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Giovanni di Lorenzo
"Die Kritik, die Medien entgegengebracht wird, ist sehr bedrohlich"

Die Ereignisse in Köln seien ein Wendepunkt gewesen, sagte der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im DLF. Die Vorwürfe, Medien würden nicht die ganze Realität abbilden, müssten daher sehr ernstgenommen werden. Dabei dürfe man das größte Kapital nie aufgeben: "Die Glaubwürdigkeit." Zum 70-jährigen Jubiläum der "Zeit" wünscht sich di Lorenze: Menschen, die auch künftig noch für gute Medien Geld ausgeben.

Giovanni di Lorenzo im Gespräch mit Andreas Stopp |
    Der Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", Giovanni di Lorenzo, hält am 02.04.2014 im Schauspielhaus in Hamburg eine "Zeit"-Ausgabe mit einem Lokalteil für Hamburg. Die "Zeit" erscheint am 3. April erstmals mit einem Lokalteil für Hamburg.
    Der Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", Giovanni di Lorenzo. (picture alliance / dpa)
    Andreas Stopp: "Die Zeit" am 21. Februar 1946, vor genau 70 Jahren. Da ist die erste Ausgabe erschienen dieser Wochenzeitung in Hamburg. Damals, wenn ich recht orientiert bin, mit 25.000 Exemplaren in der ersten Auflage. Und wenn man schaut, dass sie heute auf über 500 ... , 512.000 sind, war das ja eine gewaltige Entwicklung in diesen 70 Jahren.
    - Der Chefredakteur der "Zeit", Giovanni di Lorenzo, am Telefon – guten Tag, Herr di Lorenzo!
    Giovanni di Lorenzo: Schönen guten Tag, ich grüße Sie!
    Stopp: Seit 2004 machen Sie diesen, ich sag jetzt nicht Job, sondern diese Arbeit. Ist es mehr als ein Job und mehr als Arbeit?
    di Lorenzo: Natürlich. Also, ich glaube, man kann so eine Arbeit nicht machen, ohne dass man mit Haut und Haaren dran klebt und das aus voller Überzeugung tut. Das machen übrigens auch fast alle anderen Kollegen und Kolleginnen bei der "Zeit".
    Stopp: Wie, Herr di Lorenzo, manövrieren Sie eigentlich in dieser momentanen Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus, die womöglich auch Sie betrifft, auch uns betrifft – was tun Sie, was machen Sie, welche Parolen geben Sie aus?
    di Lorenzo: Mit Vorwürfen ernsthaft auseinandersetzen
    di Lorenzo: Ich weiß genau, dass man sich zum einen nicht wild machen lassen darf. Ich glaube nicht, dass alle mit den Medien über Kreuz sind. Es gibt viele Menschen, die uns nach wie vor sehr, sehr schätzen für das, was wir machen. Und mit den Vorwürfen, die kommen, muss man sich eben ernsthaft auseinandersetzen. Nicht mit den Leuten, die nur schimpfen und drohen. Aber zum Beispiel mit denen, die sagen, ihr seid so wahnsinnig konformistisch in eurer Berichterstattung und so eintönig, dass man das Gefühl hat, ihr sprecht euch ab. Oder ihr bildet nicht die ganze Realität ab. Man hat manchmal das Gefühl, es darf nicht sein, was nicht sein soll, siehe die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln. Das sind Vorwürfe, die man sehr ernst nehmen muss. Und insofern glaube ich, war das ein Wendepunkt – Köln.
    Stopp: Kriegen Sie eigentlich in diesem Zusammenhang viel Post, mit der Sie sich auch eins zu eins auseinandersetzen müssen?
    di Lorenzo: Ja, das hat zugenommen. Das liegt natürlich auch daran, dass es heute schneller geht, eine Mail schnell zu schreiben, entsprechend ist auch der Ton manchmal ein bisschen ruppiger. Und ich bemühe mich auch nach wie vor, die Post persönlich und vollständig zu beantworten. Nicht immer gelingt es mir, weil es manchmal zu viel ist, aber das Bedürfnis, sich auszutauschen, ist groß. Und auch das ist doch eigentlich ein Zeichen dafür, dass die Leute Interesse an uns haben und sich mit uns auseinandersetzen wollen.
    Stopp: Herr di Lorenzo, unsere Welt scheint ja zunehmend, wie soll ich sagen, desorientierter, zersplitterter, aufgeregter, beunruhigter. Verstärkt sich dieses Lebensgefühl Ihrer Leser nach der Lektüre. Oder werden die dann ruhiger?
    di Lorenzo: Wir bemühen uns, nicht nur die ganze Realität abzubilden, mit allen Problemen, Krisen und Schwierigkeiten, sondern auch immer etwas darzustellen, was für den Leser eine Überraschung ist, was vielleicht eine Bereicherung ist, was ihm einen neuen Horizont eröffnet, sein Lebensumfeld abbildet. Ich glaube, dass Zeitungen, bei denen man das Gefühl hat, anschließend kann und will ich mir nur noch die Bettdecke übern Kopf ziehen, dass die nicht funktionieren.
