber eben auf Deutsch und im Grunde gehe ich davon aus, dass die Verkehrssprache eigentlich spanisch ist. Die meisten Kinderbücher würden so was vielleicht als Selbstverständlichkeit verschweigen. Und bei mir kommt das eben immer wieder hoch, und dann gibt es diesen Tiwi, den Häuptling, dem hat Tixi Englisch beigebracht. Und der mischt dann eigentlich Polynesisch, Eierspanisch und Spanisch – was bei mir dann Deutsch ist –, und das bringt er ständig durcheinander."

    "Rapa hanga nuah hei!", stieß Tiwi aus. Dies bedeutet etwa so viel wie: "Donnerwetter! Was für ein tolles Programm!"
    Tixi nahm die Arme vom Kopf und sagte: "Guten Tag."
    "Öh", sagte Tiwi.
    "Hello", sagte Tixi.
    "Öh", sagte Tiwi.
    "Bonjour", sagte Tixi.
    "Öh", sagte Tiwi.
    "Buenos dias", sagte Tixi – und da lächelte der Häuptling und König, schlug sich vor die Stirn und sagte würdevoll: "Beieineis deieis."
    "Lo siento, tut mir leid", erwiderte Tixi und deutete auf die Trümmer des Fernsehers, zwischen denen sie stand.
    "Dei neidei", versicherte ihr der Häuptling. "Hei eidei einei teileiveiseiein veieijei." Dann deutete er von den Trümmern aus hoch in den Himmel, wo man noch das Flugzeug der Entführer sah, so klein wie ein silberner Kugelschreiber. "Hei eidei dei eiveiein?"
    "Si", sagte Tixi. "De avion. Ich bin aus dem Flugzeug gefallen."


    "Man kann den Kindern da mehr zutrauen als es die Kinderliteratur für gewöhnlich tut. Sie haben einen Mordsspaß dabei. weil sie dann doch in dem Alter von sieben, acht sehr nahe an der Sprachwurzel sind und genießen es auch, Wortspiele zu verstehen, und das tun sie in einem ganz außerordentlichem Maße. Es kam mir vielleicht weniger auf die Sprachwitze an oder auf die Wortspiele als auf eine lebendige Sprache, die überlegt ist und die auf jeder Seite auch Sprachereignisse enthält."

    Nun griffe es eindeutig zu kurz, Thomas Lehrs Roman als bloßes Sprachkunstwerk zu verkaufen. Er ist darüber hinaus ein wunderphilosophisch angehauchter Weltentwurf, in dem ein Dutzend Kinder, angeführt von Tixi Tigerhai und Hänschen Haifischflosse, gegen eine Bande von Entführern kämpft, deren Ziel die totale Sabotage der Ostereiproduktion ist. Die natürlich findet auf der Osterinsel statt, genauer gesagt in unterirdischen Fabriken daselbst.

    39 grundgütige Weltosterhasen haben den Bösewichten wenig mehr als nur ein paar Spaßwaffen entgegenzusetzen. Ja, sie werden sogar durch eine Gehirnwäsche via Dauerfernsehberieselung in willige Helfer des Bösen verwandelt, gemeinerweise dann "Smartmen" genannt und zur Bewachung entführter Kinder eingesetzt. Fast alles, was in der klassischen Kinderliteratur Rang und Namen hat, lässt sich assoziativ im Text entdecken, von "Timm Thaler" über "Emil und die Detektive" und "Alice im Wunderland" bis hin zu "Pippi Langstrumpf". Oder um im Bild zu bleiben:

    "In den narrativen Ostereiern stecken immer noch ein paar kognitive für die Erwachsenen mit drin. Und ich war erstaunt, dass auch die Kinder doch viele davon entdecken. Die hatte ich eigentlich für die Erwachsenen verbuddelt, aber hin und wieder graben Kinder sie auch aus."

    Zu diesen kognitiven Ostereiern zählt Lehrs Vorliebe für physikalische Paradoxa, die den gelernten Biochemiker auch in seiner Erwachsenenbelletristik beschäftigen. Die bizarrste Wunderwaffe der Kinder kommt als Wunderaffe daher, der nach Belieben die Schwerkraft manipulieren kann. Mal ist dieser Graff-Graff leicht wie eine Feder, dann wieder schwer wie ein Sattelschlepper. Wer in diesem Stadium mit ihm zusammenstößt, hat nichts zu lachen.

