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Griechenland
"Entgegen unseren Interessen spielen wir das Land kaputt"

Linken-Fraktionschef Gregor Gysi lehnt das dritte Griechenland-Hilfspaket ab. Die Finanzhilfen dienten nur dazu, alte Schulden zu begleichen, sagte Gysi im DLF. Deswegen werde seine Fraktion bei der Bundestagsabstimmung dagegen stimmen. Das Land brauche eine Art Marshallplan, wie ihn Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen habe.

Gregor Gysi im Gespräch mit Gerhard Schröder |
    Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke, spricht am 05.05.2015 während einer Fraktionssitzung in Berlin.
    Der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Gregor Gysi, lehnt das dritte Hilfsprogramm für Griechenland ab. (dpa / picture-alliance / Maurizio Gambarini)
    Schröder: Herr Gysi, das dritte Rettungspaket für Griechenland steht: 86 Milliarden Euro sollen an Athen fließen – darauf haben sich die Gläubiger mit der Regierung in Athen geeinigt. Das griechische Parlament hat bereits zugestimmt, auch den damit verbundenen Sparauflagen. Der Grexit, die Staatspleite, mit dem dann auch damit verbundenen Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro, scheint damit vorerst verhindert. Sind Sie erleichtert?
    Gysi: Teils, teils. Ich bin erleichtert, dass es zu keinem Grexit kommt, weil ich den nach wie vor für eine Katastrophe halte, und zwar vor allen Dingen, weil die eigene griechische Währung, die Drachme, so abgewertet werden würde, dass das natürlich zur Verarmung und Verelendung des Landes führt. Es hätte nur einen Vorteil, dass ihr Export billiger wären – das würden sie auch nutzen. Das ist immerhin verhindert worden. Das Falsche an dem ganzen Paket besteht darin, dass wir nach wie vor nicht begriffen haben, dass wir einen anderen Weg gehen müssen.
    Ich will es ganz kurz machen. Wir stehen vor der Frage: Muss man Griechenland abbauen oder aufbauen? Die meisten Milliarden, die zur Verfügung gestellt werden, dienen ja nur dazu, alte Schulden zu bezahlen. Es ist ein Kreislauf: Da müssen wieder neue Schulden gemacht werden, um die alten Schulden zu bezahlen, und das wird immer so weiter gehen. Also wäre doch die Kernfrage: Wie kommen wir zu einem Aufbau Griechenlands? Wenn ich aber die Renten kürze, wenn ich Steuern erhöhe, und zwar falsche, die Verbrauchssteuern, ich rede jetzt nicht von der Einkommenssteuer, das kann ja ganz vernünftig sein, aber wenn ich zum Beispiel die Mehrwertsteuer erhöhe für die Inseln, die da privilegiert sind, dann bedeutet das, dass ich den Tourismus erschwere. Wenn ich den Tourismus erschwere, dann baue ich die wichtigste Einnahmequelle Griechenlands ab, dann haben die noch weniger Steuereinnahmen, dann können sie ihre Schulden nicht zurückbezahlen. Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Wir haben doch unsere eigenen Erfahrungen gemacht nach 1945. Da haben wir keinen Abbauplan bekommen, sondern den Marshallplan bekommen, das war ein Aufbauplan. Das braucht der Süden Europas auch. Und das Zweite, was ich nicht verstehe ist, als wir hier eine Finanzkrise hatten, haben wir nicht Renten gekürzt, haben wir nicht die Mehrwertsteuer erhört, sondern haben wir das Kurzarbeitergeld verlängert und eine Abwrackprämie bezahlt für Autos, um Investitionen zu ermöglichen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Und bei Griechenland, Spanien und Portugal machen wir immer das Gegenteil; dabei wissen wir es doch besser. Das ist das, was mich daran stört.
    Schröder: Also Fazit: Besser kein Rettungspaket als dieses Rettungspaket?
    Gysi: Nein, das sage ich nicht. Aber wir sind ja nicht in der Regierung, und deshalb sage ich Ihnen auch: Wenn ich in Griechenland im Parlament gesessen hätte, schweren Herzens hätte ich mit "Ja" gestimmt. Ich wäre zwar erpresst gewesen, aber ich hätte gesagt: Ich muss Not und Elend verhindern, dafür muss ich das in Kauf nehmen, auch wenn es zum Teil falsche Schritte sind. Wenn ich allerdings in Deutschland im Parlament sitze, dann bewerte ich ja die Politik meiner Regierung, und die muss ich äußert kritisch sehen und deshalb werde ich mit "Nein" stimmen.
    Schröder: Herr Gysi – Pardon, – das ist doch politische Schizophrenie.