    Stopp: Was ist denn heutzutage wichtiger, Information oder Meinung, Haltung?
    di Lorenzo: Beides. Ich glaube, dass die Haltung – da haben wir bei uns eine ganz lange Tradition, und Sie haben gerade die 70 Jahre erwähnt der "Zeit" ... Es gibt den wunderbaren Satz unserer ehemaligen Chefredakteurin und Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff: Wir wollen die Menschen nicht indoktrinieren, sondern ihnen die Meinungen und die Mittel an die Hand geben, damit sie sich eine eigene Meinung dann bilden können. Diesem Satz fühlen wir uns immer noch verpflichtet, weil ich glaube, dass ein reifes und tiefes und begründetes, gutes Urteil nur in der Konfrontation mit unterschiedlichen Meinungen zustande kommt.
    Stopp: Wir sprechen mit dem Chefredakteur der "Zeit" , Giovanni di Lorenzo. Unsere Leitung hört sich so an, wie wenn Sie fünfmal über die Erde gewickelt ist, dabei geht's nur zwischen Köln und Hamburg. Wir versuchen es aber trotzdem weiter. Das Lesen eines bedruckten Papiers, hat das Zukunft?
    di Lorenzo: Ich glaube ja, aber die Art und Weise, wie uns die Menschen in Zukunft lesen werden, die ist doch eigentlich egal – ob die uns dann als App nehmen, ein digitales Abo abschließen, am Kiosk kaufen, das finde ich wirklich absolut zweitrangig. Wir sind ja keine Holzhändler oder keine Elektrowarenbetreiber. Entscheidend ist, dass es in Zukunft noch Menschen gibt, die für gute Medien Geld ausgeben, denn das ist die Voraussetzung für einen unabhängigen und gut recherchierenden Journalismus.
    Stopp: Nun üben aber Onlinekanäle welcher Art auch immer einen großen Sog aus auf die Nachrichten, auf die Wissensübermittlung. Wie gehen Sie damit um, wird sich "Die Zeit" dem entziehen können. Oder anders gefragt, ändert sich vielleicht dadurch auch die Art und Weise zu schreiben, ändert sich die Themenauswahl?
    di Lorenzo: Abbildung der Nachrichtenlage funktioniert bei Wochenzeitung nicht mehr
    di Lorenzo: Nein, das tut es nicht, aber es hat keinen Sinn, das zum Thema zu machen, was pausenlos als Nachricht läuft. Das funktioniert bei uns nicht mehr. Früher konnte man die Gleichung aufstellen: dramatisches Ereignis, hoher Abverkauf am Kiosk. Heute sagen die Leute, ja, aber das weiß ich alles, was ist denn das bisschen Mehr, was ihr uns bieten könnt? Und insofern hat sich die Art und Weise, ein Blatt zu machen, verändert. Die Abbildung nur der Nachrichtenlage, die funktioniert bei einer Wochenzeitung nicht mehr.
    Stopp: Dann wird das auch die Maßgabe sein, mit der "Die Zeit" in der Zukunft mit der Zeit geht. Was wird sich ändern in den nächsten Jahren?
    di Lorenzo: Das kann ich Ihnen nicht sagen, ich würde mir wie ein Hochstapler vorkommen. Wir haben das große Glück – und wir sagen das voller Demut, weil wir haben da bestimmt nicht den Stein der Weisen gefunden –, dass es uns in den letzten Jahren gut gegangen ist. Aber ob das hält und in welcher Form, das kann niemand ernsthaft voraussagen. Man muss dann immer wieder sich verändern und sich neuen Lesebedürfnissen und Leseformen anpassen. Aber ich glaube, man darf eins nie aufgeben, das ist das größte Kapital: die Glaubwürdigkeit. Insofern ist die Kritik, die Medien jetzt entgegengebracht wird, ja auch so bedrohlich.
    Stopp: Ja, und beunruhigend vor diesem Hintergrund. Empfehlen Sie überhaupt noch jungen Leuten, heute unter diesen Bedingungen in den Journalismus zu gehen?
    di Lorenzo: Journalist ist einer der schönsten Berufe der Welt
    di Lorenzo: Absolut. Es ist nach wie vor ein Begabungsberuf. Und es ist einer der schönsten Berufe der Welt. Lassen Sie mich zum 70. Geburtstag so ein großes Wort in den Mund nehmen.
