Martin Zagatta: Die Frage, so spotten die Kollegen von der "taz", ist doch längst, was später fertig wird: der Stuttgart-21-Bahnhof, der Berliner Flughafen oder Angela Merkel mit ihrer Regierungsbildung? Ob sich die SPD nach ihrem kategorischen Nein zu einer 180-Grad-Wende und nun doch noch für Verhandlungen über eine Neuauflage der Großen Koalition entscheidet, das ist noch nicht entschieden. Aber die Sozialdemokraten haben schon einmal rote Linien gezogen für eine mögliche neuerliche Koalition: Glyphosat wird es mit der SPD nicht geben, so Martin Schulz wörtlich, und – und das ist offenbar der Knackpunkt – die Bürgerversicherung, ein Krankenkassensystem für alle – muss kommen, so heißt es aus der Parteispitze. Hilde Mattheis gehört zum linken Flügel der SPD, sie ist Vorsitzende des Forums Demokratische Linke 21, aber wir haben sie angerufen, weil sie auch Gesundheitsexpertin ist, bisher als gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Guten Morgen, Frau Mattheis!
Hilde Mattheis: Guten Morgen!
Zagatta: Frau Mattheis, warum ist denn der SPD die Bürgerversicherung so wichtig, dass die jetzt zum Knackpunkt für die Koalitionsgespräche werden könnte?
Mattheis: Wir haben bisher keine Knackpunkte formuliert, sondern es gibt Äußerungen, die im Prinzip darauf hindeuten, wir wollen auf jeden Fall eine Bürgerversicherung. Aber dass das jetzt schon rote Linien für eine Große Koalition sind, sehe ich nicht. Ich glaube, dass es einer generellen, anderen Herangehensweise unserer Partei bedarf. Wir wollen ja erst mal am Bundesparteitag überlegen, ob es generell Sondierungsgespräche gibt, und dann geht es ja in einen Prozess, wo die Partei mitgenommen wird. Und ich gebe Ihnen allerdings recht, die Bürgerversicherung ist eines unserer Herzensanliegen, die wir schon seit vielen, vielen Jahren haben. Und leider hat sich die Union ja in der letzten Legislatur nicht bewegt, wir wollten da schon die Parität wiederherstellen, die nicht zur Bürgerversicherung generell gehört, aber die eine Korrektur der schwarz-gelben Regierung gewesen wäre und eine Entlastung gewesen wäre.
"Ein Beleg dafür, was alles in einer Großen Koalition nicht geht"
Zagatta: Also dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleich zahlen, ja.
Mattheis: Genau.
Zagatta: Frau Mattheis, wenn Ihnen das in der Vergangenheit schon so wichtig war – also vor vier Jahren war es vielleicht nicht durchzusetzen, aber es hat ja auch eine rot-grüne Regierung schon gegeben –, warum haben Sie das in der Vergangenheit nicht durchgesetzt?
Mattheis: Genau das ist der Punkt, der im Prinzip auch immer wieder angebracht werden muss. Es ist ein Beleg in meinen Augen dafür, was alles in einer Großen Koalition nicht geht. Und von daher glaube ich, dass wir gut daran tun, sehr genau zu überlegen, ob wir wirklich in diese Gespräche gehen. Ich bin nicht dafür, weil ich erfahren habe in der letzten Legislatur, dass wir längst schon alles ausgereizt haben an Gemeinsamkeiten. Und wenn man die Bürgerversicherung anguckt und unsere Elemente für eine Bürgerversicherung ins Visier nimmt, dann muss man eben sagen: Wenn die CDU/CSU wirklich alle Einkommensarten zur Bebeitragung heranziehen will, dann wäre das ein so großer Sprung für die CDU/CSU, den ich im Moment nicht sehe.
