"Physik ist eine empirische Wissenschaft. Es sollen objektive Erfahrungen sein. Das heißt in diesem Sinne erforscht Physik das, was man mit Messgeräten erforschen kann."
Sagt Harald Lesch, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Physik als quantitative Naturwissenschaft funktioniere unabhängig von Tradition, Kultur und Ideologie, erklärt der aus Wissenschafts-Sendungen bekannte Astrophysiker:
"Ein kommunistischer theoretischer Physiker und ein imperialistischer Experimentalphysiker werden sich physikalisch immer verstehen. Physik versucht Naturgesetze zu identifizieren. Ein Gesetz sollte immer und überall gültig sein. Die Natur ist ein Ganzes."
In den zurückliegenden 100 bis 200 Jahren ist die Naturwissenschaft überaus erfolgreich gewesen: Sie hat die Weiten des Universums erforscht, Abläufe in der Natur erklärt, unser Leben deutlich bequemer gemacht. Und damit gewinne die Naturwissenschaft immer mehr an Einfluss, so Harald Lesch:
"Der Punkt ist ja diese Übersetzung der Grundlagenforschung in Technologie: Wenn wir damit den Naturwissenschaften eine Art von Universalerklärungsanspruch zubilligen, dann bedeutet das natürlich, dass wir unsere gesamte Weltordnung – in Anführungsstrichen – auf technologische Beine stellen. Dass es keine anderen Begründungszusammenhänge mehr geben kann als diejenigen, die sich irgendwie mit den physikalisch-technologischen Ergebnissen abbilden lassen."
Experten sprechen vom reduktionistischen Naturbegriff: Alles lässt sich rein kausal beschreiben, jede Wirkung hat eine Ursache. Damit einher geht der Anspruch, das Wesentliche in der Welt naturwissenschaftlich fassen und erklären zu können. Aus dieser Sicht ist alles, was sich nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden greifen lässt, irreal oder unwesentlich, sagt Tobias Müller, Dozent für Naturphilosophie an der Münchner Hochschule für Philosophie:
"Dann haben mit dem Erfolg der Naturwissenschaft diese Tendenzen eingesetzt, dass ich auch den Menschen restlos mit diesen Mitteln erklären kann. Und ihn restlos auf funktional-kausale Zusammenhänge, etwa das Feuern der Neuronen oder Gene, reduzieren kann. Und das ist ja heute noch aktuell. Denken Sie an die Debatte um die Willensfreiheit. Dass man sagt: Nicht der Mensch, nicht die Person entscheidet, sondern eigentlich ist es das Gehirn, dass das tut."
So meinen bekannte Hirnforscher wie Gerhard Roth aus Bremen und Wolf Singer aus Frankfurt: Die Freiheit des menschlichen Willens sei ein Mythos. Sprich: Während jemand gedanklich noch vermeintlich verschiedene Möglichkeiten abwägt, hat sein Gehirn die Entscheidung längst getroffen.
"Das ist eine große Herausforderung, weil wir uns dann nur noch als determinierte Biomaschinen verstehen. Bis hin dazu, dass wir uns unterhalten müssten, ob das menschliche Leben überhaupt noch eine Würde hat oder ob es Menschenrechte gibt. Weil dann sind wir letztlich nur noch eine komplexe Ansammlung von Materieteilchen. Eine reduktionistische Sicht auf die Menschen würde die gesamte Gesellschaft verändern, indem wir etwa auch das Strafrecht abschaffen müssten, weil dann keiner mehr Verantwortung für sein Handeln hätte."
Auch als Vertreter der Philosophie betont Müller die Stärken der Naturwissenschaft: Physik, Biologie und Chemie könnten sehr exakte und überprüfbare Ergebnisse liefern. Gleichzeitig würden sie aber methodisch an Grenzen stoßen: So beschreibe die jeweilige Naturwissenschaft nicht die Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit unter einer bestimmten Perspektive.
"Ich hab ein Beispiel, was ich meinen Studenten immer sage: Wenn man ein Eichhörnchen nimmt und es fallen lässt, und daran das Weg-Zeit-Gesetz ableiten will, dann betrachtet man dieses Eichhörnchen als reinen Massepunkt in der klassischen Mechanik. Ich blende alles andere aus: Dass es lebendig ist, dass es Stoffwechsel hat, dass es vielleicht Angst hat, wenn ich irgendwelche Versuche mit ihm mache. Das alles klammere ich aus. Es gibt eine Konzentration auf die wesentlichen Fragen der Physik."
Tobias Müller und seine Kollegen wollen dem reduktionistischen Naturbegriff etwas entgegen setzen: In einem Forschungsprojekt loten sie die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis aus. So mancher dürfte dies als anmaßend oder übergriffig empfinden. Nicht so Astrophysiker Harald Lesch. Er ist selbst Lehrbeauftragter an der Hochschule für Philosophie in München und unterstützt das Ansinnen.
"Physik ist amoralisch. Also amoralisch im Sinne von: Es gibt keine moralischen Begriffe in den Naturgesetzen. Es gibt auch keine religiösen Begriffe in den Naturgesetzen. Das bedeutet, wir sind als diejenigen, die das machen, aufgefordert, mit unserem Verstand und unserer Vernunft uns selbst Grenzen zu ziehen bei dem was wir tun."
Naturwissenschaftler könnten davon profitieren, sich mit Vertretern aus Philosophie und Theologie auszutauschen, meint Harald Lesch. Der interdisziplinäre Ansatz könne Physik, Biologie und Chemie weiterbringen.
"Die Wirklichkeit besteht eben nicht nur aus der Laborsituation oder der Situation, hinter einem Teleskop zu sitzen. Wer versucht, eine Metaphysik etwa aufzubauen, ohne das Phänomen, dass es Menschen gibt, die Ziele haben, Hoffnungen, Visionen, der wird die Welt nicht vollständig erklären. Die wichtigsten Dinge in unserem Leben sind auf jeden Fall nicht messbar, sie machen aber die wunderbaren Momente des Lebens aus."
Eine Voraussetzung gibt es, betont Tobias Müller: Die Suche nach den Grenzen der Naturwissenschaft müsse deren modernen Erkenntnissen standhalten. Deshalb setzt der Naturphilosoph darauf, dass seine Anfragen etwas bewirken:
"Dann könnte das dahingehend weiterhelfen, dass man gewisse Forschungszweige von zu großen Erwartungen befreit. So können etwa Neurowissenschaften helfen, eine medizinische Therapie zu entwickeln. Und das ist die große Stärke. Aber wenn Neurowissenschaften sagen, unsere Aufgabe ist es zu zeigen, dass es keine Willensfreiheit gibt oder wir suchen die Seele oder den Geist, dann ist das eine Art Kategorienfehler, weil die Naturwissenschaften gar nicht die Kategorien haben, nach diesen Fragen zu suchen."
Müllers Ziel: Der Mensch soll nicht auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse reduziert werden. Wenn Philosophie und Naturwissenschaft bereit seien ihre jeweils eigene Perspektive zu wechseln, könne das beide Disziplinen voranbringen – und zu insgesamt besseren Forschungs-Ergebnissen führen.