Ein schlaksiger Junge trottet mit hängendem Kopf eine gottverlassene Landstraße entlang. Aus der Totalen wird Bild für Bild immer dichter an ihn herangezoomt, bis man um ein Haar die Perspektive des Jungen einnimmt. Es folgen fünf Nahaufnahmen davon, wie er einen Fuß vor den anderen setzt. Sonst nichts.
"Crunch. Crunch. Scrunch. Crunch. Crunch."
Der seltsame Junge ist der spätere Serienmörder Jeffrey Dahmer. Er und der Autor des Buchs lernen sich auf einer Junior High School im ländlichen Ohio kennen. Das Buch erzählt episodisch von ihrer gemeinsamen Schulzeit und endet mit Dahmers erstem Mord zwei Wochen nach dem Abschluss. Es gibt eine eindrückliche Bildsequenz von Dahmers letzter Fahrt mit dem Schulbus. Er steigt ein, über ihm ein Schild: "Watch your step". Dann sitzt er stoisch da, neben dem verriegelten Notausgang, während mit jedem Meter, den der Bus zurücklegt, die Kluft zwischen ihm und der restlichen Welt größer wird.
"1. Juni 1978. Der letzte Schultag für uns. Nur wenige Dinge im Leben fühlen sich ähnlich gut an wie dieser Tag. Ich schwebte geradezu heimwärts. Mir war, als läge mein ganzes Leben direkt vor mir. Wie eine Straße in die Zukunft. Es war nicht Dahmers Straße. Im Grunde war sein Leben an diesem Tag vorbei. Er würde seine Menschlichkeit Stück für Stück verlieren. Er würde zu jemand absolut Fremdem werden. Er fuhr direkt in die Hölle."
Auch wenn Backderf natürlich mit dem Vorwissen des Lesers spielt, setzt er nicht auf plumpe Schauereffekte. Entsetzliches nennt er lakonisch beim Namen – ganz untheatralisch: "Was er mal an Charakter besessen hatte, war weg. Er parodierte sich selbst oder war blau oder beides", heißt es über Dahmers letztes High-School-Jahr. Die Bilder, die Backderf für seine düstere Geschichte findet, sind meist überraschend hell und leicht, nicht zuletzt dank seines humorvollen, expressionistisch anmutenden Zeichenstils – einzig auf Dahmers Gesicht liegt meist ein Schatten. Backderf zeigt, wie es war, ohne jede Wertung. Ihn treibt die Frage um, wie unter dem Blick der Öffentlichkeit aus dem jungen Eigenbrötler Jeffrey Dahmer der Mann werden konnte, der als "Milwaukee Monster" in die Kriminalgeschichte eingegangen ist. Im Zentrum stehen die Jahre seiner Verwandlung. Es geht dabei nicht um das Böse an sich, sondern vor allem um Einsamkeit.
"Das Dahmer-Haus war steil in den Hang gebaut. Am Fuß des Hügels lag eine Vorstadt von fernsehhafter Idylle. Einfamilienhäuser dicht an dicht, gepflegte Rasen, viele Kinder. Dahmers Haus hingegen lag an einer steilen Landstraße, die für Kinder nicht sicher war. Von der Straße aus sah man nur das Garagentor. Es war, als würde das Haus Jeffs Isolation widerspiegeln. Und nichts war gut in diesem Haus."
In vielen ruhigen Schwarz-Weiß-Sequenzen sieht man Dahmer allein: in seinem Zimmer, auf High-School-Fluren, im Wald, im Auto, mit dem immer gleichen ausdruckslosen Gesicht. In seinen Bildern kommt Backderf ihm sehr nah, viel näher wahrscheinlich als zu Schulzeiten, als er Dahmer zwar amüsant fand, sich aber intuitiv von ihm fernhielt. Man beobachtet Dahmer bei ersten vergeblichen Mordversuchen: Mal bringt er es einfach nicht fertig, dem Nachbarshund den Hals durchzuschneiden, mal kommt der Jogger ausgerechnet an diesem Tag nicht an seinem Elternhaus vorbei. Backderf gelingt es, auch diese schwer erträglichen Szenen in die Geschichte zu integrieren, ohne dass sie zu einer Monsterballade wird. Auch den ersten Mord, die Initialzündung für alles, was folgen sollte, deutet er nur an. Man sieht, wie Dahmer einen jungen Anhalter im Auto mitnimmt. Kurz darauf ist der Kofferraum voller Müllsäcke. Einen Kontrast zu dieser Dezenz bilden Dahmers "Auftritte", bei denen er für Mitschüler Epileptiker oder Spastiker imitiert. Hier wird der unaufgeregtes Comic ausnahmsweise laut und grotesk – und sehr makaber. Denn noch spielt Dahmer seine Ausbrüche nur.