Zagatta: Aber es spricht ja auch sehr vieles gegen diese Bürgerversicherung. Wir haben Argumente gerade in der Presseschau gehört. Aber um diesen Punkt jetzt noch mal klarzustellen: Also wäre jetzt die SPD-Parteispitze – so habe ich das jetzt in den vergangenen Tagen gelesen, Äußerungen von Herrn Lauterbach vor allem verstanden, also diesmal gehe es wirklich um die Bürgerversicherung, sonst sei eine Zustimmung der SPD zu Koalitionen nahezu ausgeschlossen –, so festgelegt sind Sie nicht?
Mattheis: Ich finde, man muss, wenn man die Bürgerversicherung ansieht, mindestens fünf Elemente formulieren, die auf jeden Fall dorthin führen. Das ist nicht nur die Heranziehung anderer Einkommensarten, das ist auch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, das ist auch die Möglichkeit von Leuten, die jetzt privat versichert sind wie zum Beispiel Beamte oder Selbstständige, in eine Bürgerversicherung einzutreten, es ist aber auch der erste Schritt, die Parität und die Angleichung der Gebührenordnung für privat Versicherte und gesetzlich Versicherte. Das ist ein sehr komplexes, ein ganz komplexes Thema, was wir uns da vornehmen, und wir sind da in der letzten Großen Koalition hart an die Grenzen gestoßen, schon allein was die paritätische Finanzierung anbelangt, die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung. Dass jetzt medial dagegengeschossen wird, zeigt doch, dass die konservative Presse, auch die konservativen Parteien wie CDU/CSU diese Dinge gar nicht wollen. Sie wollen nicht, dass im Prinzip die Möglichkeit besteht, von der privaten in eine Bürgerversicherung überzutreten.
"Wir wollen die Daseinsvorsorge"
Zagatta: Frau Mattheis, die Bevölkerung will das ja vielleicht auch nicht. Weil, es scheinen doch sehr viele Deutsche das anders zu sehen. Wenn laut einer kürzlichen Meinungsumfrage 90 Prozent sagen, sie sind mit unserem Gesundheitssystem zufrieden, dann steht da nicht im Raum, dass da ganz, ganz großer Handlungsbedarf gesehen wird!
Mattheis: Stopp! Es gibt auch andere Umfragen. Ich weiß, diese Umfrage kenne ich im Moment nicht, aber andere Umfragen belegen, dass die Bevölkerung zu einem ganz großen Teil will, dass wir in ein Bürgerversicherungssystem wechseln. Das würde nämlich auch bedeuten, dass im Prinzip das, was man unter Zweiklassenmedizin landläufig versteht, abgebaut wird. Die Leute wollen keine Zweiklassenmedizin. Sie sehen doch, wie das Gesundheitssystem, das immer teurer wird, aber auch an seine Grenzen stößt, weil im Prinzip diese zwei Klassen – privat Versicherte, gesetzlich Versicherte – immer wieder auch erfahrbar sind. Und sie wollen eine Versorgung, egal ob sie auf dem Land leben oder in der Stadt leben, egal wie ihre Lebensumstände sind. Und das ist unser Grundbedürfnis! Wir wollen die Daseinsvorsorge.
Zagatta: Frau Mattheis, darf ich …
Mattheis: Sie merken, ich bin da wirklich mit vollem Herzen dabei!
Zagatta: Darf ich auch mal Stopp sagen? Es gibt ja jetzt auch Leute, die sagen, das Gesundheitssystem funktioniert, gerade weil wir diese privaten Krankenversicherungen haben. Ein Beispiel nur: Die Krankenhäuser schreiben rote Zahlen, also sehr, sehr viele, und freuen sich über Privatpatienten, weil die mehr zahlen, weil die das dann auch für andere, so heißt es, mitfinanzieren. Wenn diese Einnahmen wegfallen, dann müssten doch Kliniken schließen, oder wie wollen Sie das ausgleichen?
