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Gewalt an Schulen
"Sensibilität in den Schulen ist deutlich erhöht"

Trotz steigender Straftaten an Schulen warnt der Schulpsychologe Klaus Seifried vor einer Dramatisierung der Situation. In den letzten Jahren hätten Schulen viel getan, um Straftaten wie Mobbing, Diebstahl und Gewalt vorzubeugen, sagte er im Dlf. Dennoch gebe es Baustellen, an denen noch gearbeitet werden müsse.

Klaus Seifried im Gespräch mit Markus Dichmann |
    Zwei Schüler prügeln sich am auf dem Schulhof eines Gymnasiums
    Schule könne nicht besser sein als die Gesellschaft, sagte der Schulpsychologe Klaus Seifried im Dlf (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Markus Dichmann: Jahrelang sanken die Zahlen, und das war gut so. Jetzt müssen wir feststellen: An den Schulen wird es wieder brutaler, wird es krimineller. Die Zahl der Schulstraftaten ist im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, melden zum Beispiel die Landeskriminalämter in Niedersachsen, Brandenburg, Thüringen, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Bisher sind das nur Zahlen, ohne Erklärung, und daher haben wir Klaus Seifried um einen Erklärungsversuch gebeten, Schulpsychologe vom Berufsverband der deutschen Psychologen [Anmerkung der Redaktion: Die korrekte Bezeichnung Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen], und er bewertet die Zahlen so:
    Klaus Seifried: Also ich würde die Situation nicht dramatisieren. Die Schule ist nach wie vor ein stabiler Raum, und gerade in sozialen Brennpunkten ist die Schule oft für Kinder und Jugendliche der stabilisierende Faktor im Leben im Vergleich zu den Familien. Dort ist jeder Gewaltvorfall zu viel, und wir sprechen ja nicht nur von physischer Gewalt zwischen den Schülern, sondern auch von psychischer Gewalt, zum Beispiel Mobbing, und vor allem auch Gewalt gegen Lehrkräfte. Und das sind Dinge, gegen die man unbedingt vorgehen muss.
    "Die größte Baustelle ist, dass Schulen sich verstärkt um die Prävention kümmern"
    Dichmann: Was würden Sie denn sagen aus Ihrer Sicht, sind die größten Baustellen in Sachen Schulstraftaten? Sie haben das ja schon angesprochen, dass es neben der physischen Gewalt eben auch eine psychische Gewalt gibt, es gibt allerdings auch Drogenkriminalität und so weiter. Wo, würden Sie sagen, haben wir im Moment die größten Baustellen?
    Seifried: Die größte Baustelle ist, glaube ich, dass Schulen sich verstärkt um die Prävention kümmern. Die Schule kann nicht besser sein als die Gesellschaft, und in der Gesellschaft gibt es Kriminalität und Konflikte, in den Familien gibt es Konflikte und natürlich auch an der Schule. Ich will ein Beispiel nennen: Fast die Hälfte aller Ehen wird geschieden in Deutschland, das heißt, jedes Jahr 100.000 Kinder und Jugendliche sind davon betroffen. Die kommen mit solchen emotionalen Belastungen in die Schule, und teilweise leben sie sie auch aggressiv aus.
    Andere sind von Armut betroffen in ihren Familien und sind konfrontiert mit Reichtum und Überfluss, aber ich will überhaupt Gewalt oder Diebstahl oder Kriminalität nicht bagatellisieren und entschuldigen. Jede Gewalttat in der Schule muss geahndet werden, und Schule muss entsprechend präventiv arbeiten.
    Dichmann: Jetzt heißt es vom Kriminologen Christian Pfeiffer, der die Zahlen der Landeskriminalämter in Hannover vorgestellt und eingeordnet hat, dass der Anstieg vielleicht auch an einer höheren Anzeigequote läge. Das wären ja im Grunde keine schlechten Neuigkeiten, weil es ja bedeutet, dass die Schüler sich klar darüber sind, wann eine Straftat begangen wurde, und sie auch bereit sind, sie anzuzeigen. Plausibel?