    Gysi: Nein, überhaupt nicht.
    Schröder: Sie können doch hier nicht ablehnen, was in Griechenland richtig wäre.
    Gysi: Doch. Und zwar kann ich das deshalb, weil ich einmal an der Seite der Erpressten bin und einmal an der Seite der Erpresser. Es tut mir Leid, das ist ein gewaltiger Unterschied.
    "Ich möchte, dass wir Strukturen in Griechenland verändern"
    Schröder: Aber das Ergebnis wäre das Gleiche, wenn Sie hier dagegen stimmen würden und ausreichend Abgeordnete Ihnen folgen würden, dann gäbe es kein Rettungspaket.
    Gysi: Ja, dann wäre das was anderes. Nein, dann würde ja die Bundesregierung, wenn sie unsere Stimmen brauchte, auf mich zukommen. Dann würden sie mit uns reden und dann hätten wir ein paar Bedingungen anders gestaltet, dann könnte man auch "Ja" sagen. Ich habe das übrigens schon im Februar gesagt. Ich habe gesagt: Wir werden "Ja" sagen, wenn es ein Hilfspaket zum Aufbau Griechenlands gibt. Wenn es aber ein Hilfspaket gibt, was wiederum Griechenland abbaut, dann werden wir "Nein" sagen. Ich habe jetzt natürlich noch nicht alle Details studiert, aber alles, was ich gehört habe, da ist es so, es gibt ein paar vernünftige Maßnahmen, aber es gibt ein paar vernünftige Maßnahmen…
    Schröder: … Zum Beispiel?
    Gysi: Zum Beispiel endlich die Erhebung der Vermögenssteuer, vielleicht auch einen höheren Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer – weil es gibt ja auch sehr reiche Griechen, die ja bisher völlig verschont geblieben sind. Das ist natürlich nicht hinnehmbar. Und, übrigens, lag das an der Troika, nicht an der neuen griechischen Regierung. Die neue griechische Regierung wollte die ja höher besteuern, da hat die Troika gesagt, hat die Bundesregierung gesagt: 'Nein, das schadet der Wirtschaft' und so ein Blödsinn wurde da immer erzählt.
    Schröder: Wenn Sie mit "Nein" stimmen, das Rettungspaket ablehnen, lassen Sie dann Ihren politischen Verbündeten in Athen, nämlich den Regierungschef Alexis Tsipras, nicht im Regen stehen? Der hat ja gegen große innere Widerstände in der eigenen Partei für dieses Rettungspaket gekämpft.
    Gysi: Ja. Nein, überhaupt nicht, weil ich meine Solidarität mit ihm auch in meiner Wortmeldung zum Ausdruck bringen werde. Und deshalb sage ich ja: In Griechenland hätte ich an seiner Seite gestimmt. Allerdings hätte ich dazu gesagt: Ich fühle mich erpresst! Aber in Deutschland müsste ich – ich sage es jetzt mal so knallhart – den Erpressern sagen: 'Ihr hattet Recht.' Dazu habe ich wirklich keine Lust. Ich möchte sagen: 'Nein, Ihr hättet euch anders verhalten müssen: Ihr hättet viel mehr an den Aufbau statt an den Abbau Griechenlands denken müssen.' Deshalb ist es nicht identisch, wie ich mich verhalte in dem einen Land und in dem anderen Land.
    Schröder: Können Sie Alexis Tsipras eigentlich verstehen?
    Gysi: Ja.
    Schröder: Er hat ein Referendum gegen die Sparauflagen in die Welt gesetzt, hat dagegen votiert und macht nun genau das Gegenteil: Er setzt ein Rettungspaket durch mit Sparauflagen, die er vorher abgelehnt hat. Können Sie da eine Strategie dahinter erkennen?