Mattheis: Ich bitte Sie. Das ist eine landläufige Argumentation von Leuten, die im Prinzip diese Zweiklassenmedizin zementieren wollen. Es muss möglich sein, dass über die Länderinvestitionen, die Investitionen der Länder, solche Situationen nicht entstehen in den Krankenhäusern. Das ist in unserem föderalen System einfach eine Aufteilung. Und diese Argumentation, dass privat Versicherte das Gesundheitssystem zu hohem Grade finanzieren würden, ist wirklich widerlegbar. Wir wollen Daseinsvorsorge und das ist der wesentliche Punkt.
Ein gerechter Versicherungsbeitrag
Zagatta: Dann ist auch widerlegbar, dass die gesetzlichen Krankenkassen unter Umständen, wenn diese Einnahmen aus der Privaten wegfallen und diese Ausgleichszahlungen, die es da in der Praxis ja offenbar gibt, sagen viele, dann ist auch wieder belegbar aus Ihrer Sicht, die gesetzliche Krankenversicherung würde dann nicht deutlich teurer werden?
Mattheis: Deswegen auch dieser Mix: Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, andere Einkommensarten. Es ist ja völlig daneben, dass jemand, der – ich sage jetzt mal überspitzt – 100 Wohnungen vermietet, aus diesen Mieteinnahmen keine Krankenversicherungsbeiträge bezahlt, aber mit seinem kleinen Job von 1.000 Euro pro Monat, da leistet er in die gesetzliche Krankenversicherung seinen Beitrag, erfährt die komplette Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung, hat aber ein ganz wesentlich höheres Budget zur Verfügung monatlich durch seine Mieteinnahmen. Also diese Situation, die ja belegt, wie schief unser System ist, wer im Prinzip belastet wird und wer im Prinzip die Solidarität genießt, ohne dass er da seinen Beitrag bezahlt, das wollen wir umdrehen.
"Frau Merkel ist in der Pflicht, jetzt eine Regierung zu bilden"
Zagatta: Letzte Frage dann: Kann man so etwas – das steht ja im Raum – mit einer Tolerierung einer Unionsminderheitsregierung durchsetzen? Oder anders gefragt: Ist es vorstellbar, dass die SPD sagt, wir dulden euch, liebe Union, an der Regierung, wenn ihr – die Union – dafür eine Bürgerversicherung einführt? Das wäre doch hanebüchen, so was geht doch nur in einer Koalition! Oder sehe ich das falsch?
Mattheis: Diese Minderheitenregierungssituationen sind jetzt auszuloten. Es gibt ja alle möglichen Varianten und ich finde, dass man jetzt der Frau Merkel den Ball wieder zuschießen sollte. Also Frau Merkel ist in der Pflicht, jetzt eine Regierung zu bilden, und ich glaube nicht, dass wir ohne Not selber, sage ich mal, diesen Ball aufnehmen sollten, sondern die Regierungsbildung hat Frau Merkel und das ist ihre Aufgabe. Offensichtlich schafft sie es ja nicht. Und ich finde, sie muss jetzt alle Möglichkeiten ausloten, wir wollen nach wie vor unser Thema Bürgerversicherung, und in welchen Konstellationen, da haben wir auch die Grünen an unserer Seite, da haben wir auch die Links-Partei an unserer Leite.
Zagatta: Aber keine Mehrheit.
Mattheis: … und womöglich mit großer Einsicht auch etliche Leute der CDU/CSU. Denn auch zu diesen Kollegen kommen ja auch viele Leute in die Sprechstunde und sagen: Ich kann meinen Beitrag in die private Versicherung nicht mehr bezahlen, ich bin da in Beitragsrückständen, was soll ich tun? All diese Probleme sehen ja auch die CDU/CSU-Leute.
Zagatta: Oft angekündigt, bisher noch nicht durchgesetzt – die Bürgerversicherung. Frau Mattheis, das bleibt spannend! Wir sind gespannt, was dabei herauskommt!
Mattheis: Es bleibt spannend, ja!
Zagatta: Und ich bedanke mich bei Hilde Mattheis, der SPD-Politikerin, für dieses Gespräch heute Morgen. Schönen Tag Ihnen!
Mattheis: Ihnen auch, vielen Dank!
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