    Seifried: Das ist auf jeden Fall plausibel. Die Sensibilität in den Schulen ist deutlich erhöht. Wenn vor Jahren noch vielleicht ein Schulleiter sagte, ich mache keine Gewaltmeldung, weil das dem Image der Schule schadet, ist es heute eher so, dass Lehrkräfte und Schulleitungen auch bewusst Gewaltmeldungen machen, um auch zu zeigen, dass sie dagegen etwas tun.
    Dichmann: Und insgesamt betont Christian Pfeiffer auch, dass in den letzten 20 Jahren große Fortschritte gemacht worden seien, gerade was die Bekämpfung schwerer physischer, körperlicher Gewalt angeht, und das sei auch in den Zahlen ablesbar. Würden Sie das auch so sehen?
    Seifried: Ich würde das auf jeden Fall unterstützen. Wenn Sie dran denken an die großen Amoktaten Winnenden oder Erfurt, damals vor 16 Jahren oder vor 15 Jahren begann, dass Schulen sehr viel stärker präventiv gearbeitet haben. Ich will ein paar Beispiele nennen: Dass Schüler zu Konfliktlotsen ausgebildet werden, dass es in den Schulen – nicht nur in der Grundschule, sondern auch in der Oberschule – einen Klassenrat gibt, mit dem Schüler über Konflikte sprechen können, dass in Schulen auch Antigewalttrainings, Antiaggressionstrainings durchgeführt werden, dass mit der Polizei, mit den Präventionsbeauftragten der Polizei eng kooperiert wird, nicht im Sinne der Strafverfolgung, sondern im Sinne der Prävention. Da hat sich in Schulen vieles getan, aber es ist immer noch zu wenig. Lehrkräfte, vor allem die Klassenlehrer, die brauchen Zeit im Stundenplan, um mit ihrer Klasse zu arbeiten in der Gewaltprävention. Die Schulen haben immer noch viel zu wenig externe Unterstützung durch Schulpsychologen und Sozialarbeiter.
    "Schule ist ein ganz wesentlicher Raum, in dem Prävention stattfinden kann"
    Dichmann: Sie haben schon ein paar Instrumente angesprochen, wie zum Beispiel die Konfliktlotsen, aber eben auch die Weiterbildung des Lehrpersonals – was wären denn die wichtigsten ersten Schritte, die man jetzt machen müsste, um neue Instrumente der Prävention auch an die Schule zu bringen?
    Seifried: Der erste Schritt wäre, dass nicht nur an der Grundschule, sondern auch an Oberschulen, auch an Gymnasien die Klassenlehrer eine Stunde im Stundenplan haben, in der sie mit ihren Schülern arbeiten können – ganz normale Gespräche über kleine Konflikte, irgendjemand hat jemanden blöd angeguckt, irgendjemand hat was Blödes gesagt. Wenn Konflikte bearbeitet werden, kann man sie ein Stück kanalisieren und abbauen. Wenn Konflikte in der Klasse nicht bearbeitet werden und stattdessen Leistungsdruck oder Konkurrenz aufgebaut wird, wachsen sie und werden immer größer. Und Schule ist ein ganz wesentlicher Raum, in dem Prävention stattfinden kann.
    "Wir brauchen mehr positive Autorität an Schulen"
    Dichmann: Aber von so etwas wie einer Offensive Werteerziehung, die in dieser Stunde ja zum Beispiel auch stattfinden könnte, wie es der Deutsche Lehrerverband fordert, halten Sie nichts, haben Sie uns hier in "Campus & Karriere" schon mal verraten.
    Seifried: Ich würde etwas anderes sagen: Wir brauchen mehr positive Autorität an Schulen. Der Klassenlehrer als jemand, der den Kindern und Jugendlichen Orientierung gibt in Werten und Normen, was darf ich, was darf ich nicht, nicht im Sinne von autoritär, dass ich Angst habe davor, sondern im Sinne von Autorität, hier kann ich mich orientieren, hier bekomme ich Grenzen, hier kann ich aber auch positives Vorbild lernen.
    Dichmann: Klaus Seifried, Schulpsychologe vom Berufsverband der deutschen Psychologen im Gespräch in "Campus & Karriere". Danke fürs Gespräch!
    Seifried: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.