    Die Osterhasen hingegen kämpfen mit dem Raum-Zeit-Problem und müssen einen "Hasenbeschleuniger" benutzen, wollen sie ihren Lieferauftrag pünktlich erfüllen. Ob sie dabei im Rahmen der klassischen Physik bleiben oder doch die Lichtgeschwindigkeit überbieten, weiß der Autor aus dem Stand nicht zu sagen:

    "Wenn wir 39 Hasen haben und die 500 Millionen Kinder versorgen, wie schnell sie dann sein müssten? Sie gehen ja verwickelte Wege. Jetzt trau ich mich nichts mehr zu sagen ohne meinen Taschenrechner."

    Nein, keine Bange, man muss nicht gut rechnen können – oder Eierspanisch beherrschen – um das Buch zu genießen. Es ist ein riesiger bunter Eierkorb voller Erzählüberraschungen, zu denen schließlich auch noch eine literarische Technik gehört, die dem "schnellen Vorlauf" beim Videorekorder nachempfunden scheint:

    Nun, liebe Leser, sollten wir den ERZÄHLBESCHLEUNIGER einschalten! Dann nämlich können wir in Ruhe erklären, was da gerade in Feuerland Erstaunliches geschieht. Der Erzählbeschleuniger funktioniert für uns Leser etwa so wie der Hasenbeschleuniger für die Osterhasen. Während die Smartmen, der Pirat Schwarzbauch, Tixi Tigerhai und alle Kinder des Heims gerade mal mit einem Auge blinzeln, können wir uns in blitzlichtschnelle Wesen verwandeln, die sich blitzlichtschnelle Geschichten erzählen.

    Keine Frage, Thomas Lehrs "Tixi Tigerhai" gehört zum Ungewöhnlichsten, was die deutsche Kinderliteratur in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Mit seinem überbordenden Einfallsreichtum sprengt der Roman alle Kategorien und schert sich so wenig um Marktgesetze, wie ihn Naturgesetze bremsen.

    Dass Lehr die eng gefassten Normen der Kinderbuchverlage überwandt, erwies sich allerdings als janusköpfige Angelegenheit. Einerseits produzierte der Aufbau Verlag bislang nur Bilderbücher und konnte darum das Lehrsche Opus unbefangen betrachten und seine Veröffentlichung wagen; andererseits hatte er aber auch wenig Erfahrungen mit diesem Genre – bis hin zu ganz praktischen Aspekten:

    "Das hat zum Beispiel auch ein zu hohes Format. Und die Kinderbuchregale, ich hab das bei Hugendubel in München gesehen, haben alle die gleiche Höhe, und nur Tixi müssen sie querlegen, weil das zwei Zentimeter höher ist. Also es fällt wirklich aus der Reihe."

    Überrollt vom Debakel der Aufbau-Verlagsinsolvenz und in die für einen Schriftsteller ungewöhnliche Lage versetzt, einmal nicht Schuldner, sondern Gläubiger zu sein, bleibt Thomas Lehr dennoch optimistisch. Tixi Tigerhai lebt in ihm weiter, weswegen die Reise zur realen Osterinsel noch warten muss:

    "Es wird einen zweiten Teil geben, also kann ich es mir nicht leisten, jetzt hinzufahren und die Realität zu sehen, weil dann hab ich vielleicht nicht mehr die phantastische Energie oder die Unverschämtheit, schon wieder mit meiner Phantasie diese Insel zu bevölkern. Also kann ich es mir erst nach dem zweiten Teil leisten."

    Leisten freilich kann er sich das nur, wenn er genügend Leser hat. Bei der Suche daran denken: In den Regalen ist das Buch meistens nicht stehend zu finden. Andererseits - nach Ostereiern sucht man länger.

    Jan Koneffke: "Die Sache mit Zwille"
    Hanser Verlag, 206 Seiten, 14,90 Euro

    Thomas Lehr: "Tixi Tigerhai und das Geheimnis der Osterinsel"
    Mit Illustrationen von Anke am Berg
    Aufbau Verlag, 320 Seiten, 19,95 Euro

    Ingo Schulze: "Der Herr Augustin"
    Mit Illustrationen von Julia Penndorf
    Bloomsbury Verlag, 12,90 Euro

    Malin Schwertfeger: "Die Kürbiskönigin"
    Mit Illustrationen von Isabel Pin
    Bloomsbury Verlag, 36 Seiten, 12,90 Euro

    Juli Zeh: "Das Land der Menschen"
    Mit Illustrationen von Wolfgang Nocke
    Schöffling Verlag, 80 Seiten, 16,90 Euro