    Gysi: Die Regierung ist sehr jung. Ich sage gar nicht, dass sie fehlerfrei ist, aber ich glaube, das Votum brauchte er, um die Meinung der Bevölkerung zu kennen und um auch Europa zu sagen, dass es eigentlich um eine alternative Politik geht. Aber es ist natürlich ein Kampf wie David gegen Goliath. Wie soll er 18 andere Regierungen so ohne Weiteres umstimmen – das ist ja sehr, sehr schwierig –, darunter so mächtige, wie die deutsche. Trotzdem, er hat jetzt natürlich andere Bedingungen durchgesetzt. Ich sage noch mal: Vermögenssteuer, Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der Einkommenssteuer – ist alles von der Troika abgelehnt worden. Das, immerhin, bekommt er! Die Mehrwertsteuer, da konnte er wenigstens Ausnahmen durchsetzen. Ich will jetzt da gar nicht ins Detail gehen. Er wird natürlich sagen, was er trotzdem noch erreicht hat und er wird auch sagen, dass der Volksentscheid geholfen hat, das überhaupt erreichen zu können, weil ihn die Gesprächspartner ernster genommen haben. Ich bin nicht in seiner Rolle, und ich werde mich nicht zu seinem Oberlehrer aufspielen, aber ich möchte, dass wir Strukturen in Griechenland verändern. Was wir wirklich brauchen, ist eine Bekämpfung der Korruption. Das geht überhaupt nur mit dieser Regierung, weil sie nie daran beteiligt war an der Korruption, also muss man es doch mit ihr versuchen. Das sage ich meiner Regierung. Was wir brauchen, ist eine vernünftige Steuerfahndung, die Steuerhinterziehung wirksam bekämpft und das nicht als Kavaliersdelikt abtut, wie das bisher in Griechenland der Fall war. Also müssen wir dort die Strukturen verändern. Ich habe nie gesagt, dass wir da nicht Dinge verändern müssen. Das wird höchste Zeit, kann ich nur sagen, zum Teil, und dann sind sie auch in der Lage, einen Aufbau zu erleben. Und wenn sie in der Lage sind, einen Aufbau zu erleben, na ja, vielleicht kommt dann auch die Zeit, wo sie ernsthaft anfangen können, die Schulden zurückzubezahlen.
    "Wir müssen selber ein Interesse daran haben, dass Griechenland aufgebaut wird"
    Schröder: Also könnte dieses Rettungspaket doch die Basis sein, das Fundament, auf dem Griechenland, die Wirtschaft, wieder ans Laufen kommt und dann vielleicht auch die Schulden in den Griff kriegt?
    Gysi: Na ja, ich mache mal ein großes Fragezeichen. Die Rentenkürzungen sprechen dagegen. Die Mehrwertsteuererhöhung auf den Inseln spricht dagegen. Es gibt sozusagen bestimmte Dinge, die sprechen dagegen, die sprechen wieder eher für Abbau. Aber wissen Sie, manchmal verläuft Geschichte anders, als man denkt. Die scheinbaren Verlierer eines Prozesses werden gelegentlich auch zu den Siegern. Und deshalb bin ich gar nicht so sicher, was da am Ende steht. Nur über Eines müssen wir uns doch auch im Klaren sein: Wir brauchen nicht für Griechenland – wie manche sagen –, sondern für die gesamte Eurozone eine Schuldenkonferenz. Wir müssen uns Gedanken machen – verstehen Sie –, was wir mit den Schulden von Deutschland bis Irland anfangen, ob das einfach so weitergehen soll oder ob wir einen anderen Weg brauchen. Darf ich noch ein historisches Beispiel nennen: Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland zu über 600 Milliarden Euro Reparationsleistungen verpflichtet. Die letzte Rate haben wir – weiß ich nicht genau – ’98, glaube ich, bezahlt. Das heißt, wir haben 92 Jahre lang an diesen Reparationen bezahlt und machen einen Wirbel bei anderen Ländern, dabei haben wir das alles schon durchgemacht in unserer Geschichte und sollten uns mal erinnern, wie für uns die Bedingungen aussahen und wie man uns auch entgegengekommen ist.
    Schröder: Das Rettungspaket wird es nur geben, wenn der Bundestag zustimmt. Die Linkspartei wird mehrheitlich dagegen stimmen.
    Gysi: Würde ich denken. Wir werden uns das noch alles ansehen; wir werden das natürlich beraten in aller Ruhe, aber im Augenblick, was ich gehört habe, spricht Vieles für ein "Nein".
    Schröder: Es wird einige Gegenstimmen in der Union geben.
    Gysi: Ja.
    Schröder: In der Abstimmung im Juli waren es 60 Abgeordnete. Fraktionschef Volker Kauder hat nun den Neinsagern gedroht mit Konsequenzen. Wird die Regierung nervös?
