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Gift aus der "Fabrik der Düfte"

Am 10. Juli 1976 ereignete sich der bis dahin spektakulärste Chemieunfall der Geschichte, bei der die ganze Region um das norditalienische Provinzstädtchen Seveso mit Dioxin verseucht wurde. Der Fall gilt als Zäsur für die Umweltpolitik: 1982 beschloss die EG eine Störfall-Verordnung - die so genannte Seveso-I-Richtlinie.

Von Agnes Steinbauer |
    "Weitere 15.000 Menschen müssen jetzt zwangsweise aus der Giftzone nördlich von Mailand umsiedeln. Die Evakuierungsaktion betrifft nunmehr bereits vier Gemeinden. Was auf die unglücklichen Leute von Seveso und Meda zukommt, das ließ ein Gemeindevertreter durchblicken."

    Als diese Nachrichten Anfang August 1976 über den Äther gingen, hatten weder die lombardischen Behörden noch die rund 77.000 Menschen der Region eine Vorstellung, welche Katastrophe das verschlafene, norditalienische Städtchen Seveso tatsächlich heimgesucht hatte. Ein Augenzeuge:

    "Wir hörten einen Pfiff wie aus einer Fabriksirene, dann kam eine kleine Wolke aus einer kleinen Klappe, die sich in einer gewissen Höhe wie ein Pilz aufwölbte. Und am nächsten Tag hatten die Kinder so rote Flecken - das sah aus, wie verbrannt."

    10. Juli 1976 - Samstagmittag um 12.37 Uhr entwich aus der "fabrica dei profumi" - der "Fabrik der Düfte", wie die Sevesiani das örtliche Chemiewerk ICMESA spöttisch nannten, eine der giftigsten Substanzen, die Chemiker überhaupt kennen: Tetrachlor-dibenzo-p-dioxin, kurz TCDD.

    An einem Chemiereaktor war das Überdruckventil geborsten. Der Inhalt strömte ins Freie - neben Trichlorphenol - einem Ausgangsstoff für Deospray, den die Hoffmann-la-Roche-Tochter Givaudan in Genf weiter verarbeitete - verpufften über zwei Kilogramm - möglicherweise sogar weit mehr - des hochgiftigen TCDD, das als Seveso-Dioxin in die Geschichte einging.

    Ein falscher Knopfdruck hatte das Rührwerk in der Trichlorphenol-Kesselanlage stillgelegt. Fast sieben Stunden lang baute sich durch Überhitzung ein Überdruck im Kessel auf, der schließlich zur Explosion führte.

    Durch den Unfall wurde erst deutlich, wie fahrlässig die zur Hoffmann-La-Roche Tochter Givaudan gehörige Firma ICMESA mit ihren hochtoxischen Substanzen umging. Die schlecht ausgebildeten Arbeiter wussten kaum, wozu das "Zeug" gut war, das sie da herstellten - geschweige denn, wie gefährlich es werden kann.

    Der eigentliche Skandal ereignete sich jedoch nach dem Unfall: Schweigen und unterlassene Evakuierung in den ersten Tagen. Die ICMESA produzierte sogar bis zum 16. Juli seelenruhig weiter. Obwohl - wie etwa in dem Buch "Seveso ist überall" glaubhaft dargelegt wird - die Tragweite des Unglücks beim Schweizer Hoffmann-la-Roche-Konzern bereits am 12. Juli bekannt war, ließ man Behörden und Bewohner in Unwissenheit:

    "Selbst als am fünften Tag nach dem Unfall die ersten Tiere verenden und sich bei Kindern erste Hautausschläge zeigen, hüllt sich das Unternehmen noch in Schweigen. Erst am 23. Juli - inzwischen weisen über 30 Personen schlimme Hautschäden auf - analysiert man in einem italienischen Provinzlabor das hochgiftige TCDD als Ursache der Verseuchung","

    recherchierten die Wissenschaftspublizisten Egmont Koch und Fritz Vahrenholt. Das Gift schädigt Organe wie Lunge, Nieren und Leber. Auf der Haut führt es zu Chlorakne-Verätzungen, von denen die Betroffenen ein Leben lang gezeichnet sind.

    Nach dem Unglück starben zuerst die Tiere. Tausende waren drei Wochen nach dem Störfall verendet - die Blätter verdorrten an den Bäumen. Ein Augenzeuge schildert dem ARD-Korrespondenten Karl Hoffmann die gespenstische Szenerie:

    ""Es war fast surreal. All diese Pflanzen, diese Bäume ließen ihre Blätter hängen, als ob sie ihren Lebensmut verloren hätten. Nach dem Unfall sahen wir eine Schafherde - vielleicht 50, 60 Tiere, die alle furchtbar aufgebläht waren, die Tiere haben Gras gefressen und die Säure verbrannte ihnen die Kehle."

    Die Bilder der verätzten Gesichter der beiden Kinder der Familie Senno gingen um die Welt und wurden zum Symbol für die Katastrophe. Wie viele Menschen an den Folgen der Dioxinvergiftung tatsächlich starben, ist bis heute nicht nachzuweisen. Untersuchungen in den letzten 30 Jahren zeigen allerdings einen deutlichen Anstieg verschiedener Krebsarten und Hautgeschwüre:

    "Ich habe hier in der Gegend viele Leute gekannt, die jung starben, mit 40 Jahren oder 30 Jahren. Sie wurden alle schwer krank und starben. Es waren Menschen, die direkt dort wohnten, wo das Dioxin niedergegangen ist."

    Die rund 150 Millionen Euro Entschädigung von Hoffmann-la-Roche sind ein Tropfen auf den heißen Stein, finden viele Betroffene - seit dem Unglück haben zahlreiche Bürgerinitiativen und Geschädigten-Vereiningungen für mehr Geld gekämpft - bisher allerdings vergeblich.