"Sollte er je ausrasten, dachte ich damals, wollte ich nicht dabei sein. Das war ein verdammt richtiger Gedanke. Wahrscheinlich war er damals schon verloren. Die perversen Fantasien in seinem Kopf hörten nicht auf. Sein Verstand hing an einem seidenen Faden."
Backderf arbeitet streng dokumentarisch. Aus eigenen Erinnerungen und umfangreichem Recherchematerial rekonstruiert er Dahmers Teenagerjahre; im Buchanhang finden sich ausführliche Quellenangaben. Wo sich Dahmers inneres oder äußeres Erleben nicht faktisch belegen lässt, spart er es aus. Das Geschehen bleibt so angemessen fragmentarisch – und Dahmer ein Rätsel. Dennoch muss seiner Umwelt schon damals Alarmierendes an ihm aufgefallen sein. Wie konnte jemandem entgehen, fragt Backderf, dass mit diesem Jungen etwas nicht stimmte, sein Verhalten immer beunruhigender wurde, dass er sich schließlich jeden Morgen in der Schule systematisch besoff? Und, die wichtigste Frage: Wo waren die Erwachsenen? Am Ende, wenige Wochen vor seinem ersten Mord, lassen Dahmer beide Eltern im Stich: Nach seinem Vater zieht auch noch seine Mutter mit seinem kleinen Bruder aus. Dahmer bleibt im Haus zurück, für einen endlosen Sommer mutterseelenallein mit den immer fordernderen Stimmen in seinem Kopf. Das Schlusskapitel endet mit zwei nächtlichen Episoden, die Panels dominiert Schwärze. Auf den beiden letzten seitenfüllenden Bildern sieht man Dahmers dunkles Haus: Links brennt in den Fenstern noch Licht. Rechts ist alles aus.
"Das war das letzte Mal, dass einer von uns Dahmer sah."
"Mein Freund Dahmer" kann man auch als einen im besten Sinne altmodischen Appell verstehen, gut aufeinander achtzugeben. Derf Backderf versucht nicht, Dahmers Taten zu entschuldigen, denn das sind sie durch nichts. Das einzige moralische Urteil indes erlaubt er sich im Vorwort, indem er schreibt, Dahmer sei ein "kranker Bastard" gewesen. Und doch lässt es ihm spürbar keine Ruhe, dass dieser kranke Bastard vielleicht zu retten gewesen wäre – und damit auch seine 17 Opfer. Nach der Lektüre von "Mein Freund Dahmer" teilt man die Fassungslosigkeit und den Kummer des Autors angesichts der vielen sinnlos zerstörten Leben.
Derf Backderf: "Mein Freund Dahmer", WALDE + GRAF/Metrolit, 230 Seiten, 22,99 Euro
"Crunch. Crunch. Scrunch. Crunch. Crunch."
Der seltsame Junge ist der spätere Serienmörder Jeffrey Dahmer. Er und der Autor des Buchs lernen sich auf einer Junior High School im ländlichen Ohio kennen. Das Buch erzählt episodisch von ihrer gemeinsamen Schulzeit und endet mit Dahmers erstem Mord zwei Wochen nach dem Abschluss. Es gibt eine eindrückliche Bildsequenz von Dahmers letzter Fahrt mit dem Schulbus. Er steigt ein, über ihm ein Schild: "Watch your step". Dann sitzt er stoisch da, neben dem verriegelten Notausgang, während mit jedem Meter, den der Bus zurücklegt, die Kluft zwischen ihm und der restlichen Welt größer wird.
"1. Juni 1978. Der letzte Schultag für uns. Nur wenige Dinge im Leben fühlen sich ähnlich gut an wie dieser Tag. Ich schwebte geradezu heimwärts. Mir war, als läge mein ganzes Leben direkt vor mir. Wie eine Straße in die Zukunft. Es war nicht Dahmers Straße. Im Grunde war sein Leben an diesem Tag vorbei. Er würde seine Menschlichkeit Stück für Stück verlieren. Er würde zu jemand absolut Fremdem werden. Er fuhr direkt in die Hölle."
Auch wenn Backderf natürlich mit dem Vorwissen des Lesers spielt, setzt er nicht auf plumpe Schauereffekte. Entsetzliches nennt er lakonisch beim Namen – ganz untheatralisch: "Was er mal an Charakter besessen hatte, war weg. Er parodierte sich selbst oder war blau oder beides", heißt es über Dahmers letztes High-School-Jahr. Die Bilder, die Backderf für seine düstere Geschichte findet, sind meist überraschend hell und leicht, nicht zuletzt dank seines humorvollen, expressionistisch anmutenden Zeichenstils – einzig auf Dahmers Gesicht liegt meist ein Schatten. Backderf zeigt, wie es war, ohne jede Wertung. Ihn treibt die Frage um, wie unter dem Blick der Öffentlichkeit aus dem jungen Eigenbrötler Jeffrey Dahmer der Mann werden konnte, der als "Milwaukee Monster" in die Kriminalgeschichte eingegangen ist. Im Zentrum stehen die Jahre seiner Verwandlung. Es geht dabei nicht um das Böse an sich, sondern vor allem um Einsamkeit.