    Gysi: Natürlich – er wird vor allen Dingen nervös. Was ist denn das für ein Bild, wenn du eine Fraktion leitest und ein Fünftel macht nicht mit und dann wird es vielleicht sogar ein Viertel und so weiter – die Zahlen sind ja steigend. Das liegt natürlich an einem völlig falschen Bild, das wir haben. Das falsche Bild liegt daran, dass viele in der Bevölkerung – auch aufgrund einer sehr bebilderten Zeitung – glauben, dass wir schon Milliarden bezahlt hätten an Griechenland. Man muss natürlich wissen: Deutschland hat nicht einen Euro an Griechenland bezahlt, nicht einen Euro! Der IWF hat seine eigenen finanziellen Mittel, da müssen wir gar nichts mehr einbezahlen, und die Europäische Zentralbank druckt ihr Geld selbst. Wann wir haften, kann ich Ihnen auch sagen, weil meine Regierung gegen meinen Willen unterschrieben hat, dass wir für 27 Prozent der Schulden von Irland, Zypern, Spanien, Portugal und Griechenland haften, falls die nicht zurückzahlen. Das ist ja der Irrsinn: Wenn wir Griechenland pleite machen, dann haften wir für 27 Prozent der Schulden Griechenlands. Na, das wird vielleicht ein teures Vergnügen! Deshalb sage ich immer: Ich verstehe es nicht, wir müssen doch selber ein Interesse daran haben, dass Griechenland aufgebaut wird, seine Schulden, zumindest zum größten Teil, selbst zurückbezahlen kann und wir mithin nicht mit 27 Prozent haften. Und wir machen die ganze Zeit die gegenteilige Politik und spielen das Land kaputt, entgegen den eigenen Erfahrungen – Marshallplan, eigene Finanzkrise –, entgegen internationalen Erfahrungen.
    Gysi: Gerechtigkeit in der Flüchtlingsfrage durch innereuropäische Ausgleichszahlungen
    Schröder: Das Interview der Woche mit Gregor Gysi, Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag. Herr Gysi, 450.000 Flüchtlinge werden in diesem Jahr nach Deutschland kommen – das war bislang die Schätzung der Bundesregierung. Jetzt sagt Innenminister Thomas de Maizière, es werden noch viel mehr werden. In der nächsten Woche sollen dazu genauere Zahlen vorgelegt werden. Beunruhigt Sie das? Stoßen wir an Grenzen, was die Unterbringung, Versorgung, auch Integration von Flüchtlingen anbetrifft?
    Gysi: Na ja, vor allen Dingen stoßen wir an Grenzen der Verträglichkeit in unserer Bevölkerung – das ist ja das Entscheidende. Wir haben ja eine gespaltene Bevölkerung. Es gibt viele, die helfen freiwillig, die machen wirklich eine Menge für die Flüchtlinge; und es gibt solche, die formulieren nur abstrakte Ängste, stellen sich dagegen, machen etwas dagegen – die Nazis nutzen das natürlich, um die Stimmung entsprechen zu schüren et cetera. Im Kern müssen wir Folgendes begreifen: Wir werden dieses Problem überhaupt nur meistern können, wenn wir neben einer für mich selbstverständlich anständigen Behandlung der Flüchtlinge, neben ihrer Rettung im Mittelmeer – was ebenso selbstverständlich sein muss –, endlich den Weg gehen, die Fluchtursachen zu bekämpfen: Kriege, Hunger, Elend und Not.
    Schröder: Das geht nur langfristig. Innenminister Thomas de Maizière sagt: Wir müssen auch die Leistung, zum Beispiel für Asylbewerber, überprüfen. Ist das ein richtiger Schritt?
    Gysi: Sie hatten mich doch gefragt, ob wir das verkraften. Darf ich Ihnen noch sagen, dass ich im Nordirak war. Der Nordirak hat 20 Prozent seiner Bevölkerung noch mal als Flüchtlinge bekommen, übrigens, der Libanon auch. Also, wenn wir 20 Prozent unseres Bevölkerungsanteils an Flüchtlingen bekämen, dann wären das 16 Millionen, dann könnten wir ja den Laden dicht machen, um es auch mal ganz klar zu sagen. Deshalb sage ich mal: Die Leistungsgrenzen sind noch nicht erreicht, aber die Probleme sind ernst zu nehmen. Der Weg von de Maizière ist aus mehreren Gründen falsch. Erstens argumentiert er mit den Kosovo-Albanern und mit anderen. Aber du kannst nicht sagen: Ich verändere die Bedingungen für Flüchtlinge aus dem Kosovo und aus dem Balkan; das gilt aber nicht für die aus Syrien und aus dem Irak. Da wird das Bundesverfassungsgericht immer sagen: Vor dem Gesetz sind alle gleich, ich kann das nicht nach Nationalitäten ordnen. Also wird es aufgehoben werden. Aber das Zweite und das Entscheidende ist – ich bin auch für Gerechtigkeit in der EU –, zwar sollen die Flüchtlinge sagen, wo sie hingehen möchten, aber wenigstens die Zahlung muss sozusagen im Verhältnis stimmen.
    Schröder: Mehr Sachleistung statt Geldleistung?