    Stopp: Bei dieser Gelegenheit: Wie läuft eigentlich Ihr Jugendangebot "Z"?
    di Lorenzo: Sie haben recht, es spricht besonders junge Leser an, aber es soll nicht nur für junge Leser da sein. Wir sind ja jetzt damit erst knapp drei Monate da. Ich bin mit dem Ergebnis dieser ersten drei Monate zufrieden. Und jetzt müssen wir es Woche für Woche noch besser machen.
    Stopp: Ich frage, Herr di Lorenzo, auch vor dem Hintergrund, dass ich jetzt gleich zwei junge Leute, angehende Journalistin, Journalisten, hier im Studio habe, die uns etwas erzählen werden, den Hörerinnen und Hörern, über die Initiative Nachrichtenaufklärung – vielleicht haben Sie es am Rande gehört. Da gibt es eine Top Ten der vernachlässigten Nachrichten, das haben die alles recherchiert und sind dann eben zu diesem Ranking gekommen von Themen, die offenbar nicht oder kaum vorkommen, aber gesellschaftlich doch wichtig wären, diskutiert zu werden: Top 1, Finanzierung von Atomwaffen, da sagen die, kein Mensch in den Zeitungen macht sich Gedanken über so ein Thema, auch über diesen Komplex Euratom, die EU und diese Selbstverpflichtung, Kernkraft zu fördern und so weiter. Das wären doch jetzt eigentlich Themen, die Sie in der "Zeit" – weil dann haben wir ja auch Zeit, sie zu lesen, einmal in der Woche – beackern könnten.
    di Lorenzo: Absolut. Vor allen Dingen, man muss darauf achten, dass nicht Themen wieder verschwinden. Das ist ja diese Medien- und Aufmerksamkeitswelle für ein Thema. Das ist manchmal auch verwirrend. Man denkt, in einem Monat oder in einer Woche, es gibt nichts Wichtigeres. Und dann ist es verschwunden in der medialen Berichterstattung. Und dann denken die Leute, ja, ist es denn nicht so wichtig gewesen oder jagt man jetzt einfach eine neue Sau durchs Dorf. Insofern finde ich diese Initiative hochinteressant. Ich kenne sie nicht gut, aber das, was ich darüber gelesen habe, fand ich sehr, sehr interessant.
    Stopp: Herr di Lorenzo, auch um Ihre Stimme zu schonen: Viele haben Ihnen gratuliert und werden das jetzt an diesem Wochenende ja auch noch tun – wer fehlt Ihnen denn, von wem hätten Sie gerne eine Gratulation bekommen, und der ist bisher noch nicht aufgeschlagen?
    di Lorenzo: Ach, die Antwort ist vielleicht ein bisschen absehbar, aber natürlich fehlt mir und fehlt uns Helmut Schmidt, mit dem ich eigentlich jetzt zu diesem Geburtstag im Schauspielhaus in Hamburg eine Veranstaltung gehabt hätte, für die jetzt Olaf Scholz, der Bürgermeister von Hamburg, eingesprungen ist – der fehlt schon sehr.
    Stopp: Und das ist auch ein Platz, der nicht zu stopfen sein wird, sondern der auch die nächsten Jahre der Geschichte der "Zeit" Sie begleiten wird. Ein Letztes noch, und da bin ich mir gar nicht sicher, ob ich Ihnen diese Frage überhaupt stellen darf.
    di Lorenzo: Tun Sie es!
    Stopp: Sie werden mit Interviewwünschen bombardiert, gerade jetzt in diesen Tagen Ihres Geburtstages, also des Geburtstages der "Zeit" – welche Frage möchten Sie eigentlich mal von einem Journalisten gestellt bekommen, und keiner stellt sie?
    di Lorenzo: Ach, ich finde, dass eigentlich die Kollegen sehr findig sind, es gibt kaum etwas, was sie nicht fragen. Ich fände es interessant, wenn einer mal fragen würde, wie ist das Verhältnis zu den alten Kollegen, also zu den großen Legenden der Kollegen, sofern sie noch leben. Das ist ein Thema, was bei uns, also das Mehrgenerationenhaus, was uns, glaube ich, unterscheidet von anderen Häusern – viele Kollegen gehen einfach mit dem 65. nicht einfach in Rente.
    Stopp: Und Theo Sommer ist ja auch noch recht präsent ...
    di Lorenzo: ... und liefert sich in der Jubiläumsausgabe, die ausnahmsweise mal am Montag gekommen ist – wir sind in dieser Woche mit zwei Ausgaben rausgekommen, einer normalen am Donnerstag und einer am Montag –, liefert sich wirklich ein interessantes Generationengespräch mit einer ganz jungen Blattmacherin. Und da kommen die Unterschiede damals/heute sehr, sehr plastisch zum Vorschein.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.