"Das Dahmer-Haus war steil in den Hang gebaut. Am Fuß des Hügels lag eine Vorstadt von fernsehhafter Idylle. Einfamilienhäuser dicht an dicht, gepflegte Rasen, viele Kinder. Dahmers Haus hingegen lag an einer steilen Landstraße, die für Kinder nicht sicher war. Von der Straße aus sah man nur das Garagentor. Es war, als würde das Haus Jeffs Isolation widerspiegeln. Und nichts war gut in diesem Haus."
In vielen ruhigen Schwarz-Weiß-Sequenzen sieht man Dahmer allein: in seinem Zimmer, auf High-School-Fluren, im Wald, im Auto, mit dem immer gleichen ausdruckslosen Gesicht. In seinen Bildern kommt Backderf ihm sehr nah, viel näher wahrscheinlich als zu Schulzeiten, als er Dahmer zwar amüsant fand, sich aber intuitiv von ihm fernhielt. Man beobachtet Dahmer bei ersten vergeblichen Mordversuchen: Mal bringt er es einfach nicht fertig, dem Nachbarshund den Hals durchzuschneiden, mal kommt der Jogger ausgerechnet an diesem Tag nicht an seinem Elternhaus vorbei. Backderf gelingt es, auch diese schwer erträglichen Szenen in die Geschichte zu integrieren, ohne dass sie zu einer Monsterballade wird. Auch den ersten Mord, die Initialzündung für alles, was folgen sollte, deutet er nur an. Man sieht, wie Dahmer einen jungen Anhalter im Auto mitnimmt. Kurz darauf ist der Kofferraum voller Müllsäcke. Einen Kontrast zu dieser Dezenz bilden Dahmers "Auftritte", bei denen er für Mitschüler Epileptiker oder Spastiker imitiert. Hier wird der unaufgeregtes Comic ausnahmsweise laut und grotesk – und sehr makaber. Denn noch spielt Dahmer seine Ausbrüche nur.
"Sollte er je ausrasten, dachte ich damals, wollte ich nicht dabei sein. Das war ein verdammt richtiger Gedanke. Wahrscheinlich war er damals schon verloren. Die perversen Fantasien in seinem Kopf hörten nicht auf. Sein Verstand hing an einem seidenen Faden."
Backderf arbeitet streng dokumentarisch. Aus eigenen Erinnerungen und umfangreichem Recherchematerial rekonstruiert er Dahmers Teenagerjahre; im Buchanhang finden sich ausführliche Quellenangaben. Wo sich Dahmers inneres oder äußeres Erleben nicht faktisch belegen lässt, spart er es aus. Das Geschehen bleibt so angemessen fragmentarisch – und Dahmer ein Rätsel. Dennoch muss seiner Umwelt schon damals Alarmierendes an ihm aufgefallen sein. Wie konnte jemandem entgehen, fragt Backderf, dass mit diesem Jungen etwas nicht stimmte, sein Verhalten immer beunruhigender wurde, dass er sich schließlich jeden Morgen in der Schule systematisch besoff? Und, die wichtigste Frage: Wo waren die Erwachsenen? Am Ende, wenige Wochen vor seinem ersten Mord, lassen Dahmer beide Eltern im Stich: Nach seinem Vater zieht auch noch seine Mutter mit seinem kleinen Bruder aus. Dahmer bleibt im Haus zurück, für einen endlosen Sommer mutterseelenallein mit den immer fordernderen Stimmen in seinem Kopf. Das Schlusskapitel endet mit zwei nächtlichen Episoden, die Panels dominiert Schwärze. Auf den beiden letzten seitenfüllenden Bildern sieht man Dahmers dunkles Haus: Links brennt in den Fenstern noch Licht. Rechts ist alles aus.
"Das war das letzte Mal, dass einer von uns Dahmer sah."
"Mein Freund Dahmer" kann man auch als einen im besten Sinne altmodischen Appell verstehen, gut aufeinander achtzugeben. Derf Backderf versucht nicht, Dahmers Taten zu entschuldigen, denn das sind sie durch nichts. Das einzige moralische Urteil indes erlaubt er sich im Vorwort, indem er schreibt, Dahmer sei ein "kranker Bastard" gewesen. Und doch lässt es ihm spürbar keine Ruhe, dass dieser kranke Bastard vielleicht zu retten gewesen wäre – und damit auch seine 17 Opfer. Nach der Lektüre von "Mein Freund Dahmer" teilt man die Fassungslosigkeit und den Kummer des Autors angesichts der vielen sinnlos zerstörten Leben.
Derf Backderf: "Mein Freund Dahmer", WALDE + GRAF/Metrolit, 230 Seiten, 22,99 Euro