    Gysi: Halte ich für falsch. Weil das ist die naive Vorstellung, damit soll ja die Bevölkerung beruhigt werden, dass man sagt: Jetzt machen wir die Bedingungen für die Flüchtlinge schlechter und dann kommen weniger. Glauben Sie das im Ernst, wenn ich im Kriegszustand in Syrien wäre und nicht weiß, ob meine Familie überlebt, dass ich meine Entscheidung zu fliehen abhängig von der Frage mache, ob es Sachleistung oder Geld gibt? Glauben Sie im Ernst, wenn ich eine Familie hätte in Afrika, die kurz vor dem Verhungern steht, dass mich diese Frage interessieren würde? Das sind doch Illusionen, die wir da haben. Wenn wir nicht ernsthaft anfangen, die Fluchtursachen zu bekämpfen, werden wir mit solchen Schikanen und Drangsalierungsmaßnahmen das Problem mit Sicherheit nicht lösen.
    Schröder: Dann halten Sie vermutlich auch nichts von Vorschlägen, die in der Union diskutiert werden, aber auch in Polizeikreisen, nämlich die Grenzkontrollen wieder einzuführen?
    Gysi: Und was heißt das? Dann sagen wir: Das sollen die Polen machen oder es sollen die Tschechen machen? Ich habe ja nichts gegen Gerechtigkeit in Europa, aber ich finde schon, dass Menschen auch mal entscheiden können müssen, wo sie hingehen. Aber für Gerechtigkeit bin ich schon. Wenn wir mehr Flüchtlinge bekommen, entsprechend unserem Bevölkerungsanteil, als Polen entsprechend dem Bevölkerungsanteil, dann müssen die Polen auch was bezahlen oder andere Länder was bezahlen – wissen Sie –, damit das ein bisschen gerechter wird.
    "Wir müssen Qualifikationen aus anderen Ländern anerkennen"
    Schröder: Viele Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland kommen, kommen vom Balkan. Unionsfraktionschef Volker Kauder sagt nun: 'Die meisten Asylanträge sind unbegründet und wenn sie offensichtlich unbegründet sind, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie innerhalb von vier Wochen wieder in die Heimat abgeschoben werden.' Ist das ein richtiger Schritt?
    Gysi: Es ist auch eine sehr vorübergehende Maßnahme, weil es ja nicht hilft, die kommen ja irgendwie wieder. Also das ist zumindest meine Erfahrung, außerdem kostet das auch eine ganze Menge Geld, übrigens, die Abschiebung. Dann sind die Situationen natürlich unterschiedlich. Wir müssen es natürlich prüfen – natürlich! Ich meine, Sie müssen mich ja nicht überzeugen, dass die ganze Menschheit in Deutschland keinen Platz hat. Das wissen auch wir, das weiß auch ich, das weiß auch Herr Ramelow – der im Übrigen auch an die Gesetze gebunden ist und die in Thüringen auch einhält. Dazu gehört dann auch, dass man sich mal von Leuten verabschieden muss, wo es nun wirklich keinen Notfall gibt. Wir sind ja immer dafür zu sagen: Menschen in Not müssen wir aufnehmen. Aber es kommen natürlich auch Menschen, die nicht in Not sind – das ist wahr –, da muss man einen anderen Weg finden. Und den werden wir auch finden. Aber er muss menschlich sein, und er muss dann auch so sein – wissen Sie –, dass immer damit Perspektiven verbunden sind. Was ich nicht mag, wenn ich das mal ganz klar sagen darf, ist unsere These, dass wir immer mehr Fachleute aus dem Ausland benötigen – deshalb denken die ja jetzt über zwei verschiedenen Visen nach und so weiter – und dass wir dann aus der Dritten Welt die Fachleute abziehen. Vielleicht braucht die Dritte Welt ihre Fachleute. Wenn wir nämlich wiederum die Fluchtursachen bekämpfen wollen, ist es vielleicht ein Fehler, der Dritten Welt die Fachleute zu entziehen, auch noch nach Deutschland zu entziehen.
    Schröder: Sie haben den demografischen Wandel, Fachkräftemangel, der droht, genannt – müssen wir also insgeheim froh sein, dass so viele zu uns kommen? Ist das eine Chance, um zum Beispiel den demografischen Wandel zu bewältigen, wenn es uns gelingt, die Flüchtlinge schnell zu integrieren?
    Gysi: Erstens, müssen wir integrieren – das ist ganz klar. Wir müssen auch Qualifikationen aus anderen Ländern anerkennen. Wenn noch was nachzuholen ist in der Qualifikation, müssen wir das anbieten, möglichst gebührenfrei, damit wir die Fachleute dann auch entsprechend haben und bekommen. Da hat sich einiges ein bisschen erleichtert und verbessert, aber da müssen wir noch viel tun. Nur, warum haben wir denn so wenige Kinder? Warum sterben denn jedes Jahr mehr Deutsche, als geboren werden? Hat das vielleicht auch mit der Situation in unserem Land zu tun? Jetzt gibt es gerade eine Studie, wie Frauen benachteiligt werden nach der Geburt eines Kindes – muss man das nicht vielleicht verändern?
    Schröder: Blicken wir aber noch mal auf die Flüchtlinge. Die SPD schlägt vor, gerade auch um Menschen auf dem Balkan eine Perspektive, eine Einwanderungsperspektive zu bieten, für Deutschland Arbeitsvisa für Menschen auf dem Balkan einzuführen. Gefällt Ihnen die Idee?
    Gysi: Nein, nicht besonders, ehrlich gesagt – außerdem brauchte ich dann immer eine Übereinstimmung mit dem Land. Wir können ja höchstens Fachleute aus dem Land zu uns locken, die dort nicht benötigt werden – verstehen Sie. Aber wenn sie dort benötigt werden zur Entwicklung des Landes, dann ist das wieder sehr egoistisch gedacht zu glauben: Ich hole sie zu mir, die haben dann eben größere Probleme – na und, was geht uns das an. So nach dem Motto. Und dann kommen die Flüchtlinge und dann beschweren wir uns wieder. Verstehen Sie, wir müssen mal an die Kreisläufe denken. Also, wenn die sagen: Wir haben sowieso zu viele Ärztinnen und Ärzte, okay, dann kann man das machen. Wenn sie aber sagen: Nein, wir haben so wenige Ärztinnen und Ärzte, dann ist es unfair, sie mit Geld zu locken und zu sagen: Wir bringen euch in noch größere Probleme, zumal – ich sage es noch mal – dann wir wieder mehr Flüchtlinge bekommen.
    Schröder: Das heißt, eine gezielte, gesteuerte Einwanderung über ein Einwanderungsgesetz, sehen Sie auch skeptisch?
    Gysi: Na ja, das sehe ich skeptisch, aber ich habe ja nichts dagegen. Ich sage noch einmal: Wenn ein Land zu viele Fachkräfte auf einem bestimmten Gebiet hat und selber nicht weiß, wie sie diese Leute unterbringen sollen und wir brauchen die dringend, dann kann man sich doch darüber verständigen. Da bin ich der Letzte, der dagegen ist. Ich bin nur dagegen, dass wir ihnen die Fachkräfte entziehen, die sie selber benötigen, weil wir das wieder letztlich bezahlen. Wir vergessen das immer.
    Schröder: Also ein Einwanderungsgesetz brauchen wir nicht?
    Gysi: Nicht unbedingt. Wir haben ja genügend Vorschriften – und die gefallen mir zum Teil überhaupt nicht. Da heiraten Leute, dann dürfen die nicht zusammen ziehen, weil jemand nicht richtig Deutsch kann. Nun weiß ich natürlich auch, dass es Scheinehen gibt, aber wir können nicht die Scheinehe zum Prinzip erklären und nur Misstrauen setzen – das geht mir alles auf die Nerven, ehrlich gesagt. Wenn überhaupt, dann müssen es gesetzliche Regelungen sein, die den Weg erleichtern. Aber da misstraue ich einfach meiner Regierung; ich weiß schon, was die für Gesetze mir vorlegen, und da sitzt mein Misstrauen relativ tief. Aber ich will es noch mal sagen – wirklich –, weil wir müssen das jetzt endlich begreifen: Wenn wir nicht anfangen, die Weltprobleme zu lösen, kommen die Weltprobleme zu uns. Und die Weltprobleme, die zu uns kommen – auch in Form von Flüchtlingen –, kriegen wir nicht gelöst mit "Sachleistung statt Bargeld".
    "Wenn ich einen Lebensabschnitt abschließe, dann freue ich mich auf den nächsten"
    Schröder: Das Interview der Woche mit Gregor Gysi, dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag. Herr Gysi, am 13. Oktober ziehen Sie sich von der Spitze der Fraktion der Linkspartei zurück. Mit welchen Gefühlen blicken Sie diesem Tag entgegen? Sie waren ja seit 25 Jahren in verschiedenen Funktionen an der Spitze von Fraktion oder Partei. Überwiegt da die Erleichterung, diesen Stress in der Politik endlich los zu sein oder überwiegt die Wehmut, dann vielleicht doch nicht mehr so im Mittelpunkt zu stehen?
    Gysi: Wissen Sie, wahrscheinlich bin ich ein bisschen doof, habe ich mir überlegt, aber ich freue mich jeden Tag darauf. Es kann ja sein, dass hinterher sogar ein bisschen Wehmut kommt, aber die sehe ich überhaupt noch nicht. Wirklich wahr, ich habe diese Entscheidung von mir nie eine Sekunde bereut aus mehreren Gründen – ich kann Ihnen drei nennen, ganz schnell. Das Eine ist, ich habe ja erlebt in der DDR, der Honecker, glaube ich, ist 1950 ins Politbüro gekommen und wäre 1990 noch mal für fünf Jahre zum Generalsekretär der Partei gewählt worden, wenn es nicht die Wende, wenn es nicht die Erhebung der Bevölkerung gegeben hätte. Aber in der Bundesrepublik habe ich auch eine negative Erfahrung gemacht: Die Politiker gehen immer erst, wenn sie auf dem absteigenden Ast sind. Sie haben einen Zenit, auch in ihrem Ansehen, da fühlen sie sich wohl, das wollen sie genießen, und sie denken, das bleibt immer so. Und dann plötzlich fallen sie runter, dann bauen sie ab und dann gehen sie. Und dann habe ich gesagt: 'Nee, Gysi, den Fehler begehst du nicht.' Ich glaube, ich habe im Augenblick so ein bisschen den Zenit meines Ansehens erreicht in der Gesellschaft. Und deshalb gehe ich jetzt! Nicht erst, wenn sich das alles wieder abbaut und Sie mich dann fragen: 'Sagen Sie mal, wollen Sie das wirklich noch mal ernsthaft drei Jahre machen? Sie sind doch jetzt schon völlig verduddelt und so.' Nein, das wollte ich nicht. Der dritte Grund ist der: Es gibt Menschen, die sehnen sich immer nach dem Lebensabschnitt zurück, den sie hinter sich gelassen haben. Also wenn sie studieren, wollen sie wieder Schüler sein, wenn sie in Arbeit sind, wollen sie wieder studieren und so weiter. Der Typ bin ich nicht! Wenn ich einen Lebensabschnitt abschließe, dann schließe ich ihn ab und freue mich auf den nächsten – und deshalb freue ich mich auf den nächsten.
    Schröder: Bis 2017 sind Sie noch Abgeordneter im Bundestag – dann ist auch damit Schluss?
    Gysi: Das weiß ich noch nicht. Das, habe ich gesagt, werde ich 2016 entscheiden. Das hängt von meiner Entwicklung ab, von der Entwicklung der Fraktion ab, von anderen Dingen ab. Das werde ich mir gründlich überlegen. Und 2016 muss ich entscheiden, ob ich es noch mal versuche oder nicht. Aber erst mal bleibe ich auf jeden Fall bis 2017, weil ich niemals Wählerinnen und Wähler betrüge. Und die Wählerinnen und Wähler in Treptow-Köpenick haben mich direkt für vier Jahre in den Bundestag gewählt, also mache ich dort auch die vier Jahre und habe vielleicht sogar ein bisschen – also hoffe ich – mehr Zeit für meinen Wahlkreis und kann da mehr machen, als in der Vergangenheit.
    Schröder: Mit Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht werden voraussichtlich die beiden prominentesten Vertreter der Flügel in der Linkspartei Ihre Nachfolge antreten. Drohen damit auch die Machtkämpfe, die Grabenkämpfe in der Partei wieder aufzubrechen?
    Gysi: Also ich hoffe – aber das ist natürlich nur eine Hoffnung –, dass das Gegenteil passiert. Ich habe sie ja auch beide vorgeschlagen. Ich hoffe, dass sie den Ausgleich finden, und zwar nicht zwischen sich, das nicht, sondern für die Fraktion, für die Partei. Ich sage immer den einen: Wenn es die anderen nicht gäbe, würdet ihr sofort von der politischen Bühne verschwinden; und den anderen sage ich: Ihr würdet zwar nicht sofort verschwinden, aber allmählich verschwinden. Mit anderen Worten: Ihr seid eigentlich gegenseitig aufeinander angewiesen.
    Schröder: Und das haben sie verstanden?
    Gysi: Die beiden, die haben das schon verstanden, ich glaube schon. Das ist auch ihre Aufgabe, und ich hoffe auch, dass sie das hinbekommen. Das ist nicht leicht für sie, aber ich denke, dass sie das hinbekommen. Sehen Sie mal, ich bin eigentlich harmoniesüchtig, aber du kannst mich auch so reizen, wie vor Göttingen, dass ich dann eine solche Rede halte, wie dort auf dem Parteitag, wo ich ja wirklich also Fraktur gesprochen haben.
    Schröder: Da haben Sie von dem Hass in den eigenen Reihen gesprochen.
    Gysi: In der Fraktion, ja.
    Schröder: Der ist überwunden?
    Gysi: Ja, Der ist überwunden. Aber ich glaube, es lag auch daran, dass ich eine solche scharfe Rede gehalten habe, weil sie sich erschreckt haben, verstehen Sie. Weil diese Wichtigtuerei von Abgeordneten, das kann einem auch auf die Nerven gehen. Jeder hat so seine Grüppchen, die er befriedigen muss, und was die Gesamtwirkung ausmacht – verstehen Sie –, das spielt dann kaum eine Rolle.
    "Die SPD ist derzeit ein Luschenverein"
    Schröder: Herr Gysi, Ihr Ziel war es immer, die Linkspartei auf Bundesebene regierungsfähig zu machen. Rot-Rot-Grün wäre eine Option gewesen – ist sie das für 2017 noch ernsthaft?
    Gysi: Also erstens: Regierungsfähig, dazu gehört ja nicht viel. Schauen Sie sich mal die heutigen Parteien an, wozu die fähig sind – also das könnten wir ja nun schon lange. Aber zweitens: Im Augenblick klingt es nicht sehr realistisch. Das hat drei Gründe. Erstens, reichen mir die Gespräche zwischen SPD, Linken und Grünen nicht aus. Zweitens, es gibt keine politische Wechselstimmung. Es reicht ja nicht ein Personalwechsel, es muss eine politische Wechselstimmung geben in der Bevölkerung – so, wie wir die in Berlin erlebt haben nach Diepgen, vor Wowereit. Das war wirklich so eine Stimmung, wo die Bevölkerung einen politischen Wechsel wollte. Das haben wir noch nicht in der Bundesrepublik – es brodelt so unter der Oberfläche. Und Drittens kennen wir auch die Arithmetik des nächsten Bundestages noch gar nicht. Es muss ja erst mal arithmetisch gehen, also es müssen ja SPD, Linke und Grüne eine Mehrheit haben. Aber letztlich kann man das heute noch gar nicht sagen. Ein Stimmungswechsel kann auch schnell eintreten. Wenn wir in eine Regierung gehen, müssen wir trotzdem gesellschaftlich in gewisser Hinsicht Opposition bleiben – das ist nicht leicht, aber zu schaffen. Und wir müssen kompromissfähig sein, dürfen aber unsere Identität nicht aufgeben – das klingt leicht, ist aber schwer.
    Schröder: Notwendig wäre aber auch, dass die möglichen Bündnispartner wollen. Bei SPD und Grünen ist das derzeit doch nicht erkennbar?
    Gysi: Ja, wissen Sie, dagegen habe ich ja nichts. Wenn es an SPD und Grünen scheitert, gut; ich möchte nur nicht, dass es an uns scheitert. Das ist mein Wille und deshalb müssen wir offensiv sein. Wenn wir immer schon sagen: Ach, das geht sowieso nicht mit denen – verstehen Sie –, dann entlasse ich die ja aus dem Druck, aus der Verantwortung. Nein, ich will die SPD unter Druck setzen: Was denn nun? Will sie Anhängsel der Union bleiben oder will sie mal wieder ein Gegenüber der Union werden. Ich meine, die diskutieren jetzt ernsthaft darüber, ob sie einen Kanzlerkandidaten aufstellen. Ich bitte Sie! Das ist doch nicht zu fassen! Die hatten mal Zeiten, da haben sie die Bevölkerung in Wallung gebracht mit ihrem Kandidaten Willy Brandt. Alles schied sich kulturell an dieser Figur – einer, der mit seinem Decknamen aus der Zeit des Kampfes gegen die Nazis antrat und so weiter. Das waren doch spannende Herausforderungen. Und was habe ich da jetzt für einen Luschenverein! Der denkt darüber nach, ob sie überhaupt noch einen Kandidaten aufstellen. Also ich bitte Sie – ich bin wirklich entsetzt! Man wird älter und muss immer noch dazu lernen.
    Schröder: Sie sprechen auf Torsten Albig, den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein an, der infrage gestellt hat, ob es überhaupt Sinn macht, einen eigenen Kandidaten für 2017 aufzustellen, angesichts der Dominanz von Angela Merkel und der Union. Also Sie hissen die weiße Fahne noch nicht?
    Gysi: Nein, natürlich nicht. Das darf man auch gar nicht. Nein, also ich wünschte mir natürlich eine SPD, die kämpferisch ist, die auch ein bisschen das Gegenüber sein will, die da auch mal Auseinandersetzungen führt – aber im Augenblick ist das alles ein bisschen luschig. Aber, wissen Sie, das kann sich ja auch wieder ändern. Ich bin ja ein Zweckoptimist und deshalb lasse ich mich von schlechter Laune nur ungern anstecken.
    Schröder: Herr Gysi, ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Gysi: Bitte.